Gegensätze

[365] Bei der sehr ernsten und entschieden christlichen Richtung meiner Mutter konnte es auffällig erscheinen, daß sie ordentlicherweise nie zur Kirche ging und auch uns nicht dazu anhielt. Der Grund mochte ein mehrfacher sein, denn teils war meine Mutter von Jugend auf an kirchliche Bedürfnisse nicht gewöhnt, da der Landadel ihrer Heimat die öffentlichen Gottesdienste wegen der weiten Entfernungen nur sehr ausnahmsweise zu besuchen pflegte, anderenteils war sie später durch ihre leidende Gesundheit sehr behindert, und endlich büßte sie in der Tat nicht viel dabei ein, da die Kirche zu jener Zeit nur wenig oder nichts zu bieten hatte. Fast ausschließlich in der Pflege des Unglaubens, wurde sie eigentlich nur von Leuten besucht, denen das biblische Christentum schon zur Fabel geworden war, oder von solchen, die in kindlicher Unbefangenheit Bekenntnis von Bekenntnis nicht zu unterscheiden wußten. Die aus der Kirche herausgeärgerten, sich ihres Glaubens bewußten Gemeindeglieder lebten dagegen meist als Separatisten oder kamen in von Laien geleiteten Privatversammlungen zusammen, an denen meine Mutter, auch wenn sie gesund gewesen wäre, keinen Anteil genommen hätte, weil sie eine eigentümliche Scheu vor pietistischen Einflüssen, vor Schwärmereien, wie vor jeder Art von Schaustellung ihres Glaubenslebens hatte. Ihr Christentum hing überhaupt an keinerlei Art von Formen und Äußerlichkeiten, und sie mochte daher den öffentlichen Gottesdienst auch kaum vermissen. Nur ein oder ein paarmal im Jahre fuhr sie seit meiner Konfirmation mit mir nach Lausa, wo wir vom Pastor Roller das heilige Abendmahl empfingen. Das war eigentlich der ganze Zusammenhang, in dem meine Mutter mit der Kirche stand.

Anders der Vater. Indem sein Herz sich nach und nach wieder für den geoffenbarten Glauben erwärmte, trug ihn zugleich die süßeste Erinnerung zurück zu den Tagen seiner Kindheit, da er noch als kleiner Knabe an der Hand seiner Mutter zur Messe ging und in den Segnungen der Kirche so manchen sittlichen Antrieb, Trost und Erhebung gefunden hatte. Da war es denn natürlich, daß ihn bei wiedererwachendem geistlichem Bedürfnis eine Art von Heimweh trieb, von neuem und an derselben[365] Stelle, wo er sie früher gefunden, himmlische Güter auch jetzt wieder zu suchen und zu erflehen. So begann er denn den lange versäumten Gottesdienst, die Messe, wieder zu besuchen, versuchsweise anfangs, dann immer fleißiger und in den letzten Jahren sogar jeden Morgen. Auch hatte ihn das Bedürfnis seines Herzens in der Person eines würdigen und geachteten katholischen Geistlichen, des Pater Mende, einen geistlichen Berater finden lassen, dessen Leitung er sich gern vertraute, und damit war er denn der katholischen Kirchengemeinschaft vollständig wieder angeschlossen.

Im Grunde genommen war mein lieber Vater nichts anderes geworden als ein Christ, jedoch in der ihm heimischen Form, deren er sich jetzt mit der hohen Freude eines Menschen freute, der nach langer Trennung die Räume seines väterlichen Hauses wieder betritt und sie alle unverändert findet. Oft hörte man ihn daher rühmen, daß, während sich seit seiner Jugend die ganze Welt zum Nichtwiedererkennen verändert und modernisiert habe und auch der Protestantismus nach Form und Inhalt in solcher Wandlung mit einbegriffen sei, ganz allein nur die katholische Kirche sich selber treugeblieben wäre. Bis in das kleinste Titelchen, nicht nur der Dogmen, der Verfassung und des Kultus, sondern auch bis auf die Kleidung und jegliche Bewegung des Priesters am Altar, habe er – mein Vater – jetzt an der Elbe alles ganz so wiedergefunden, wie er es in seiner Kindheit am Rhein verlassen. So meinte er nicht zweifeln zu dürfen, daß die ewig unveränderliche, hoch über dem Wechsel menschlichen Geschmacks und menschlicher Gedanken thronende geoffenbarte Wahrheit in der katholischen Kirche die einzige ihr angemessene Form gefunden habe.

Es mag immerhin ein Unikum gewesen sein, daß mein Vater, der in der Pflege jener Kirche seines Glaubens verlustig gegangen war, durch evangelische Einflüsse zum Glauben, durch diesen aber zum Katholizismus zurückgeführt wurde und daß er, während er sich nun kirchlich an Rom anklammerte, doch immerdar aus evangelischer Gemeinschaft neue Glaubenskräfte schöpfte. Mit alleiniger Ausnahme seines Beichtigers waren alle Freunde, die auf sein Glaubensleben influierten, Protestanten. Evangelische Schriften von Schubert, Stilling, Lavater, Zinzendorf und anderen, welche die Mutter im Familienkreise vorlas, erbauten ihn fast täglich, und ein Besuch, den er mit seinem Freunde Zezschwitz in Herrnhut abstattete, erwärmte sein Herz für lange Zeit. So mochte es sich erklären, daß er trotz seiner römischen Sympathien eine eigentlich feindselige Stellung zur evangelischen Kirche doch nicht einnahm, die[366] er als doktrinäre Erfindung zwar bestritt, ohne jedoch in Roms verdammendes Urteil über ihre Glieder einzustimmen. Er war sehr einverstanden mit der inneren Glaubensrichtung seiner Frau und seiner Freunde, welche er in der Demut seines Herzens alle über sich stellte, aber es tat ihm leid, daß sie der mannigfachen Anregungen und Hilfen verlustig gehen sollten, welche er für sich in seiner Kirche fand. Das Ziel, das sie vor Augen hätten, pflegte er zu sagen, sei auch das seinige, auf dem Wege dahin aber fänden sie zu wenig Aufmunterung. Sie seien genötigt, ein jeder auf seine eigene Faust nach Zion hin zu pilgern, während er sich von der Kirche getragen, gekräftigt und vor Irrwegen behütet wisse.

