Meißen 1828–1835
(Geschrieben in Loschwitz, Mai 1878)

[290] Fünf Stunden von Dresden liegt in dem fruchtbaren Elbtale das alte, malerische Meißen. Zur linken Seite des Flusses zieht sich ein steil abfallender, grün umbuschter Höhenzug bis zur Stadt Meißen, auf dessen Höhen, anderthalb Stunden vorher, die sehr alte Burg Scharfenberg, näher das freundliche Schloß Siebeneichen thronen; zur Rechten aber ist die Elbe von den weinreichen Spaarbergen eingerahmt. Wenn man nun damals auf der Poststraße um eine Ecke des Spaargebirges bog, wurde man gar anmutig von dem Anblick Meißens überrascht, welches in halbstündiger Entfernung sich höchst malerisch erhob. Die Albrechtsburg mit dem herrlichen Dom, der Bischofsturm an der Ecke des Berges, der St. Afraberg mit der Klosterkirche und der Fürstenschule senken sich zur Stadt und in das Triebischtal hinab, und das ganze schöne Bild spiegelt sich samt der Brücke in der Elbe. Die moderne Kultur hat allerdings manche grelle, häßlich störende Dissonanzen in dies harmonische Gebilde hineingetragen, welche für das Künstlerauge eine Wirkung hervorbringen, wie der gellende Ton einer Dampfpfeife zu einem Mozartschen Hymnus.

Mein Weg nach der Zeichenschule war ein Kunstgenuß von Anfang bis zum Ende. Von der alten Afrakirche durch das Tor des Burglehnhauses nach der Schloßbrücke, welche den Afraberg mit dem Schloßberg verband und vom Kaiser Heinrich I., dem Städtegründer, erbaut sein soll, war der Weg schon reich an höchst malerischen Einzelheiten und die Aussicht von derselben in das[290] Meißetal, und andererseits über die unten liegende Stadt, die Elbe, die Spaarberge, und in weiterer Ferne das ganze reiche Elbtal bis über Dresden und die Berge des Hochlandes und Böhmens war überaus schön, und man verweilte immer gern zwischen den hohen Brustwehren dieses Überganges, wo zur Linken im Vorgrund die Kapitelgebäude und der Bischofsturm das Bild abschlossen.

Jetzt kam man zu dem zweiten alten Tore und trat auf den Domplatz mit der im reinsten gotischen Stil ausgeführten Kirche und der Albrechtsburg, letztere eine der wenigen noch erhaltenen gotischen Palastbauten. Der kunstreiche Turm mit der Wendeltreppe, ein Meisterwerk altdeutscher Kunst, führte mich im zweiten Stockwerk in die herrlichen Räume der Kunstschule, deren jugendliche Insassen sich wie ein Sperlingsnest am Hochaltar ausnahmen. An den mächtig großen Fenstern standen für den alten Schaufuß und für mich zwei Arbeitstische; denn nach der Korrektur konnten wir daselbst arbeiten und uns zwischendurch wohl auch an der schönen Aussicht auf die in der Tiefe liegende Elbe und den Proschwitzer Felsen, samt der alten Kirche von Zscheile ergötzen, bei welcher manche Bennosagen ins Gedächtnis kamen.

In einem zweiten ebensogroßen Saale mit einem kunstvollen Spitzbogengewölbe hatten Scheinert und einige der vorzüglichsten Porzellanmaler der Fabrik ihre Plätze am Fenster, und alle bisherigen Lehrer an der Zeichenschule waren zugleich künstlerisch für die Fabrik beschäftigt.

Scheinert war ein gemütlicher und höchst gefälliger Kollege und ein ganz vorzüglicher Glasmaler und viele Kirchen Sachsens haben Arbeiten von ihm aufzuweisen, die entweder nach den Kartons neuerer Künstler oder nach A. Dürer und sonstigen Meistern der altdeutschen Schule kopiert wurden.

Er wohnte in einem Bauernhause in Niederfähre, arbeitete oft, wenn die Arbeit drängte, ohne Unterbrechung vom frühen Morgen bis lange nach Mitternacht. Ja er ließ seine Frau zu solcher Zeit kein Mittagessen bereiten, damit sie ihm ungehindert vorlesen könnte, und dann begnügte er sich mit Kaffee und Kuchen. Sie war eine heitere und sehr hübsche junge Frau, die sich aber bald die Schwindsucht an den Hals gelesen hatte und starb. Auch seine zweite Frau, eine sanfte,[291] zarte Natur, starb nach Jahresfrist an derselben Krankheit, bis endlich die dritte, eine stattliche Erscheinung, gesund, verständig und dabei liebenswürdig in ihrem Benehmen, das Regiment im Hause führte, dem zerfahrenen Wesen ein Ende machte und eine behagliche, wohlgeordnete Häuslichkeit herstellte. Diese Frau war so begabt, daß sie später ihrem Manne bei seinen Glasmalereien half, zuletzt sogar ganz hübsche Glasbilder nach den Boisseréeschen Bildern malte, da sie doch früher keinen Zeichenunterricht gehabt hatte.

Mit Schaufuß, damals schon hoch betagt, hatte ich keinen näheren Verkehr. Er kopierte unzähligemal die Sixtinische Madonna und noch öfter die beiden Engelskinder zu Füßen derselben. In Sepia getuscht, auf Porzellan gemalt, war es ihm ein stehender – oder vielmehr stets abgehender Artikel, und er bemerkte beim Kopieren mit Selbstgefühl und in Anerkennung des Fortschrittes unserer Zeit, »wie Raffael auch Fehler gemacht habe«, die er natürlich verbesserte.

Er war in seinem Leben nie weiter, als ein paarmal nach Dresden gekommen, und sein Erdenwandel glich der langsamen Bewegung eines Perpendikels; denn täglich kam und ging er von Hause auf den Afraberg zum Schloß und vom Schloß nach Hause, und nachmittags gab es dasselbe Manöver. Wenn er seine gedruckten Gehaltsquittungen zu unterschreiben hatte, zog er mit großer Aufmerksamkeit zwei Linien für die großen und kleinen Buchstaben seines Namens, und mußte sich überhaupt zu diesem wichtigen Akt, wie er es nannte: »präparieren«. Ich stand einst bei solchem Unterschreiben an seinem Tisch, was ihn aber zu stören schien, denn er schrieb Gottlob Schaf – und als er ein zweites Formular nahm: Gottlob Saufuß, worauf er sehr ärgerlich mir sagte: er könne nicht schreiben, wenn jemand dabeistehe. Ich ging also beiseite, und so gelang das dritte Blatt zu seiner eigenen Zufriedenheit.

Eine allgemein geachtete Familie war die des Malervorstehers Kersting, in welcher Einfachheit der Sitte und ein teilnehmendes geistiges Leben in schönem Verein anzutreffen war. Er, ein biederer Mecklenburger, welcher den Befreiungskrieg im Bannerkorps mitgemacht hatte, trug immer noch den patriotisch-religiösen Zug jener[292] großen, herrlichen Zeit an sich, einer Zeit, die so geistig und sittlich erhebend auf die damalige Jugend gewirkt hatte. Kersting war ein höchst lebendiger, oft etwas exaltierter Mann, im Gegensatze zu seiner ruhigen, klar verständigen Frau; doch gab diese Mischung ihrer Ehe einen guten Klang. Den beiden wackeren Söhnen begegnete ich später in Dresden wieder, wo der eine, ein talentvoller Schüler Schnorrs, frühe gestorben ist; der zweite, eine liebenswürdige Natur, studierte Chemie und nahm eine Stellung in Dorpat an, von wo er mich mit seiner Frau mehrmals besuchte.

Da ich nicht sogleich eine passende Wohnung hatte finden können, so mußte Frau Gustel noch einige Wochen in Dresden allein zurückbleiben, während ich unten in der Stadt ein gewaltig großes Eckzimmer bezog, welches mit seinen weiß getünchten Wänden, ein paar Stühlen und einem uralten, mächtigen Familientisch in der Mitte der Stube einen recht öden Eindruck machte. Es war ein ungemütlicher Aufenthalt, und des Abends vermochte mein bescheidenes Studierlämpchen weder den dunklen Raum zu erleuchten, noch der alte, dicke Kachelofen ihn zu erwärmen.

Es war an dem Tage, als in Nürnberg das große Dürerfest gefeiert wurde (6. April 1828), wo auch in Dresden zum ersten Male sich eine Anzahl Künstler und Kunstfreunde zu einem Festmahle vereinigt hatten, an dem auch meine Freunde begeistert teilnahmen, als ich von meiner Korrektur in der Zeichenschule kam, und den Abend auf meinem Zimmer bleiben wollte. Mein Herz fühlte sich heute doppelt nach Dresden gezogen, und ich war gerade in diesen Tagen hier an die Kunstschule gefesselt und hatte nicht fort gekonnt! Da bringt mir noch gegen Abend der Postbote ein Paket. Wie glücklich! es war Albrecht Dürers »Leben der Maria«, welches ich aus der Ernst Arnoldschen Kunsthandlung erhielt. Ich hatte es für dreizehn Taler inklusive des seltenen Titelblattes vor einiger Zeit gekauft und bekam es also gerade jetzt zur rechten Stunde.

