Täuschungen

[275] Mein Vater wurde durch gehäufte Arbeit in Berlin so festgehalten, daß er für seine Person von der Ballenstedter Reise abstehen mußte; er hatte jedoch die Mutter autorisiert, sich mit uns Übrigen allein auf den Weg zu machen und wegen des Gymnasiums eine Wahl für mich zu treffen. Ich war daher von Lausa mit der angenehmen Erwartung heimgekehrt, sofort eine schöne Frühjahrsreise anzutreten, und sehr unangenehm überrascht, statt dessen als Patient ins Bett wandern zu müssen. In Dresden grassierte das Scharlachfieber, und da sämtliche Hausgenossen meine Stimme verändert, rauh und übeltönend fanden, ich auch nicht leugnen konnte, daß mir der Kopf ein wenig eingenommen sei, so schien die Vorsicht meiner Mutter nicht ganz grundlos. Der Arzt war leider über Land, aber was er anordnen würde, glaubte man zu wissen, nämlich Bettwärme und Fliedertee. Beides ward auf der Stelle angewandt, ich schwitzte wie ein Braten, und gegen Abend war nicht allein der Puls beschleunigt, sondern es schien auch, als röte sich die Haut. Ich fühlte mich sehr unbehaglich, und mit Teilnahme wünschten mir die Mädchen gute Nacht, während die besorgte Mutter sich im anstoßenden Alkoven zur Ruhe legte.

Ich kann nicht leugnen, daß ich wie ein Sack schlief. Als mich am anderen Morgen die Sperlinge mit ihrem Morgenliede wachschrien, war ich vorerst ganz angenehm überrascht, mich nicht in Rollers Kammer, sondern in einer Umgebung zu finden, an der die süßesten Erinnerungen meines Lebens hafteten, im Wohnzimmer der Mutter. Dann fiel mir ein, daß ich das Scharlachfieber habe. Ich besah Brust und Arme; aber da war keine Spur von Ausschlag. Ich fühlte mich so gesund wie die Spatzen in den Linden, sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster, die frische Luft in vollen Zügen einzuatmen. Ein glänzender Morgen! Drüben aus dem Schönbergschen Hause stieg der von der Sonne durchleuchtete Rauch wie eine Lichtgestalt auf, Marktleute zogen durch die Straßen,[275] und über die Elbe her riefen die katholischen Glocken zur Frühmesse. Es war herrlich. Ich gedachte des Wiedersehens mit meinem Bruder, dem nun nichts mehr im Wege stand, und fühlte mich sehr selig.

Mittlerweile war auch die Mutter aufgestanden und ins Zimmer getreten. Als sie den Patienten fast unbekleidet am offenen Fenster sah, mochte sie glauben, das Delirium sei schon in voller Blüte, und rief mich erschrocken beim Namen. Ich wandte mich um; ich wollte sagen, daß ich wieder ganz gesund sei – aber da ich zu sprechen begann, befremdete es mich selber, wie Bässe, Gurgellaute und Diskante durcheinanderpfiffen. Ich war in der Tat sehr heiser und wurde ohne Kommiseration wieder ins Bett gesteckt. Jedenfalls sollte ich liegen bleiben, bis der Doktor entschieden haben würde. Der kam auch endlich, besah und examinierte mich genau. Dann sagte er schmunzelnd, ich sei nicht kränker als ein junges Hähnchen, das zu krähen beginne; die Stimme bräche sich, und das sei alles.

So war ich denn nun offiziell für gesund erklärt, und der Reise stand nichts mehr im Wege. Der unbequeme Wagen des Lohnkutschers Hempel war hoch ausgepackt worden, die Mutter, Marianne, Marie, meine Schwester und ein Dienstmädchen nahmen Platz im inneren, und ich schwang mich zum Kutscher auf den Bock mit meiner Pfeife.

»Rauchst du denn?« fragte meine Mutter. »Nur mäßig!« rief ich zurück, »ich habe es vom Pastor Roller gelernt.«

Da mußte ich wieder absteigen und die Pfeife dem Hausmann in Verwahrung geben. Es sei dasjenige von dem bei Roller Erlernten, sagte die Mutter, was ich vergessen müsse, bis der Vater darüber entschieden haben würde.

Am dritten Tage gegen Abend langten wir in Merseburg an. Als der Reisepaß am Tore vorgezeigt worden, bemerkte der wachthabende Unteroffizier, er habe Befehl, eine Dame dieses Namens anzuhalten und mit ihrer Begleitung aufs Schloß zu führen.

