Franz

[230] Nach der Rückkehr meiner Eltern aus dem Bade war die Mutter mit einer Dame bekannt geworden, welche sich mittlerweile auf dem eine Viertelstunde weiter aufwärts gelegenen Schmidtschen Weinberge – demselben, den wir früher innegehabt – eingemietet hatte, um für einige Monate Landluft zu genießen und Eselsmilch zu trinken. Krank[230] und trostbedürftig, wie sie war, lebte sie hier in ziemlicher Verlassenheit, da sie ohne alle Bekannte in den Bergen war und von den Ihrigen nur ein kleines Töchterchen im Alter meiner Schwester bei sich hatte, während ihre beiden Söhne durch die Schule, und ihr Mann, ein Dresdener Beamter, durch seine Geschäfte an die Stadt gebunden blieben. Inzwischen war doch Fräulein Lore, die Freundin aller Hilfsbedürftigen, wahrscheinlich auf Sanitätswegen mit ihr bekannt geworden, hatte sie sehr krank gefunden und meine Mutter für sie interessiert, welche sie ihrerseits nun auch aufsuchte, um ihre Dienste und jede Hilfe anzubieten, deren sie etwa bedürftig sein möchte. Die Mutter ward mit solcher Freude aufgenommen, daß sie ihre Besuche von jetzt an täglich wiederholte, das ganz vereinsamte Töchterchen aber, namens Marie, auf den besonderen Wunsch der Kranken soviel als möglich in unser Haus zog.

Mariechen Kriegel war sehr niedlich. Sie sah aus wie Milch und Blut, hatte wundervolle kornblumblaue Augen, dunkles Haar und ein gar fröhliches Gemüt. Als sie das erstemal bei uns war, führten meine Schwester und ich sie ins Bohnenlabyrinth, wo ich den Mädchen die Schrepferschen Geschichten zum besten gab. Sie waren sehr erbaut davon, und meine Schwester, die kein geringeres Vertrauen in mich setzen mochte als jener Herzog in den Teufelsbraten Schrepfer, verlangte, ich solle auch einen Geist erscheinen lassen. Ich versprach's auf Mariens nächsten Besuch und empfahl den Mädchen mittlerweile strenges Fasten, was sie aber nicht genehmigten; ich sollte es umsonst tun.

Um einen Geist erscheinen zu lassen, muß man vor allen Dingen erst einen haben, und so war es denn auch meine erste Sorge, mir einen zu verschaffen. Sehr wohl entsann ich mich, wie die Mutter einmal Puppenbälge aus Lappen fabriziert hatte. Dergleichen, dachte ich, könne keine Hexerei sein, suchte mir einige Lumpen zusammen und wickelte, knetete und nähte daraus ein fingerlanges Männlein, dem ich ein lächerliches Gesicht anmalte.

Als nun die Beschwörung beginnen sollte, zog ich einen Kreis in den Sand, deklinierte mensa mit halblauter Stimme ganz durch, und dann überlaut schreiend – »Erscheine, Franz!« schleuderte ich mir das Püppchen von hinterrücks über den Kopf, daß es hoch in die Höhe wirbelte und zwischen den Mädchen niederfiel. Diese warfen sich sogleich darüber her, prüften es genau und lachten über die Mißgestalt und über das Gesicht, und daß der Geist ganz nackt sei. Sie wollten ihm ein Röckchen machen; ich aber meinte, er sei viel vollständiger bekleidet als wir, die wir die Leinwand nur auswendig hätten, während er durch und durch daraus bestehe. Das Spiel wurde häufig wiederholt. Franz[231] konnte prächtig erscheinen und lernte es immer besser. Er flatterte wie ein Vogel durch die Lüfte, immer höher und weiter, endlich so weit, daß wir ihn nicht wiederfinden konnten.

Wir hatten das häßliche Alräunchen schon vergessen, als eines Abends der sonnengebräunte Winzer zu unserem Spiele trat und fragte, ob denn die kleinen Fräuleins nichts verloren hätten; er hätte beim Hacken was gefunden. Damit langte er den Franz hervor.

Das Gespenstchen wurde mit Lachen und Geschrei begrüßt. Ob es wohl noch fliegen könne? Ich warf es hoch in die Luft. O ja! es ging noch gut. Nur beim Niederwirbeln hatte es das Unglück, in den Brunnen zu fallen. Das war insofern merkwürdig, als nur eins der Bretter, die das Wasserreservoir der Plumpe deck ten, schadhaft war und Franz gerade durch den Schaden durchflog. Wenn er das gewußt hätte, sagte der Winzer schmollend, so hätte er sich's lieber für seine Kinder ausgebeten, es sei ja schade darum. Wir aber machten weiter keinen Lärm von der Geschichte, damit der Vater sich nicht vor dem Wasser ekeln sollte.

Nun hatten wir damals ein geistreiches Dienstmädchen, die, weil sie mitunter an etwas anderes dachte als an das, was sie gerade machte, bisweilen Dinge machte, an die niemand gedacht hätte. »Was ist denn das?« sagte meine Mutter nicht ohne Entsetzen, als sie eines Tages beim Aufgeben der Suppe die Selleriewurzel für den Vater ausfischte. Dieser fuhr mit der Gabel danach – »Ein Homunkulus!« rief er; ich aber erkannte augenblicklich meinen Franz.

Vielleicht, daß die Köchin, indem sie den Eimer unter der Plumpe hatte, an den Sellerie dachte, beim Ansetzen der Suppe aber an die Plumpe. Als sie endlich die Wurzel zutun wollte, fand sie, daß dieselbe schon drin war, und beruhigte sich. Es war, als wenn der Geist, seitdem er einmal heraufbeschworen, nicht wieder zu bannen und zum Plagegeist der Familie geworden sei.

Jetzt wurde die Köchin hereinbeschworen und durch Vorzeigen des schauderhaften Wurzelwerks vernichtet; doch lachte mein Vater des Fischzuges und ging zum Braten über. Franz aber wurde gedörrt und wie ein Zauberer an freier Luft verbrannt.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 230-232.
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