Nicht ohne langes Bedenken und Zögern hatte ich mich zum Ankauf entschlossen; denn die Summe war für meine Verhältnisse eine bedeutende. Aber sie hat reiche Zinsen getragen. Bei Philipp Veit in Rom hatte ich diese reizenden Holzschnitte des Großmeisters[293] deutscher Kunst zum ersten Male gesehen; heute feierte ich am stillen Abend ganz einsam beim Studierlämpchen sein dreihundertjähriges Gedächtnis, indem ich die ewig jungen, unverwelklichen Blüten seines Geistes mit Wonnegefühl betrachtete und mich in sie hineinlebte. Blatt für Blatt verfolgte ich jeden Zug, und nur zuweilen flog dabei ein Schatten von Wehmut über die Bilder, wenn ich der festfeiernden Freunde gedachte und meiner Auguste, die ich mir zur Seite wünschte, damit sie sich über die Dürers und wahrscheinlich noch mehr über meine Freude erfreuen könne. Vor allen anderen Werken Dürers hat gerade dieses zu aller Zeit eine produktiv anregende Wirkung auf mich gehabt. –

Das in Dresden abgehaltene Fest hatte indes auch eine bedeutende Folge. Einige Tage vor demselben hatte Peschel bei Quandt den Gedanken angeregt, ob nicht bei dieser günstigen Gelegenheit die Begründung eines Kunstvereins in Vorschlag gebracht werden könnte, welche Anregung v. Quandt mit Lebendigkeit ergriff und sie dem Hofrat Böttiger, welcher die Festrede zu halten hatte, mitteilte. Die Sache gelang und es fanden sich sogleich eine große Anzahl Unterzeichner, und so war dies der Geburtstag des sächsischen Kunstvereins.

Über die Kunstvereine und ihre Wirkungen auf die moderne Kunstentwickelung ist viel für und gegen gestritten worden. Ich bin nie für sie begeistert gewesen; aber das muß ich zu ihren Gunsten sagen, daß diejenigen, welche die Kunstzustände kannten, wie sie in Deutschland bis in die zwanziger Jahre fast durchgängig waren, genötigt sein werden, ein Loblied auf diese Vereine anzustimmen. Sie haben in weiten Kreisen ein Publikum herangebildet, welches für Kunst in ihren verschiedensten Richtungen lebendigen Anteil, vielfach ein seines Verständnis entgegenbringt, während ein solches früher gar nicht vorhanden war. Wieviele Talente sind jämmerlich zugrunde gegangen aus Mangel an jeglichem Auftrag. Ich nenne hier in Dresden Gränicher, Wehle, Schiffner. Andere, die sich einigermaßen durcharbeiteten, kamen doch nicht zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte, und in Dresden konnte ein Maler, ohne eine Anstellung an der Akademie zu haben, nicht wohl existieren, wenn er nicht eigene Mittel besaß.[294]

Wie anders ist dies jetzt, und in Städten, wo dergleichen Vereine in guten Händen waren, ist Kunstverständnis und Kunstliebe ganz bedeutend gefördert worden. Man denke z.B. an Frankfurt und Leipzig.

Außerdem aber würde zu jenem Zeitpunkt eine andere Art der Erweckung und Verbreitung des Kunstsinnes nicht wohl möglich gewesen sein; sie war den modernen Verhältnissen angemessen und deshalb verbreiteten die Kunstvereine sich in Kürze über ganz Deutschland.

Daß diese Vereine mehr dem Bedürfnis der Künstler nach Käufern ihrer Arbeiten, als dem Verlangen des Publikums nach Bildern entsprungen sind, mag zum Teil wahr sein; allein Kunstsinn entwickelt sich an Kunstwerken und womöglich an solchen aus der lebendigen Gegenwart; also mußte immer die Förderung der Künstler durch Abnahme ihrer Arbeiten das Erste sein, um einer kunstlahmen, nach dieser Kulturseite hin erstorbenen Zeit aufzuhelfen.


Die sieben Jahre, welche ich bis zur Aufhebung der Zeichenschule in Meißen zugebracht habe, gestalteten sich in eigentümlicher Art. Der Stoßseufzer Dürers: »O wie wird mich nach dieser Sonne frieren; hier ein Herr, daheim ein Schmarotzer!« er kam mir oft recht nachdrücklich zum Verständnis. So sehr Stadt und Umgegend durch ihre Romantik mich anheimelten, um so fremder und getrübter waren mir die Gesellschaftsverhältnisse, wie sie zum Teil durch meine Stellung herbeigeführt wurden; denn da in jener Zeit ein bezopfter Dämon, Kastengeist genannt, das Zepter führte, und der Wert eines Mannes allein in seinem Titel oder Vermögen bestand, so fühlte ich mich, der weder das eine noch das andere besaß, in meiner Sphäre sehr vereinsamt, ja niedergedrückt.

Zu all diesem trat der Umstand hinzu, daß ich wieder anfing zu kränkeln, und nach Verlauf des ersten Jahres trat eine Krankheit nach der andern auf und zehrte an meinen Kräften. Mein Arzt, ein als sonderbares Original bekannter Mann aus alter Schule, meinte, ich vertrüge die hiesige Luft nicht, und erklärte mich später für brustkrank, bis ich nach mehreren Jahren, durch Papa Arnold veranlaßt, mich seinem homöopathischen Arzt, Hofrat Schwarze,[295] anvertraute, welcher jedenfalls eine richtigere Behandlung einschlug, ohne daß ich jedoch, solange ich in Meißen war, aus diesem kranken Zustande gänzlich herauskam. Auffallend war es mir, daß ich, sobald ich auf einige Tage nach Dresden ging und mit meinen Freunden verkehrte, mich augenblicklich frischer und wohler fühlte, und bei meiner späteren Übersiedelung nach Dresden auch jene Krankheitserscheinungen sogleich aufhörten!

Eine dritte Plage, die hier auf mir lastete, war die sehr spärliche Einnahme. Die Tätigkeit an der Zeichenschule nahm zwei Tage wöchentlich in Anspruch, und wie ich schon erwähnt habe, bezog ich dafür ein Gehalt von zweihundert Talern; was ich nun an den vier übrigbleibenden Tagen durch meine Arbeiten verdiente, erreichte nach einigen Jahren erst das Doppelte des Gehaltes. Es waren die sieben mageren Jahre des Pharao.

Ohne die Liebe, ohne den unverwüstlich heiteren, mutigen Sinn meiner Frau, ihre große Sparsamkeit und ihr praktisches Verständnis in der Haushaltung würde ich in diesen beengenden Verhältnissen verkommen sein.

Ich erinnere mich, daß meine Kasse einst so leer geworden war, daß ich ängstlich auf das Eintreffen des monatlichen Gehaltes wartete und Furcht hatte, der Briefträger könne inzwischen einen Brief bringen, welcher mehr Porto kosten könne, als ich besaß. Zum Glück erhielt ich aber, bevor diese Kalamität eintrat, das ersehnte Gehalt.

Ich entdeckte einstmals zu meiner großen Bestürzung, als ich in meinem Schreibepult das Schubfach aufzog, in welchem die Kasse lag oder liegen sollte, daß in demselben nur noch einige kleine Münze vorhanden war. Da ich zunächst keine Einnahme zu erwarten hatte, rieb ich sorgenvoll die Stirn, wodurch aber der Zustand nicht anders wurde. Mechanisch ziehe ich ein unteres langes Schubfach heraus, in welchem Papier und Zeichnungen lagen. Aber welche Überraschung! eine lange Reihe Silbertaler glänzte mir entgegen. Es waren nicht weniger als vierzig Taler, die ich vor längerer Zeit für ein kleines Bildchen bekommen, einstweilen hierher gelegt und nicht wieder an dieselben gedacht hatte. Ich rufe sehr erfreut Gustel herbei, zeige ihr meinen Fund, und wir freuen uns nun beide,[296] wobei sie mich am Ohre zupft, mich wacker auslacht und mir zuletzt einen Kuß gibt.

Solche Szenen gehören zu »Künstlers Erdenwallen«.


Das beste Mittel, mich zeitweilig aus diesen beengenden Zuständen zu befreien und frischere Strömungen durch die Seele zu leiten, war für mich zu jener Zeit ein Besuch der Freunde in Dresden. In Bertholds Dachstübchen traf ich immer einige der treuen Genossen aus der römischen Zeit zusammen: Peschel, Adolf Zimmermann, Oehme, auch Hantzsch und den Architekten Herrmann, später auch Kügelgen. Da wurde das Herz wieder warm im vertraulichsten Austausch über Altes und Neues, was irgendwie mit unseren Bestrebungen in Beziehung stand. Es versteht sich, daß ich mich auch in den Ateliers umsah und mit Anteil das Vorrücken und Vollenden ihrer Arbeiten verfolgte; auch währte es nicht lange, so waren wir (Berthold, Peschel und ich) zu einer gemeinsamen kleinen Arbeit verbunden. Wir hatten den Direktor des v. Fletcherschen Seminars, Zahn, kennen gelernt, und da er eben seine Bearbeitung der biblischen Geschichten zum Schulgebrauch herausgeben wollte und für diesen Zweck gern Bilder gehabt hätte, wenn sich solche ohne großen Kostenaufwand herstellen ließen, so waren wir sogleich bereit – da wir es als eine gemeinsame Kompositionsübung betrachteten –, auf die Sache einzugehen. Die kleinen Blätter wurden später von Williard lithographiert; mir aber machte diese Arbeit ein ganz besonderes Vergnügen, weil ich, der Landschafter, zum ersten Male mit den beiden Historien malern zu gemeinsamer Arbeit zusammentreten, mit ihnen wetteifern konnte. Wir schickten einander die Blättchen zu und kritisierten sie gegenseitig, was mir sehr belehrend war.

Um dieselbe Zeit hatte C. G. Börner in Leipzig, den ich ja von Rom her kannte, ein Kunstgeschäft gegründet und entschloß sich sogar, einen eigenen Verlag, anzulegen. So zeichnete ich für ihn zunächst sechs Landschaften aus Salzburg, radierte dieselben in Kupfer und ließ ihnen zwei Jahre darauf die sechs italienischen Landschaften folgen.