Meine Mutter protestierte und berief sich auf den Regierungspräsidenten v. Schönberg, der sie kenne und für sie bürgen werde. Aber jener ließ sich auf Erklärungen nicht ein; er täte nur seine Schuldigkeit, sagte er, und bäte, ihm das nicht übelzunehmen. Ich ward nun zu den übrigen in den Wagen verpackt, ein Kriegsknecht nahm an meiner Stelle Platz auf dem Bocke, und so karrten wir langsam als Gefangene durch die Straßen. Meine liebe Mutter war sehr verwundert, sich in dieser Lage zu sehen, und Marianne seufzte über die Rücksichtslosigkeit in Preußen, während es uns Kindern ganz gelegen kam, zur Abwechslung einmal etwas Kerkerluft zu riechen, zumal der mächtige Herr v. Schönberg uns ja bald befreien mußte.[276]

Endlich rasselten wir in den weiten Schloßhof ein und hielten am Portale; ein Diener riß den Schlag auf, und lachend über seinen gelungenen Anschlag trat uns Herr v. Schönberg entgegen, der, was wir nicht ahnten, seine Amtswohnung hier hatte. Er entschuldigte die Gewalttat, welche er sich gegen uns erlaubt, damit, daß ihm in der Eile ein anderes Mittel, sein Haus eines erwünschten Besuches zu versichern, nicht eingefallen sei, und führte uns hinauf zu seiner Gemahlin. Diese war eine Schwester der Gräfin Dohna, durch welche sie erst tags zuvor von der Reise meiner Mutter unterrichtet worden, und wie denn der hervorragendste Zug ihres Charakters eine ungemeine Herzensgüte war, so mochte sie den Wunsch haben, den Reisenden bei dieser Gelegenheit so viel Gutes zu erweisen, als in ihren Kräften stand. Meine Mutter hatte diese treffliche Frau in Hermsdorf kennengelernt, war auch in Dresden, wo Herr von Schönberg während des preußischen Guberniums eine einflußreiche Stellung innehatte, in einiger, die Armenpflege betreffender Geschäftsberührung mit ihr gewesen und liebte sie so sehr, daß sie ihr keinesfalls vorbeigereist wäre. Ein Besuch im Schönbergschen Hause lag allerdings im Reiseplan, und wenn auch nicht im allerentferntesten daran gedacht worden, dort zu herbergen, so erlagen wir doch jetzt recht gerne der Gewalt. Es ward beschlossen, einen Tag in Merseburg zu rasten.

Schönbergs hatten ein einziges Töchterchen, namens Auguste, ein feines kleines Mädchen mit klugen Augen und langen blonden Locken. Diese nahm sogleich meine Schwester und Marien in Beschlag, während die Großen sich zurückzogen und ich mir selbst überlassen blieb. Verlegen klemmte ich mich in einer Fensternische umher, den Blick bald auswärts auf die Gegend, bald einwärts auf die Mädchen werfend, bis ich daselbst ein derbes altes Buch entdeckte, eine Chronik von Merseburg, und bald war ich in diese Lektüre so vertieft, daß ich nichts mehr von Verlassenheit wußte. Es waren wunderliche Geschichten, für deren Wahrheit ich nicht einstehen möchte, dazumal aber glaubte ich alles, weil das Buch so ernst und fromm war. Unter anderem stand da schwarz auf weiß mit Angabe aller Namen und Data die folgende Begebenheit verzeichnet:

»In der heiligen Osterzeit, des Morgens früh, da es noch dunkelt, wabert[277] der alte Küster des Domstiftes mit seinem Laternchen über den Schloßhof, um zur Frühmette zu läuten. Da! beim Eingang in die Kirche, huscht etwas an ihm vorüber; er blickt auf und sieht sich umgeben von schattenartigen Gestalten, unter denen er mehrere erst jüngst begrabene Personen erkennt. Entsetzt läßt er sein Laternchen fallen und entwischt zurück ins Kämmerlein. Beim Anbruch des Tages aber wird er zum Bischof entboten, der ihn hart anläßt, seiner Erzählung keinen Glauben beimißt und ihn mit schwerer Strafe bedroht, wenn er je das Läuten wieder verträumen sollte.

In der zweiten Nacht geht der beängstete Küster denselben Weg, sieht weder rechts noch links, obgleich ihm manches verdächtig ist, und tritt, an allen Gliedern zitternd, in den Dom. Hier blickt er auf und findet das Schiff der Kirche angefüllt von einer gespenstischen Gemeinde; auf der Kanzel aber steht im weißen Predigerhemdchen ein schlotterndes Gerippe, das dem Eindringlinge seine dünnen Knochenbände entgegenschwenkt.

Die Domherren hören abermals kein Läuten, und der ergrimmte Bischof läßt beim Anbruche der dritten Nacht den Geisterseher samt seinem Bette in die Sakristei sperren, damit er's ja nicht wieder verschliefe; und sollte es auch zum drittenmal nicht läuten, so würde er's mit seinem Kopfe büßen, wird ihm versichert. Aber es hat dennoch nicht geläutet, und der Küster war verschwunden. Keine Spur war von ihm übrig, nur vor dem Hochaltare fand sich ein Häufchen Asche.«

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 275-278.
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