[235] Der Verlust, den die arme kleine Marie erlitten, war eine Bereicherung für unser Haus. Nach einem letzten Wunsche ihrer sterbenden Mutter ward dies fremde Blümchen gänzlich in unseren Familiengarten eingepflanzt und fühlte die Versetzung kaum, da der neue Standort ihr schon vordem heimisch war. Sie fand nach Kinderweise ihre Heiterkeit bald wieder und schloß sich zutraulich an meine Mutter, an meine Schwester und an uns alle an. So zog sie denn auch im Herbst mit uns nach Dresden, wo sich unser aller Leben neu gestaltete. Der Vater ging wieder nach Berlin, ich in die Schule, und auch die beiden Mädchen verlangten jetzt stärkere Kost als Puppenspiel. Ein geordneter Unterricht für sie schien an der Zeit, und meine Mutter, die sie nicht zur Schule schicken wollte, sah sich nach einer Lehrerin um.
Nun war sie schon vor Jahren mit einer jungen Dame bekannt geworden, die mit ihrer Mutter, einer verwitweten Pastorin Thierhoff aus Hamburg, sehr zurückgezogen lebte. Sie hieß Marianne, war zwar kränklich,[235] doch von frischem Geist und Wesen, wohlwollend, gottesfürchtig, sehr kenntnisreich und jedes Vertrauens wert. Jetzt hatte sie ihre Mutter verloren, war durch nichts gebunden und ließ sich für die Erziehung der beiden Mädchen gern gewinnen. Im vierten Stock des »Gottessegens« wurden einige Zimmer zugemietet, wo fortan Elevinnen und Gouvernante miteinander hausten und sausten.
Noch ein viertes Persönchen nahm dieser Mädchenzwinger für ein paar Jahre auf, eine kleine Verwandte Mariannens, von welcher ich vergessen habe, ob sie deren oder meiner Mutter Pflegekind war. Ich weiß überhaupt nichts mehr von ihr, als daß sie Dasein hatte, das Gedränge im Hause vermehrte und sich ihrerseits nicht unbehaglich zu fühlen schien. Desto lebendiger aber schwebt mir Mariens Bild und Wesen vor. Sie war nicht gerade reich begabt, doch aber ganz gescheit, ein gutes, anspruchsloses Mädchen, bequem, gefällig und, wie gesagt, sehr niedlich. Mit kindlicher und schwesterlicher Treue teilte sie Freud und Leid und hing vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an uns allen – wie auch wir an ihr – mit einer Liebe, die nur mit ihrem Leben endete. Sie war wie unsere rechte Schwester – so vertrauten wir ihr, so liebten und so hudelten wir sie, und könnte sie heute wieder zu uns treten, würden wir sie so begrüßen. Mit jedem Jahre ward sie hübscher, daß ich sie oft mit Bewunderung ansah; doch mochte unser offenes geschwisterliches Verhältnis einer romantischeren Neigung nicht günstig sein. Wir blieben wie von Anfang an immer unbefangen und schlecht und recht miteinander, und erst später, wenn ich der längst Verstorbenen gedachte, wie sie war, ward mir dies rätselhaft.
Marie mochte etwa acht Jahre bei uns gewesen sein, als sich endlich unser alter Plan realisierte und wir nach Rußland zogen. Dahin konnte sie uns nicht folgen: sie ging zurück in ihres Vaters Haus, und weiter kann ich ihrer ohne Wehmut nicht gedenken. Ihr ferneres Leben gestaltete sich ernst und traurig. Zwar blieb sie immer gut und gottergeben, doch traf sie bitterer Herzenskummer, dessen mannigfache Gründe anzuführen ich unterlassen muß. Ich will nur sagen, daß sie bald hintereinander ihre beiden Brüder verlor und dann auch ihren Vater. Die Verlassene reichte ihre Hand einem Landprediger im Erzgebirge, der ihre Erwartung vielfach täuschen mochte, und starb als blutjunge Frau im ersten Wochenbett. Nach Aussage des Arztes, der sie behandelte, soll sie in ihrer Sterbestunde ausgesehen haben, so wie man sich die Heilige denkt, deren Namen sie trug.[236]
Damals freilich, als die kleine fröhliche, fast wilde Marie dort oben im Mädchenzwinger mit meiner Schwester unter Puppen und Schulbüchern ihr Wesen hatte, dachte niemand an so Trauriges, denn die blühendste Gesundheit strahlte ihr aus Aug' und Wangen, und ihr glückliches Temperament wie auch – was immerhin in diesem Leben mitspricht – der Reichtum ihres Vaters schienen die beste Zukunft zu verbürgen. Weit mehr mochte man sich um Marianne sorgen, die sehr schwächlich und gebrechlich war. Sie sah blaß und elend aus, und ihr abgezehrter kleiner Körper war fast unablässig von irgendeinem Schmerz gefoltert. Dennoch konnte man kein heitereres, frischeres und tatkräftigeres Wesen sehen. Mit gänzlicher Nichtachtung ihrer mannigfaltigen Beschwerden war sie doch immer auf dem Zeuge, besorgte ihren Unterricht mit Treue, nahm meiner Mutter, wo sie konnte, jede wirtschaftliche Mühe ab, leistete ihr Gesellschaft, wenn sie krank war, und war unermüdlich, bis sie denn plötzlich durch irgendein zu lange unterdrücktes Übel doppelt heftig niedergeworfen wurde. Dergleichen Anfälle ließen meist den Tod befürchten, aber immer genas die Kranke wieder, und immer kränklich, immer leidend, lebt sie noch heute, da ich dieses schreibe, während die kerngesunde Marie schon über dreißig Jahre in ihrem Grabe liegt.