Auch mit Peschel und Berthold knüpfte Börner an und erwarb[297] von ersterem eine Folge von Federzeichnungen zum Buche Tobias. Offenbar war Peschel bei dem öfteren Betrachten der Holzschnitte Dürers in der Quandtschen Sammlung auf den Gedanken gekommen, in ähnlicher Weise etwas zu komponieren und in Holzschnittmanier auszuführen. Da aber zu jener Zeit die künstlerische Verwendung und Technik des Holzschnittes fast verloren gegangen war, so ließ Börner diese Tobiasbilder durch den obengenannten Williard auf Stein zeichnen, und zwar ebenfalls mit der Feder.

Bei Berthold war ganz im geheimen eine Reihenfolge von Zeichnungen entstanden, die mit Hilfe Peschels und nach vielem Protestieren von seiten Bertholds aus ihrem Versteck an das Tageslicht gezogen wurden. Es war sein »Sonntag«, welchen er später in sieben Blättern radiert hat. Wir waren beide überrascht von der anmutigen Erfindung und von dem Reichtum hübscher Motive darin, welche von der originalen Phantasie unseres Freundes Zeugnis gaben. Freilich war die Zeichnung unzulänglich und mit einer gewissen Manier behaftet; dessenungeachtet übernahm die Herausgabe ebenfalls der gemeinschaftliche Freund, Börner sen. Er hatte übrigens alle diese Sachen um einen so geringen Preis erworben, daß er im schlimmsten Fall nichts dabei riskieren konnte; denn uns war es mehr darum zu tun, mit unseren Arbeiten an die Öffentlichkeit zu treten und dadurch bekannt zu werden, als einen andern Gewinn dabei zu haben.


Da ich einmal von meinen und der Freunde Arbeiten berichtet habe, welche in die Meißner Zeit fallen, will ich sogleich noch jene hinzufügen, welche mir aus jener Periode in der Erinnerung geblieben sind.

Zunächst war es eine Gebirgslandschaft von Rocca Canterano, sodann ein Morgen mit dem Blick auf das Volskergebirge, welches Blatt ich auch für den sächsischen Kunstverein radiert habe; ferner: Der Waldweg bei Ariccia, ein Gewittersturm am Serone, ein Abend bei Civitella, im Hintergrund den Monte Serone, der Brunnen bei Grotta Ferrata und zwei Wiederholungen desselben. Ein Bild von der Serpentara malte ich für Oberbaurat Schinkel in Berlin und eine Abendlandschaft am Tannengebirge im Salzburgischen[298] für Börner. Zu allem diesem kamen noch manche kleinere Landschaften (Ponte Salaro, Tempel der Minerva Medica, das Meißner Schloß) und eine Anzahl Zeichnungen und Aquarelle.

Auf letztere war ich dadurch gekommen – denn ich hatte mich früher darin nicht geübt –, daß es mir in den Sinn kam, die unbeschäftigte Zeit nach der Korrektur der Schüler, welche ich gewöhnlich lesend oder mit den Kollegen plaudernd zubrachte, nützlicher zu verwenden; denn Schaufuß und Scheinert saßen hier täglich an ihren Arbeitstischen und malten Porzellan, während mein Tisch unbenutzt blieb. Als nun Demiani, ein Leipziger Kunstfreund und Besitzer einer bedeutenden Sammlung von Aquarellzeichnungen, eine solche auch von mir zu besitzen wünschte, komponierte ich einen Erntezug [in der Campagna] und führte ihn hier in der Zeichenschule aus. Es war dies die erste ausgeführte Aquarelle, die ich gemacht habe. Dieser folgte eine zweite, welche sich in der Sammlung des Königs Friedrich August befindet: die Serpentara mit Civitella.

Diese Behandlungsweise machte mir große Freude; denn da meine Phantasie nicht arm war, die Bilder sich im Gegenteil immer neu aufdrängten und wie von selbst gestalteten, so war es eine Lust, sie in verhältnismäßig kurzer Zeit wie eine reife Frucht vom Baume meines Lebens abfallen zu sehen und die Scheuern damit zu füllen. Die Radierungen nach meinen und Lindaus Gemälden für den Kunstverein sind hier noch zu erwähnen.

Während einiger Jahre lieferte ich auch die Zeichnungen zu dem »historischen Bildersaal« von Textor, welcher in Wochen- oder Monatsheften erschien. Ich betrachtete diese Arbeit, welche in höchst geschmackvoller Weise ausgeführt wurde, als Exerzitien für mich, als Übung im Figurenzeichnen. Gewöhnlich brachte ich so ein Blatt in einem Nachmittage fertig und erfreute mich eines Honorars von zwei Talern.

Zweier Ölgemälde will ich hier noch besonders gedenken. Ich hatte eine Komposition in der Art des Claude Lorrain ausgeführt, wozu der Lago d'Averno und das Cap Misene das Motiv gegeben hatten. Das Bild schickte ich zur Ausstellung dem Kunstverein zu und erhielt bald darauf von Quandt, welcher Vorstand desselben[299] war, einen Brief, welcher Zeugnis geben kann, mit welchem Anteil und seinem Verständnis von ihm diese Angelegenheiten geleitet wurden. Er schrieb (im Mai 1831):

»Verehrter Herr und Freund! Bevor ich meinen Sommeraufenthalt in Dittersbach antrete, habe ich das Komitee des Kunstvereins versammelt und diesem Ihre Landschaft vorgelegt.

Es wurde fast einstimmig bemerkt, daß dieses Bild von Ihren früheren Arbeiten in der Behandlung und dem Kolorit sehr abweiche. Die Behandlung ist leichter, selbst gewandter, könnte man sagen, zeigt mehr Meisterschaft, und das Kolorit hat etwas Einschmeichelndes; erlauben Sie mir aber auch, mit freundschaftlicher Offenheit zu bemerken, daß es mir und anderen schien, als wenn jene natürliche, ungesuchte Schönheit, Wahrheit, Unschuld, welche Ihre Bilder sonst immer auszeichnen, diesem fehlen. Es verrät sich die Absicht, zu gefallen und Wirkung zu machen, oder doch wenigstens das an sich recht löbliche Bestreben, andere Meister, z.B. Claude Lorrain, welchen Sie vielleicht im Sinne gehabt haben, zu erreichen. Dies gibt aber gleichsam die Natur aus zweiter Hand. Denn der die Natur liebt, erkennt darin seine Geliebte nicht so ganz wieder, sondern erblickt nur ein angenehmes Gemälde.

Vergeben Sie, daß ich Ihnen dies so unberufen und offen schreibe, was ich mir darum erlaube, weil Sie ja wissen, wie sehr ich Sie schätze, wie oft ich mich über Ihre Landschaften erfreut habe, und also meine Gesinnungen nicht verkennen werden.

Es tut mir leid, Ihnen melden zu müssen, daß der Kunstverein Ihr Gemälde nicht gekauft hat. Sie selbst haben uns schon an viel Besseres gewöhnt. Ich gestehe, daß der Kunstverein Bilder gekauft hat von jungen Leuten, welche bei weitem nicht so gut waren, wie Ihr Gemälde; allein von jenen hoffen wir noch viel, und Sie haben schon viel geleistet und uns also zu höheren Forderungen berechtigt usw.«


Der Nichtankauf des Bildes war freilich hart für mich; allein der freundschaftliche Rat, dem eigenen, ursprünglichen Gefühl zu folgen und mich nicht in die Anschauungsweise eines anderen künstlich[300] »zu versetzen«, nicht durch gefärbte Brille zu sehen, war ein Wink zur rechten Zeit.

Ein zweites Bild, welches ich einige Jahre später mit großer Sorgfalt ausgeführt hatte, wurde ebenfalls vom Kunstverein, dem ich es angeboten hatte, zurückgewiesen, d.h. nicht angekauft. Es stellte einen felsigen Abhang vor, mit Busch und Wald umgeben. Ein alter Ziegenhirt sitzt an dem Stumpf eines Kastanienbaumes, ein junges Mädchen liegt im Grase bei den Ziegen, und im Hintergrund erheben sich die von der Abendsonne geröteten Gipfel der Mammellen (der Rocca di Mezzo).

Ich war sehr krank, als ich daran malte; denn ein schleichendes Fieber, welches seit langen Wochen mich abzehrte, hatte mich so elend gemacht, daß ich allen Lebensmut verlor. Dennoch setzte ich alle meine Kraft daran, das mir möglichst Beste zu erreichen.