Mein Vater faßte den Katholizismus ideell auf, das heißt, weniger wie er ist, als wie er sich ihn dachte oder wünschte, und ebenso schien es auch sein Beichtvater zu machen. Beide waren geneigt, nur das an ihrer Kirche zu bemerken oder wenigstens nur das für katholisch zu erachten, was ihnen gefiel und sie erbaute; das übrige ignorierten oder verschmerzten sie als unvermeidliche Übelstände. Die Mutter dagegen pflegte nach protestantischer Gewohnheit ganz umgekehrt in der katholischen Kirche nur den Aberglauben anzusehen, mit welchem Rom die evangelische Wahrheit untermischt hat. Die Frage nach der Kirche wurde daher in unserem Hause häufig diskutiert, ohne daß jedoch ein Resultat der Vereinigung dadurch gewonnen worden wäre.

Was die Irrtümer und Sünden Roms anlangt, so wies mein Vater auf den Unterschied von Mißbrauch und Gebrauch hin. Die Menschenhand an sich, sagte er, sei nicht zu tadeln, obgleich sie nicht nur segnen, sondern gelegentlich auch einen Mord begehen könne, und ebenso bleibe ein schöner Dom das, was er sei, obschon er zeitweilig durch geschmacklosen An- und Ausbau verunstaltet wäre; auch bräche man nicht ein Haus ab, weil ein paar Schwellen faul geworden oder einzelne Bewohner sich darin betrunken hätten, und endlich sei wenigstens so viel evident, daß die römische Kirche trotz allen eingeschlichenen Mißbrauchs und aller Sünden ihrer Bischöfe und Pfaffen nach fast zweitausend Jahren heute noch aufrechtstehe, während die lutherische nur ein ephemeres Dasein gehabt und bereits Ruine sei. Wohl möge es einst ein Institut gegeben haben, das den evangelischen Anschauungen meiner Mutter und unserer protestantischen Freunde entsprochen hätte, heutzutage aber existiere es nicht mehr. Die gegenwärtige lutherische Kirche widerspräche fast in allen ihren Repräsentanten geistlichen und weltlichen Standes ihren eigenen Bekenntnissen aufs direkteste, und meine Mutter, wie andere gottselige Laien, ständen isoliert da als vereinzelte Bruchteile eines zerfallenen Ganzen, ohne Zusammenhang und kirchliches Bewußtsein.[367]

Es mußte zugestanden werden, daß unsere arme, von gleichgültigen Fürsten und aufgeklärten Konsistorialräten gegängelte Kirche als solche ebenfalls ihre tiefen Schäden habe, dafür aber, wurde behauptet, nähme sie auch keine Unfehlbarkeit für sich in Anspruch und könne sich deshalb wieder korrigieren, während die katholische jeden einmal aufgenommenen Irrtum bis zum Jüngsten Tage mit sich fortzuschleppen hätte. Dieselbe sei freilich ein bewundernswerter Bau, aber damit scheine ihr Ruhm sich auch zu erschöpfen, denn im Grunde genommen sei sie doch nur ein Reich von dieser Welt, durch weltliche Mittel gegründet und erhalten. Die heilige allgemeine Kirche dagegen, die wir gemeinschaftlich mit den Katholiken im dritten Artikel bekennen, sei weder römisch noch wittenbergisch, sondern umfasse die Gesamtheit aller gläubigen Christen aus allen Konfessionen. Als ein sichtbarlich zusammenhängendes Ganzes sei diese Kirche freilich nicht erkennbar, wohl aber sei sie dies in ihren einzelnen, durch gemeinschaftlichen Glauben, Hoffnung und Liebe untereinander verbundenen Gliedern, in welchen sie zu allen Zeiten gekreuzigt und verfolgt werde, ein Geschäft, an dem sich Rom par excellence beteilige. In jene vom Herrn selbst regierte, heilige Gemeinschaft einzutreten und in ihr zu verbleiben, sei uns Protestanten aber leichter als den Katholiken, weil das Wort Gottes in Heiliger Schrift uns nicht entzogen und wir weniger beirrt seien durch priesterliche Einflüsse und Interessen, die mehr das Gedeihen des Tempels im Auge hätten, als das der darin opfernden Seele.

So ähnlich, nur besser und ausführlicher, ward hin und her geredet, oft lebhaft gestritten, ohne jedoch das Bewußtsein und die gegenseitige Anerkennung der Gliedschaft jenes Gottesreiches zu verleugnen, in welches man nicht durchs Fleisch, sondern durch den Geist geboren wird. Wer namentlich die beiden Eheleute in bewegten Augenblicken beieinander sah und Zeuge war, wie sie Trost und Kraft aus einer und derselben Quelle schöpften, dem hätte es nicht einfallen mögen, daß sie verschiedenen, sich gegenseitig verdammenden Kirchen angehörten.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 365-368.
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