Unter den schweren Krankenlagern Mariannens bot eines sehr merkwürdige Momente dar. Ohne daß im entferntesten an magnetische Behandlung gedacht war – eine Kurart, die meiner Mutter, eben wie auch unserem Arzt, ein Greuel war –, verfiel die Kranke bisweilen ganz von selbst in einen Zustand, der alle Symptome des magnetischen Schlafes zeigte. Dann erging sie sich als Improvisatrice in dichterischen Ergüssen, eine Gabe, die ihrer nüchternen Natur sonst fremd war, oder sie nahm weit entfernte Dinge und Ereignisse wahr, als wären sie im Zimmer. Freunde, die sie besuchten, sah sie von weitem kommen, markierte alle Stationen, die sie passierten, den Altmarkt, die Brücke, die Allee. Jetzt träte der Kommende ins Haus, sagte sie, jetzt sei er auf der Treppe, nun vor der Tür und schneuze sich – und siehe da! – da zog die Klingel an.
Der interessanteste Fall mochte der folgende sein. Marianne erblickte ein jenseits der Elbe wohnendes Ehepaar in anscheinend großer Trauer. Die Frau hatte das Gesicht ins Sofakissen gedrückt, während ihr Mann mit einem offenen Briefe bei ihr stand. Das Zimmer aber, in welchem sich beide befanden, schien der Kranken unbekannt. Da sie sich nun mit der Frage quälte, was dort vorgefallen, so eilte mein Vater nach der Altstadt, um jene Personen aufzusuchen. Es waren dies ein Konsistorialrat Nauwerk und seine Frau, eine Tochter des bekannten Leipziger[237] Professors Platner. Beide fand mein Vater in Tränen, da sie soeben die Nachricht von Platners Tode erhalten hatten. Das Zimmer aber war neu tapeziert und die Möbel umgestellt.
Wohl weiß ich, daß man dergleichen Geschichten gern ins Fabelbuch verweist; auch kann ich nicht als Augenzeuge reden, da ich damals nicht in Dresden war; dennoch aber glaube ich, auf die Autorität des Arztes und meiner Eltern hin, die obige Begebenheit hier als wohlverbürgte Wahrheit geben zu dürfen.
Marianne genas auf den Gebrauch von Mitteln, die sie sich in ihrem hellsehenden Zustande selbst verordnete, und blieb in unserer Familie, solange wir in Dresden lebten. Dann hauste sie eine Zeitlang mit Marien, bis beide sich bald nacheinander verheirateten. Von da an trafen auch ihr Herz sehr harte Schläge und übergenug des Jammers; doch blieb sie ungebeugt und tatkräftig wie vordem. Auch als ihr Mann starb und sie mittellos mit kleinen Kindern zurückließ, fand ihre Energie noch Wege. Trotz ihrer vorgerückten Jahre und körperlichen Hinfälligkeit begab sie sich von neuem an die Arbeit und legte eine Mädchenschule an, deren Frequenz sie in den Stand setzte, ihre Kinder zu erziehen.
Der älteste ihrer Söhne begründete sich in der Folge einen eigenen Hausstand zu Richmond in Australien, Mutter und Schwester nach sich ziehend, welche letztere sich dort verheiratete. Aus jenem fernsten Weltteile schrieb Marianne noch im Jahre 1861 als hochbetagte Frau, daß es ihr wohl gehe mit den Ihrigen. Möge Gott ihr alle Treue lohnen, die sie an unserem Hause getan hat!
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