Es ist schwer zu sagen, wie erschütternd mich die Nachricht traf, daß mein Bild die Zustimmung des Komitees nicht erhalten hatte. Ich war mir bewußt, mit dem Aufbieten aller Kräfte mein Bestes getan zu haben, und dieses – wie ich glaubte – mir erreichbar Höchste genügte nicht! Ich war in der Tat todmüde, durch die Krankheit erschöpft und nun ganz hoffnungslos. –

Solche Zustände traten nun oft genug zu alle den übrigen Sorgen, welche das Leben in unzähligen Formen und Verhältnissen mit sich zu bringen pflegt. Wie glücklich ist der Künstler, so dachte ich oft, welcher durch einiges Vermögen sich und der Seinen Existenz gesichert weiß und seine Kunst in voller Freiheit auszuüben vermag, unabhängig von der Geschmacksrichtung eines vielköpfigen Publikums oder eines zufällig zusammengewürfelten Komitees! Ja es schien mir in Ermangelung eines Besseren ein idealer Zustand zu sein, wie Hans Sachs, der ehrbare Nürnberger Schuhmachermeister, an sechs Tagen sich mit dem Handwerk tüchtig zu beschäftigen, um damit Feiertage und Mußestunden zu gewinnen, welche er voll und rein seiner geliebten Muse widmen konnte. »Hans Sachsens poetische Sendung« von Goethe war damals mein Lieblingsgedicht; es war der Ausdruck meiner Ideale, Wünsche und einigermaßen der eigenen Zustände, nur daß die »Liebe« nicht mehr in der Laube saß und ein Kränzlein wand, sondern an der Wiege.[301]

Denn, um solches gleich hier zu erwähnen – es war mir Mitte August 1828 ein Mägdlein geschenkt worden, welches in der Taufe den Namen Maria bekam. Ich denke noch daran, wie rührend es mir war, als ich mit gefalteten Händen am Fenster stand und über die Stadt blickte, wie die Zinkenisten auf den Altan der Stadtkirche heraustraten, um nach alter Weise einen Choral vom Turm zu blasen, und wie in demselben Moment, als ich die ersten Laute des kleinen Ankömmlings aus der Kammer vernahm, in vollen Tönen der schöne, mir besonders lieb gewordene Choral erklang: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen.«

Die Wohnung wurde nun zu klein, und glücklicherweise fand sich ganz in der Nähe bald eine größere. Sie war in dem sogenannten Burglehnhause, eigentlich einem Komplex von drei oder vier aus verschiedenen Zeiten stammenden Gebäuden. Das älteste, in der Mitte liegend, hatte eine hübsche, rundbogige Haustür mit zwei Sitzsteinen und einem schön gemeißelten Wappen darüber. Ein vorspringendes Tor hing mit diesem Hause zusammen, in welchem der Hausbesitzer wohnte, und durch welches der Weg nach dem Schlosse führte. Neben diesem alten Hause, unmittelbar an Kaiser Heinrich I. altem Brückenbogen, welcher St. Afra mit der Albrechtsburg und dem Dom verbindet, lag das etwas später erbaute Haus, dessen zweite Etage ich jetzt bezogen hatte. Die westliche Seite desselben ging freilich bis in die Lommatzscher Gasse hinab, und von da aus war es die achte oder neunte Etage; jedoch war es hier umgekehrt, wie sonst üblich ist: Die untersten Stockwerke waren die schlechtesten und wenigst bewohnten, während die beiden oberen die Bel-Etagen waren. Eine andere Seltsamkeit dieses alten Genistes war auch, daß es zu jener Zeit eigene Gerichtsbarkeit hatte, und z.B. ein armes Weib, welches in »der Tiefe« wohnte und eines Kindesmordes beschuldigt und überwiesen wurde, im Zimmer des Hauswirtes (über dem Tordurchgange) von den Gerichten nicht nur verhört, sondern auch die ausgegrabene Leiche von den Ärzten hier seziert und untersucht wurde. Auch hatte der Besitzer die angenehme Verpflichtung, jedem in diesem Hause Geborenen im Falle der Verarmung lebenslang freie Wohnung im Hause zu geben, denn es war seine Heimat.[302]

Was mich aber hier besonders angezogen hatte und gefesselt hielt, war die Aussicht, welche das fünffenstrige, geräumige Eckzimmer darbot. Sie war entzückend schön durch ihre hohe Lage und durch die reichste romantische Umgebung. Auch meine Arbeitsstube, welche höher lag als die übrigen Zimmer, und abgesondert und traulich war, erfreute mich höchlich. In diesem Hause wurden zwei meiner Kinder geboren. Zuerst der Sohn Heinrich, welcher zum Andenken an seinen Urgroßvater und in Betracht seiner Geburtsstätte unmittelbar an dem alten Kaiserbau diesen Namen erhielt, und später meine zweite Tochter Aimée, deren Patin die treffliche Mutter meines Freundes v. Kügelgen war. Viele frohe und auch schwere, tief einschneidende Zeiten durchlebte ich in diesem Hause, die ich hier übergehen will. Der goldene Faden aber, welcher sich durch dies bald in hellen, bald in dunklen Farben erscheinende Lebensbild zog, war das lebendige Vertrauen auf Gott und das Gefühl eines ungetrübten häuslichen Glückes, welches mir in so reichem Maße beschieden war.

So flossen Jahre in ungestörter Tätigkeit dahin. Unser Umgang war sehr beschränkt und bestand fast nur aus Besuchen, welche wir von Zeit zu Zeit von den lieben Freunden oder Verwandten aus Dresden empfingen. Zuweilen wurden schöne Sommernachmittage mit den Kindern auf einem nahe gelegenen Dorfe bei bekannten Bauersleuten zugebracht, oder ich wanderte mit dem Kollegen Scheinert nach irgendeiner hübsch gelegenen kleinen Weinschenke auf den Höhen der Spaarberge oder nach den Proschwitzer Bergen an der Elbe, welche durch ihren guten Wein bekannt waren. Einsamer war die Winterszeit, wo die Besuche von Dresden höchst selten wurden oder während der schlimmsten dieser Monate ganz aufhörten. Aber ich erinnere mich doch mit Vergnügen der langen Abende, wo wir fröhlich mit den Kindern um den warmen Ofen saßen und zehnmal gehörte Geschichten von neuem erzählt oder ganz neue erfunden werden mußten.

Der vortreffliche Festkalender vom Grafen Pocci und Guido Görres lieferte Stoff zum Sehen und Hören. Ebenso erfreulich war das Erscheinen von Speckters Fabelbuch, welches in seiner ersten Gestalt, wo die Bilder von Speckter selbst auf Stein radiert waren,[303] von höherem künstlerischen Wert war. Aber Pocci interessierte mich doch bei weitem am meisten und wirkte höchst anregend auf mich. Hatte ich doch für Marie und Heinrich zwei Hefte gemacht, in welche ich am Abend, sobald die Lampe auf den Tisch gestellt wurde, etwas hineinzeichnete, wenn sie brav gewesen waren. Binnen wenigen Minuten entstand unter ihren begierigen Blicken ein Bild zu einer Geschichte, einem Märchen, welches sie eben gehört hatten, oder sie figurierten selbst in eigener Person, vielleicht auch Papa und Mama, ja selbst die komische Christel in dem Bildchen, welches mit derben Strichen ein Haus- oder Straßenereignis desselben Tages schilderte. Ein Reim à la Fibel oder sonstige erklärende Unterschrift vollendete das Opus. Mein Publikum war das dankbarste, es jauchzte oft zwischen meinen auf dem Papier laufenden Bleistift hinein, wenn sie merkten, welche Gestalt sich entwickeln würde, oder welchen Bezug die Zeichnung wiederzugeben suchte. Auch die Reime drangen in mein Völkchen und auch zu denen, die mit ihnen verkehrten, und sie schwirrten noch lange bei jeder Gelegenheit durch das Haus. Schade, daß die Hefte allmählich lose Blätter wurden und sich endlich verflatterten!

Wer hätte aber denken können, das solches »kindische Spiel« der Keim und Vorbote einer ebenso folgen- als freudenreichen Arbeit wurde, die in späteren Jahren mich beschäftigte? Ich meine die Hefte »Fürs Haus«. So wurde auch der drei- oder vierjährige fröhliche Besitzer des einen Heftes der spätere Verleger der ernster gemeinten Arbeit.

Zur Vervollständigung des kleinen Familienkreises muß ich noch hinzufügen, daß derselbe durch eine liebe Hausgenossin, eine Predigerswitwe mit ihren beiden liebenswürdigen Töchtern, auf das angenehmste belebt wurde. Die Mutter, aus guter Familie, war eine vortreffliche Frau, welche nach dem frühen Tode ihres Mannes die drei Kinder – der Sohn war auf der Fürstenschule – mit einem spärlichen Einkommen und ihrer Hände Arbeit erhalten und gut erzogen hatte. Gewöhnlich kam sie mit den Töchtern des Abends zu uns herauf, und bald war alles an dem runden Tisch beschäftigt und guter Dinge. Besonders war die älteste der Töchter eine aufblühende Schönheit, und wo diese im Verein mit Herzensgüte[304] und kindlichem Frohsinn waltet, wie es hier der Fall war, da gibt es ein gutes Dabeisein. Meiner Frau war dieser trauliche, zwanglose Verkehr besonders angenehm und in vielen Dingen von gegenseitigem Vorteil.

Als ich späterhin den Landprediger von Wakefield las und zeichnete, kamen mir diese Abende und Tage oft ins Gedächtnis, besonders aber die beiden schönen Töchter.


Um die Mitte meiner Meißner Lehrjahre trat ein häusliches Ereignis ein, welches auf meine weitere künstlerische Entwickelung von entscheidender Bedeutung war, und welches ich hier ausführlicher erzählen will. Bisher hatte ich ausschließlich italienische Landschaften gemalt. Mein Herz war in Rom, in seiner Campagna, in dem mir so lieben Sabiner- und Albanergebirge. Das Heimweh – ich kann es nicht anders nennen – nach dieser ideal schönen und großartigen Natur steigerte sich fast zum Krankhaften, und dies vielleicht um so mehr, als ich bei meinen beschränkten Verhältnissen gar keine Aussicht hatte, jemals diese in meiner Idee verklärten Gebiete wieder zu betreten. Die Natur in meiner nächsten Umgebung erschien mir dagegen arm und formlos, und ich wußte nichts aus ihr zu machen. Nun hatte ich durch meinen Freund, den Maler Bähr (Karl Bähr, später Professor an der Akademie) in Dresden den Auftrag zugewiesen bekommen, eine größere italienische Landschaft für einen Kunstfreund in Reval zu malen. Ich nahm zum Motiv eine Gegend an der Tiber bei Aqua Acetosa und führte das Bild binnen einigen Monaten aus. Bähr, welcher Ende August mit dem Architekten Herrmann nach Rom gehen wollte und mich gern zum Reisegefährten gehabt hätte, hatte mir zur Ermöglichung seines und auch meines innigsten Wunsches die genannte Bestellung verschafft, und ich fand nach genauester Berechnung der Reisekosten, daß die für das Gemälde erhaltene Summe hinreichen würde, ihn wenigstens bis nach Oberitalien zu begleiten, wo ich am Gardasee Studien zu machen gedachte.

Unverhofft war mir dieser Glücksstern aufgegangen, und ich war nur in Sorge, es könne während der zwei Monate, wo wir die Reise antreten wollten, noch irgendein Hemmnis darein kommen.[305]

Und ein solches trat auch wirklich ein. Ende Juni erkrankte Auguste; sie, die weder vorher noch nachher eine Krankheit durchzumachen hatte, wurde jetzt an ein langes und schmerzliches Krankenlager gefesselt. Es hatte sich ein Abszeß an der linken Hüfte gebildet, welcher nach innen aufgehend ihr unrettbar den Tod bringen mußte, weshalb der Arzt sich bemühte, das Übel nach außen hin zu leiten. Alle seine Bemühungen schienen jedoch vergeblich, es blieb der Zustand immer der gleiche, und ich sah, daß meine arme Frau immer schwächer wurde. Meine Sorge war groß, und die Furcht vor einem schlimmen Ausgange wurde nicht nur durch die bedenklichen Gesichter der beiden geschickten Ärzte vermehrt, welche sie in Behandlung hatten, sondern auch durch eine Nachricht, welche mir aus Dresden zukam, wonach Rietschels (erste) Frau, die an derselben Krankheit darniederlag, durch Aufgehen des Abszesses nach innen eben gestorben sei.

Bähr und Herrmann waren bereits abgereist, da sie sahen, wie ich schon längst die Hoffnung aufgegeben hatte, mit ihnen gehen zu können.

Als ich eines Nachmittags aus der Zeichenschule kam, fand ich meine arme Kranke mit geschlossenen Augen bewußt- und gänzlich bewegungslos. So blieb sie während der ganzen Nacht, und die Ärzte erklärten, es scheine eine Krisis eingetreten zu sein, und geboten die größte Stille. Die Kinder wurden deshalb zu unserer Pastorswitwe gebracht, und ich hörte, wie die Leute sich zuflüsterten: »Es wird wohl heute mit ihr zu Ende gehen.«

Ich kam wieder aus der Zeichenschule und fand sie noch immer in demselben Zustande. Seit länger als vierundzwanzig Stunden lag sie wie tot, ohne nur die leiseste Bewegung gemacht zu haben. Ich setzte mich an ihr Bett. In der Wohnung war alles so totenstill, und meine Seele wollte fast verzagen; ich konnte nur still zu Gott seufzen und beten. Die Abendsonne warf noch einen Scheideblick in die kleine Kammer, und vielleicht in einer Art von Gedankenverbindung lenkte ich meine Augen auf die ihrigen, wie fragend: ob dieselben für immer geschlossen sein sollten – und siehe, in diesem Moment zuckten ihre Wimpern, die Augen öffneten sich langsam, und indem sie mich freundlich ansah, sagte sie nach[306] einem tiefen Atemzuge: »O, jetzt ist mir wieder wohl!« Ich zitterte vor freudiger Überraschung und Erstaunen, und der leise eingetretene Arzt, nachdem er mit inniger Teilnahme gehört, gesehen und untersucht hatte, wandte sich zu mir und sagte: »Danken Sie Gott! es hat sich zum Besten entschieden, sie ist gerettet und die Genesung wird nun schnell erfolgen.« Und so war es auch; von Tag zu Tag wurde sie jetzt wohler, und in acht Tagen war sie wieder im Wohnzimmer unter den Kindern. Ja, wohl dankte ich Gott von ganzem Herzen, der ein so schweres Geschick von mir abgewendet und mir meine liebe, teure Auguste wieder neu geschenkt hatte.


Es war indes September geworden, als meine Frau außer aller Gefahr war, und nun redete sie mir zu, die schöne Witterung wenigstens zu einer kleinen Erholungsreise zu benutzen, da an eine größere nicht mehr zu denken war. Von dem zurückgelegten Reisegelde war nur ein kleiner Teil übrig geblieben, das andere hatte die lange Krankheit verzehrt. Ich entschloß mich also, durch das Elbtal nach dem böhmischen Mittelgebirge bei Teplitz zu gehen, wohin ich seit meiner italienischen Reise nicht wieder gekommen war.

Ich war überrascht von der Schönheit der Gegenden, und als ich an einem wunderschönen Morgen bei Sebusein über die Elbe fuhr und die Umgebung mich an italienische Gegenden erinnerte, tauchte zum ersten Male der Gedanke in mir auf: Warum willst du denn in weiter Ferne suchen, was du in deiner Nähe haben kannst? Lerne nur diese Schönheit in ihrer Eigenartigkeit erfassen, sie wird rühren, wird gefallen, wie sie dir selbst gefällt.

Da fielen mir die Goetheschen Strophen ein:


»Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?

Goldne Träume, kehrt ihr wieder? –

Weg, du Traum, so Gold du bist;

Hier auch Lieb' und Leben ist!«


Bald griff ich zur Mappe und zum Skizzenbuch, und ein Motiv nach dem andern stellte sich mir dar und wurde zu Papier gebracht. Von Sebusein bis Kamaik ist eine Fülle der schönsten[307] und großartigsten Landschaftsbilder ausgeschüttet. Nach Außig zurückgekehrt, zeichnete ich mehreres am Schreckenstein. Als ich nach Sonnenuntergang noch am Ufer der Elbe stand, dem Treiben der Schiffsleute zusehend, fiel mir besonders der alte Fährmann auf, welcher die Überfahrt zu besorgen hatte. Das Boot, mit Menschen und Tieren beladen, durchschnitt den ruhigen Strom, in welchem sich der goldene Abendhimmel spiegelte. So kam unter andern auch einmal der mit Leuten bunt angefüllte Kahn herüber, in welchem ein alter Harfner saß, welcher statt des Überfahrtskreuzers während der Fahrt etwas auf der Harfe zum Besten gab. Aus diesen und anderen Eindrücken entstand nachher das Bild »Die Überfahrt am Schreckenstein«, der erste Versuch, in welchem ich die Figuren zur Hauptsache machte. Freilich fielen sie sehr mangelhaft in der Zeichnung aus, besonders da ich nur zu ein paar Figuren eine flüchtige Skizze nach der Natur machte. Doch gefiel das Bild auf der Ausstellung, und v. Quandt kaufte es sogleich für seine Sammlung.

Nach zehn oder zwölf Tagen kehrte ich mit einer kleinen Anzahl Studien und noch bedeutenderen fruchtbaren Eindrücken in das alte Burglehnhaus nach Meißen zurück.

Von dieser Zeit an wandte sich mein Streben wieder ganz der heimischen Natur zu. Alle die tiefgehenden Eindrücke aus der Jugendzeit lebten damit wieder auf und erneuten sich an den nämlichen oder verwandten Gegenständen, und immer freudiger durchdrang mich dieses neue Leben.

Wenn ich in den letzten Jahren meine Begeisterung nur an meinen italienischen Naturstudien und der immer blasser werdenden Erinnerung an dieselben entzünden konnte, so empfand ich jetzt das Glück, täglich frisch aus der Quelle schöpfen zu können. Jetzt wurde mir alles, was mich umgab, auch das Geringste, die alltäglichste Gegenwart interessanter, weil Gegenstand malerischer Beobachtung. Konnte ich jetzt nicht alles brauchen? War nicht Feld und Busch, Haus und Hütte, Menschen wie Tiere, jedes Pflänzchen und jeder Zaun und alles mein, was sich am Himmel bewegt, und was die Erde trägt? – Ich arbeitete und sammelte jetzt mit neuer Luft an vaterländischen Stoffen. Zunächst entstand ein Gemälde,[308] wozu ich das Motiv im Triebischtal (bei Meißen) gefunden hatte: »Herbstlicher Wald mit Staffage« (jetzt in Altenburg); sodann »Aufsteigendes Gewitter am Schreckenstein« und die bereits erwähnte »Überfahrt«.

Die bis zum Krankhaften gesteigerte Sehnsucht nach Italien war von hier an gebrochen, oder störte mich doch nicht mehr, offene Augen für das Schöne zu haben, das in meiner Nähe lag, und woran ich täglich studieren konnte.

Die Krankheit meiner Frau war also die nächste Ursache zu diesem Wendepunkte gewesen, und was mir ein großes Übel schien, war ein rechter Segen geworden.


Es mag wohl im Anfang der dreißiger Jahre gewesen sein, als Freund Kügelgen mich bat, ihn in Hermsdorf (bei Königsbrück) auf einige Tage zu besuchen. Er hatte den Auftrag, ein großes Altarbild für eine Kirche in Livland zu malen, und da er in Dresden kein Atelier fand, welches die erforderliche Höhe hatte, die zur Aufstellung einer solchen Leinwand nötig ist, so hatte ihm sein Freund v. Heinitz, der Besitzer von Hermsdorf, einen Saal im Schlosse zu diesem Zweck überlassen. Ich besuchte ihn dort und machte bei dieser Gelegenheit u.a. auch die Bekanntschaft des Pastor Roller in Lausa.

Roller war, besonders in den kirchlich gesinnten protestantischen Kreisen, weit und breit bekannt. Manchen ein Rätsel, anderen ein wunderlicher Heiliger, dessen Sonderbarkeiten man belachte, wurde er nur von denen nach seinem wahren Werte und seiner Bedeutung erkannt, die ihm näher standen und Sinn und Verständnis für dergleichen Erscheinungen besaßen. War es doch mit Roller, wie auf einem anderen Gebiet mit meinem lieben Meister Joseph Koch, dessen Skurrilitäten in aller Munde waren, dessen Bedeutung und Großartigkeit wenige recht zu würdigen wußten.

Kügelgen hat in seinen bekannten »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« seinem alten Freunde Roller ein köstliches Denkmal gesetzt und ihn mit der Feder noch besser gezeichnet, als mit dem Pinsel. Ich will hier nur meine kurze Begegnung mit ihm berichten.[309]

Zuerst sah ich ihn bei einer Abendgesellschaft auf dem Schlosse, wo gerade das gräflich Dohnasche Ehepaar zum Besuch eingetroffen war.

Rollers gedrungene Gestalt, die würdevollen Züge seines Gesichts, mit den braunen, geistvollen Augen, das bedächtige Tempo seines Sprechens schien oft in Widerspruch mit den Bizarrerien im gewöhnlichen Leben und gaben denselben einen noch komischeren Ausdruck; dagegen trat im Amte der volle Ernst und Würde seines eigensten Wesens hervor, während im freundschaftlichen Gespräch wieder die kindlichste Naivität und schalkhafter Humor sein Gesicht durchleuchteten.

An jenem Abend fiel mir nur auf, daß er im lebhaften Gespräch mit der Gräfin, als sie ihn aufforderte, sich zu ihr zu setzen, sogleich »am Schemel ihrer Füße« Platz nahm, d.h. auf den platten Boden sich setzte und die Konversation scherzend von da weiter führte, ohne daß solches in der Gesellschaft als etwas Außergewöhnliches angesehen wurde; denn sie kannten alle die Marotten ihres Pastors.

Anderen Tages besuchte ich ihn mit Heinitz und Kügelgen in seinem kleinen, fast ärmlichen Pfarrhause. Meine beiden Begleiter hielten sich nicht lange auf wegen eines Geschäftsganges, den sie zu machen hatten, und nach welchem sie mich wieder abholen wollten. Roller breitete nun einen Schafpelz in der Nähe des alten Kachelofens aus und meinte: so nebeneinander am Boden sitzend, sei man gleich freier und traulicher, – und bald waren wir bei der vorjährigen Kunstausstellung. – Ich wußte schon durch Kügelgen, daß Roller dieselbe jedesmal mit seinen Dorfkindern besuchte. Mit einer Elite Lausaer Knaben und Mädchen zog er durch den Wald nach der zwei Stunden entfernten Residenz und betrachtete mit ihnen aufmerksam Bild für Bild. Ich war verwundert, daß er auch das meinige, »Das Tal von Amalfi«, gar wohl betrachtet und noch im Gedächtnis hatte.

Obwohl nun Roller ein großer Bilderfreund, aber nichts weniger als ein sogenannter Kenner war, sondern seine eigentümlichen, oft sehr originellen Ansichten hatte, so interessierte es mich doch, dieselben über mein Bild zu hören, und um so mehr, als ich merkte, daß er mit der Auffassung desselben nicht recht einverstanden schien.[310]

Roller fand etwas »Gemachtes, Schöntuerisches«, namentlich in den Figuren. Wenn er malen könne, meinte er, würde er suchen, die Natur ungeschminkt, in ihrer unschuldvollen Schönheit hinzustellen, ohne etwas dazu zu tun, usw.; und nun beschrieb er eine Landschaft mit ihrer Staffage – allerdings eine deutsche, die er ja allein kannte – in so treffenden Zügen, daß in mir plötzlich ein lebendiges Bild davon aufstieg (ähnlich etwa einem Eyck oder Memling), durch welches der Unterschied einer ideal oder real aufgefaßten Natur anschaulich klar wurde. Ich hatte das Gefühl, daß eine auf Linienschönheit allein oder vorwiegend gegründete Auffassung zur Manier führen müsse, wenn nicht zugleich eine völlig naive Naturbetrachtung hinzutrete und dadurch das Äußere Ausdruck des Inneren werde.


»Müsset im Naturbetrachten

Immer eins wie alles achten;

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:

Denn was innen, das ist außen.

So ergreifet ohne Säumnis

Heilig öffentlich Geheimnis.«


(Goethe.)


Es war sonderbar, daß der Vergleich beider Bilder: meines Amalfitales, welches ich mir vergegenwärtigte, und des von Roller geweckten Phantasiebildes, einen so nachhaltigen Eindruck in mir hervorbrachte, daß seine Nachwirkung späterhin nicht ohne Einfluß auf meine Arbeiten blieb.

Die Unterhaltung auf unserem Parterre wandte sich nun auf einen Gegenstand, den Roller theoretisch wie praktisch meisterhaft zu behandeln wußte: »Die Kindererziehung!« – denn er hatte gehört, daß ich zwei Kinder daheim hatte, ohngefähr im Alter von zwei und fünf Jahren. Das Erziehen der Kinder sei leicht, sagte er, wenn man nur beizeiten den rechten Grund lege, d.h. sie zu pünktlichem Gehorsam und Wahrheitsliebe anhalte, durchaus kein lügenhaftes Wesen oder Täuscherei aufkommen lasse. Der andere Punkt, auf den es ankomme, sei die Gewöhnung an Ordnung und Reinlichkeit. Sei diese Sinnesart wohl gepflegt worden, so werde sich dieselbe bei der späteren Entwickelung nun auf die höheren Gegenstände übertragen; es werde das Kind z.B. auch dem Worte[311] Gottes gehorsam sein wollen, und ein kleines Mädchen, welches ihr Schürzchen rein und weiß zu erhalten gewöhnt ist und keinen Schmutzflecken duldet, wird später auch ihre Seele rein zu erhalten trachten usw.

Indem er diese Dinge klar und einfach weiter ausführte, trat Kügelgen wieder ein, und wir erhoben uns von unserem Diwan, dem pastoralen Schafpelz, auf welchem mir die Stunde nur zu schnell verflossen war.

Unter Austausch innerer wie äußerer Erlebnisse durchstrich ich mit dem lieben Freund die Gegend, besonders auch den baumreichen, schönen Park, welcher von der stillen Röder durchflossen wird, und verließ am Morgen des dritten Tages neu gestärkt diesen Kreis vortrefflicher Menschen.

Als ich an die bescheidene Pfarre von Lausa kam, fiel mir das Histörchen ein, welches mir kurz zuvor Kügelgen von Roller erzählte. Letzterer war nämlich vor wenigen Wochen zu einer Pastorenkonferenz nach Flöha (bei Freiberg) eingeladen gewesen. Als er in die Versammlung eintritt, stellt sich ihm sogleich der Ortspfarrer mit den Worten vor: »Ich bin der Pastor von Flöha.« – »Und ich bin der Pastor von Lausa«, sagte Roller, »schade, daß der Pfarrer von Wanzleben nicht hier ist, er würde der passende Dritte im Bunde sein!« – Der Alte war sehr heiter, und da das Wetter inzwischen unfreundlicher geworden war und ein dünner Regen herunternebelte, so mußte »der Ökonom«, wie er seinen Bruder Jonathan nannte, weil er die Feldwirtschaft besorgte, den alten Schimmel aus dem Stall holen, vor den kleinen Planwagen spannen und mich eine Stunde weit bis auf die Landstraße bringen. Jonathan war älter als der Pastor und war früher Schneider gewesen. Ich sehe noch das gutmütige, etwas spitze Schneidergesicht, wie er, sein Pfeifchen im Munde, in die graue Regenluft hinausblinzelt und mir von Hafer und Gerste, von Hühnern und Gänsen erzählt, bis wir die große Straße erreichen, von wo ich noch eine gute Stunde bis Dresden zu wandern hatte.


Hier sah und hörte ich bei den Freunden Oehme, Peschel, Hantzsch und Berthold immer etwas Schönes oder Interessantes, und kehrte[312] dann gegen Abend, wie eine Biene mit allerlei Blütenstaub beladen, nach Meißen zurück in das alte, wundersame Burglehnhaus zu Weib und Kindern.

Solche kleine Episoden mußten mich dann auf lange Zeit entschädigen für die Entbehrung eines anregenden, belebenden Umgangs, den ich je länger, je mehr vermißte.

Zuweilen machte ich mit einigen Schülern kleine Ausflüge nach dem böhmischen Mittelgebirge. Das sehr malerische Bergstädtchen Graupen mit dem Wallfahrtsort Mariaschein, das damals sehr stille Außig, Sebusein und mein abgelegenes, aber höchst romantisches Kamaik waren die Lieblingsorte, wo wir gern länger weilten und Studien sammelten. Pulian, der ein geschickter Landschafts- und Architekturmaler wurde und in den sechziger Jahren in Düsseldorf verstarb, sowie der talentvolle Haach (starb früh in Rom) waren meine ersten Schüler in Meißen.

Diese malerischen Fußwanderungen mit mehreren Schülern wurden auch späterhin in Dresden fortgesetzt; denn sie erwiesen sich ebenso erfrischend wie fruchtbringend.

Eine leidlich gute Studie nach der Natur zu machen, ist verhältnismäßig leicht zu erlernen, wenn es nämlich Einzelheiten betrifft, wie z.B. einen charakteristischen Baum, eine gut beleuchtete Felsenmasse, eine Hütte und dergleichen – schwieriger dagegen ist es, ein Bild oder ein Motiv zu einem solchen richtig zu sehen und zu erfassen, nämlich eine reicher gegliederte Landschaft rechts und links, oben und unten an der rechten Stelle abzugrenzen; denn dazu gehört Phantasie und ein kunstgeübtes Auge. Hier konnte ich den Schülern der Natur gegenüber sehr behilflich sein.

Oft, wenn ich eine solche mehr bildlich abgeschlossene Partie erblickte und darauf aufmerksam machte, wußten sie es auf ihrem Papier nicht zurecht zu bringen, weil sie bald zuviel oder zuwenig von der Umgebung auf ihre Zeichnung brachten. Sie sahen das Bild nicht richtig heraus; der Sinn für einen in sich abgeschlossenen Aufbau des Ganzen war noch zu wenig entwickelt.

Späterhin habe ich oft geraten, ein Blatt starkes Papier mit einem kleinen Ausschnitt in der Mappe bei sich zu führen, dieses Bildformat näher oder ferner vor die Augen zu halten und die zu[313] zeichnende Partie damit einzuschließen, wodurch sie leicht bemerken konnten: wie die Landschaft am besten einzurahmen war.


Doch ich kehre von meiner schulmeisterlichen Abschweifung zurück und gedenke noch einiger kürzeren oder längeren Besuche von Freunden und Personen, die mir besonders wert waren. Sie wirkten immer wie ein sanfter Regen, der über das durstige Land zieht. So kam 1831 der edle, liebe J. D. Passavant zu mir. Er kehrte von einer Kunstreise nach Berlin über Dresden nach Frankfurt zurück, und wie war ich erfreut, ihn wieder zu sehen! Es tauchten bei seinem Anblick alle die schönen Tage in Rom wieder auf und bewegten die Seele. Passavant hatte zu dieser Zeit den für ihn so schmerzlichen Entschluß gefaßt, der Malerei zu entsagen, und sich der Kunstforschung zugewendet. Sein nachher so berühmt gewordenes Werk über Raffael hatte er schon in Arbeit und zu diesem Zwecke in Dresden im Museum und in der Kupferstichsammlung Studien gemacht.

Bis zum späten Abend saßen wir beisammen im vertrauten Gespräch über Kunst und religiöse Gegenstände, welches beides ja den tiefsten Inhalt unseres Lebens und Strebens ausmachte.

Vor wenig Tagen fand ich in Dr. Cornills »Leben Passavants« ein paar Zeilen, die mich überraschten und innig gerührt haben. Er erzählt, wie die Dresdener Freunde Passavant in zwei Wagen das Geleite bis Meißen gaben, worauf es heißt: »Hier verbrachte er einen ihm unvergeßlichen Abend mit Richter und seiner Frau, der ihm nochmals die ganze Poesie des deutschen Hauses vorführte, ehe er das Vaterland wieder verließ.«

Passavant trat von Frankfurt seine Reise nach England an.


Ein anderer mir interessanter Besuch war der des alten Krummacher aus Bremen, Kügelgens Schwiegervater, welcher mir durch seine »Parabeln«, »Festbüchlein« und »Paragraphen zur heiligen Geschichte« bekannt geworden war. Er kam mit seiner Familie aus Hermsdorf, und ich führte ihn in den schönen Dom, die Porzellanfabrik in der Albrechtsburg und zu allem sonstigen Sehenswerten Meißens. Die stattliche Erscheinung des geistvollen Mannes[314] mit dem milden Gesichtsausdruck, wie seine anziehenden Bemerkungen ließen noch lange ihren erquickenden Eindruck zurück.

R. Rothe besuchte mich mit seinem Vater, dem Typus eines altpreußischen Beamten, als dieser den von Rom gekommenen Sohn von Breslau auf dem Weg nach Wittenberg bis Meißen begleitete. Rothe war an das theologische Seminar in Wittenberg berufen, von wo er nach einer gesegneten Wirksamkeit als Professor an die Heidelberger Universität kam. Seine »Zukunft der Kirche«, besonders aber die »Ethik« waren für die protestantische Theologie epochemachend. Selbst der berühmte Kardinal Wiseman nennt ihn einen der tiefsinnigsten und gelehrtesten protestantischen Theologen. Mir war es eine innige Freude, den teuren »römischen« Freund wieder zu sehen; denn für mich waren diese »Römer« alle mit einer Lichtatmosphäre umgeben, – das Gefühl der so glücklich mit ihnen in Rom verlebten Tage!

Deshalb war es auch jedesmal ein hoher Festtag, wenn – gewöhnlich bald vor oder nach Weihnachten – meine lieben Dresdener »Römer« Peschel und Oehme zum Besuch kamen. Sie langten denn Samstag abends mit dem großen Botenwagen an. Unten in der Stadt wurden sie am Halteplatz, wo die Passagiere ausstiegen, von mir und Gustel erwartet, und hatte sich erst der Knäuel der bemäntelten und bepackten Insassen dieser Arche Noah entwickelt und die beiden Freundesgesichter waren beim Schein der Laterne herausgefunden, so stiegen wir im Triumph die Schloßstufen hinan nach unserem alten Burglehnhause, wo die Kinder die wohlbekannten Onkels empfingen.

Wie glücklich saßen wir am anderen Morgen um den Kaffeetisch am warmen Ofen, während draußen vor den Fenstern die Schneeflocken wirbelten und sich über die Schloßbrücke in die Stadt hinunter jagten. Zuerst wurde die übliche kurze Morgenandacht gehalten, welche dem Tage die Richtung und dem Herzen das Gefühl der Zusammengehörigkeit vor und in dem Höchsten gab.

Beim Frühstück gab es nun viel zu erzählen, was gegenseitig von Interesse war; und wer kennt nicht das wohltuende Gefühl, nach monatelangem Entbehren alles freundschaftlichen Aussprechens endlich einmal das Herz erleichtern zu können. Jetzt brachte der[315] schiefbeinige Merkurius – der Stalljunge des Botenfuhrmanns, einen Brief, welcher, am Abend angekommen, morgens erst ausgetragen wurde. Der Brief war von Berthold, welcher wegen Kränklichkeit sein Stübchen nie mehr verließ und wenigstens schriftlich in unserer Mitte sein wollte: »denn mein Brief trifft Euch gewiß mit der Tonpfeife beim Kaffee sitzend«; außerdem wollte er die Gelegenheit benutzen, an Peschel und Oehme zu schreiben, um ihnen zu sagen, wie lieb er sie habe; denn da sie sonst immer bei ihm wären, könne er ihnen das doch nicht so gerade ins Gesicht sagen, usw.

Darauf ging es natürlich auch in mein kleines Atelier; die Arbeiten wurden eingehend besprochen, die schönen Stiche des Campo Santo in Pisa (von Lasinio), welche ich von Börner gegen Handzeichnungen von mir eingetauscht hatte, mit Begeisterung betrachtet, wobei alle köstlichen Erinnerungen aus der römischen Zeit wieder auftauchten und des Erzählens kein Ende wurde. Der Mittag brachte dann einen stupenden »gallinaccio« auf den Tisch, ein kulinarisches Meisterstück von Frau Gustel, und der rote Meißner mußte den Velletri ersetzen.

Um vier Uhr nachmittags wurden die Freunde dann wieder in den mit Menschen und Gepäck vollgestopften Botenwagen, welcher ein Abkömmling der berühmten »gelben Leipziger Postkutsche« zu sein schien, einrangiert, und wehmütig sahen wir ihnen nach! –

Ich und meine Frau empfanden nach solchen Besuchen recht lebhaft, wie wenig wir hier in Meißen Wurzeln geschlagen hatten, wie wir doch erst in dem nahen Dresden uns »zu Hause« fühlen würden.


Für mich wurde das Verlangen, in eine mehr künstlerische Umgebung zu kommen und in fortwährender Berührung mit den allgemeinen Bestrebungen zu bleiben, immer stärker. Ich fühlte mich hier isoliert und herabgestimmt; gleichwohl sah ich keine Möglichkeit, die Lage zu ändern. Es tauchte zwar in der letzten Zeit das Gerücht auf, man gehe damit um, die Zeichenschule oder vielmehr deren Verwaltung durch die Akademie aufzuheben; allein auch wenn sich diese Aussicht realisieren sollte, so gab mir das keine Perspektive einer Beförderung, da die einzige Stelle für einen Landschafter an der[316] Dresdener Akademie mein Vater inne hatte, der noch frisch und tätig seinem Amte vorstand. So schien es immer beim alten bleiben zu müssen, und die wiederholten, oft schweren Erkrankungen, die ich durchzumachen hatte, waren nur geeignet, die hoffnungslosen Stimmungen zu vermehren.

Im Sommer 1835 sollte ich noch die große Freude haben, meinen teuren Maydell wieder bei mir zu sehen. Er wohnte eine Woche bei uns, und das Burglehnhaus samt meiner ganzen bescheidenen Häuslichkeit, meine Arbeiten, Frau Gustel und die Kinder, und die ganze romantische Umgebung, alles war so ganz nach seinem Herzen, daß er mich darob glücklich preisen mußte!

Freilich, wenn ich bedachte, in welcher Abgeschiedenheit von künstlerischem Verkehr der Freund in Dorpat lebte, so mußten meine Klagen verstummen. Kunstbedürfnisse wie Künstler fanden sich in seiner nordischen Heimat nur sparsam vor. Die Porträtmalerei war nicht seine Neigung, ebensowenig der Zeichenunterricht für Dilettanten, die einzigen Tätigkeiten, die in solchen Verhältnissen gewöhnlich übrig bleiben. Traten aber wirklich künstlerische Aufgaben an ihn heran, sie mochten noch so verschiedenartig und die dazu erforderliche Technik eine ihm bisher fremde, ungeübte sein – er übernahm sie mit Freuden und überwand die dadurch erwachsenen Schwierigkeiten mit einer bewundernswerten Fügsamkeit.

So hatte er außer einem großen Altarbild in Reval und einem kleinen für eine Dorfkirche zwei Apostelfiguren in Ton modelliert, einen im gotischen Stil geschnitzten Altar und Kanzel samt Taufstein nach seinen Entwürfen ausführen lassen. Ja er fertigte sogar eine Marmorbüste für die Universität Dorpat, das Bildnis eines ihrer hervorragenden Gelehrten. Für die livische Ritterschaft malte er die Adelsmatrikel mit der Darstellung eines Turniers in Deckfarben, ja er arbeitete einen silbernen Bücherdeckel in getriebener Arbeit aus. Das Hohe Lied Salomonis illustrierte er in vielen Blättern mit Miniaturen, welches Werk die Kaiserin von Rußland erwarb. Außerdem radierte er verschiedene seiner Kompositionen auf Kupfer, z.B. ein geistreich erfundenes Blatt mit Arabesken: die Kirche Christi, mit dem Text: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.« Ferner ein Blatt mit den drei Gleichnissen vom verlorenen Sohn, zur Rechten[317] und Linken: das verlorene Schaf und der verlorene Groschen, über dem Ganzen in der Bogeneinfassung ein Engelchor mit der Inschrift: »Also wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut.« Dergleichen sinnreiche Zusammenstellungen hatte er noch eine große Anzahl komponiert; leider wurden sie nicht in Kupfer ausgeführt. Noch später schrieb er eine Geschichte des livländischen Adels nach den Chroniken und gab dies Werk in Heften mit vielen Radierungen heraus, ebenso eine Reihenfolge dergleichen zu Fouqués Undine. Zwei kleine, von ihm selbst lithographierte Bildchen enthalten höchst charakteristische und mit Humor erfaßte Tiergestalten zu Kryloffs Fabeln. Obgleich vor Grandville und Kaulbach gemacht, stehen sie ihnen ebenbürtig zur Seite.

Zu all diesen verschiedenartigsten Arbeiten kam noch dazu, daß er auch den Holzschnitt, welcher in England, Frankreich und zuletzt auch in Deutschland sich mehr und mehr ausbildete, ins Auge faßte und anfing zu kultivieren.

Zu diesem Zweck hatte er einen jungen, anstelligen Burschen in der Technik desselben einzuüben gesucht und ließ ihn seine auf Holz ausgeführten Zeichnungen schneiden. In Berlin hatte sich Maydell deshalb mehrere Wochen aufgehalten, um bei Unzelmann und anderen mehr Einsicht über das neue technische Verfahren in dieser Kunst zu gewinnen.

Bei seiner reichen Phantasie, seiner nach den verschiedensten Richtungen hin produktiven Kraft konnte er allerdings den wechselnden Anforderungen genügen, die an ihn herantraten, allein sie brachten auch den Nachteil, daß seine reichen Kräfte sich zersplitterten, und hinderten ihn, in allen diesen schönen Dingen die gewünschte Meisterschaft zu erlangen; es mußte an ihnen etwas Dilettantisches hängen bleiben. Allein er tat, was unter den gegebenen Verhältnissen möglich war, und tat es stets in einer ernsten, würdigen Weise. Schwerlich hätte ein anderer an seiner Stelle mehr leisten können und keiner in einem reineren Sinne. Er äußerte einst: Gott habe ihn immer wieder auf ein Schülerbänkchen gesetzt, wenn er in einer Klasse es auf den Punkt gebracht hätte, zu den ersten zu kommen.

Nach Verlauf dieser reich gesegneten Woche begleitete ich Maydell noch einige Tage nach Dresden, wo die Schätze der Gemäldegalerie[318] reichen Stoff darboten, unsere künstlerischen Ansichten und Meinungen auszutauschen. An den Abenden waren wir dann mit den Freunden und Bekannten beisammen, zu welchen sich in letzter Zeit noch der alte liebenswürdige Staatsrat Aderkas aus Dorpat und Baron Yxküll, ein Landsmann Maydells, gesellt hatten.

Bald nach Maydells Abreise erneuerte sich das Gerücht von einer bevorstehenden Aufhebung der Zeichenschule, und mit Furcht und Hoffnung sah ich der Bestätigung desselben entgegen. Denn obwohl ich es schmerzlich empfand, daß ich in meiner isolierten und herabgedrückten Stellung auf die Dauer nicht gedeihen, das künstlerische Streben zu keiner freien Entwicklung gelangen konnte, so glaubte ich doch nicht, eine Stellung eigenmächtig aufgeben zu dürfen, die mir durch Gottes Fügung ohne mein Dazutun in die Hände gegeben war. Jetzt nun zeigte sich unerwartet eine mögliche Lösung dieses Verhältnisses und steigerte mein Verlangen danach auf das höchste. Ich fühlte, es sei Zeit, in ein anderes Fahrwasser zu kommen, wo ein vollerer Luftstrom sich in die Segel legen könne.

Späterhin erkannte ich freilich wohl, daß diese Abgezogenheit von allem Zerstreuenden auch ihr Gutes gehabt hatte; denn jene Lebenseindrücke, welche ich in Rom empfangen, konnten, fremden Einflüssen wenig ausgesetzt, tiefere Wurzeln schlagen und sich selbständiger entwickeln. Ich dachte (oder phantasierte vielmehr) und schrieb nieder, was mir über Kunst und Glauben in den Sinn kam, um mir selbst dadurch mehr Klarheit zu verschaffen. Bücher standen mir wenig zu Gebote, und bezüglich der Kunst waren immer noch Schlegels »Über christliche Kunst« und Rumohrs Einleitung in seine »Italienischen Forschungen«, einige Aufsätze von Goethe samt ein paar kleinen Büchlein von Kestner und Passavant mein Hausschatz und Evangelium. Auch späterhin habe ich verhältnismäßig wenig über Kunst gelesen, und erst, als ich im Schaffen nachlassen mußte, erfreute ich mich an so manchem Trefflichen, was inzwischen Kunstgeschichtsschreiber zutage gefördert hatten.

Mehr als in Kunstschriften studierte ich in den Werken der Künstler selbst und suchte da Förderung und »Erbauung« im eigentlichen Sinne des Wortes. Dasselbe war der Fall beim Lesen der großen Dichter. Was über sie geschrieben worden war, kannte ich[319] wenig oder gar nicht, aber durch ihre Werke fühlte ich mich beflügelt, auf ihre Höhen emporgehoben, im Anschauen und Nachempfinden des Schönen und Guten, was ich bei ihnen fand, aufs innigste beglückt und zur Begeisterung fortgerissen.

Ein Sprichwort lautet: »Sage mir, mit wem du umgehst, so will ich dir sagen, wer du bist.« Dies kann man wohl im allgemeinen auch auf Bücher und besonders in Beziehung auf seine Lieblingsschriftsteller anwenden, und so will ich hier sogleich zur Charakterisierung meiner Sinnesweise in religiösen Dingen diejenigen Bücher nennen, mit denen ich mich sympathisch verbunden fühlte, und die mir wie liebe Herzensfreunde stets zur Seite lagen.

Das erste war selbstverständlich die Heilige Schrift, die ich in der schönen Friedrich von Meyerschen Ausgabe von meiner Frau als Weihnachtsgeschenk erhalten hatte, und welche durch Einleitung und kurze Noten einem genaueren Verständnis zu Hilfe kam. Außer dieser aber waren Thomas von Kempen, Claudius und G. H. v. Schubert meine Freunde, Lehrer und Führer. Von dem ersteren sagt ja der große Leibniz: »Die Nachfolge Jesu Christi ist eines der vortrefflichsten Werke, die je sind geschrieben worden. Selig, wer nach dem Inhalt dieses Buches lebt und sich nicht damit begnügt, das Buch nur zu bewundern.« Berthold hatte die Übersetzung mit den einleitenden Aufsätzen und reichen Anmerkungen des J. M. Sailer zufällig in die Hände bekommen, und entzückt von derselben schrieb er mir davon und riet, dieselbe anzuschaffen. Als eine kleine Probe dieser Einleitung schrieb er die Stelle ab:

»Der einst der horchenden Lydia das Herz aufgeschlossen, daß sie verstehen konnte, was sie hörte, der schließe auch uns das Herz auf, daß wir verstehen, was wir lesen, und in uns selbst erfahren, was uns der Buchstabe außer uns von Wahrheit, Reinheit und Friede erzählet.

Denn das ist es, was wir eigentlich suchen, und was wir nur durch Christum finden können:

Wahrheit,

Reinheit,

Friede.

Wahrheit durch Ihn, denn Er ist das Wort Gottes; Reinheit durch Ihn, denn Er ist das Lamm Gottes, das die Sünden der[320] Welt hinwegnimmt; Friede durch Ihn, denn Er ist das Heil der Welt, Er sendet Friede und Freude im Heiligen Geiste!«

Dieser »Sailersche Kempis« ist mir immer der klare, treue Freund und Ratgeber gewesen, welcher nach manchen Zerstreuungen des Tages mich innerlich wieder sammelte, und wenn ich müde und matt wurde, mich aufrichtete und mit einem Becher Wassers erfrischte, was aus jenem Brunnen kam, der in das ewige Leben fließt, woher es auch stammt. Ein anderer Hausfreund, dessen Wert mir mit der Zeit nur gestiegen, ist der schlichte, treuherzige und humoristische Claudius, voll Ernst und tiefen Sinnes, so recht das Bild eines deutschen Mannes und Christen. Verse hat er zwar nicht viel gemacht, und die wenigen sind nicht alle gleichen Wertes. Wer aber das mir besonders liebe Abendlied (»Der Mond ist aufgegangen«), »Die Sternseherin Liese«, »Das Hochzeitlied«, »Christine« und noch manches andere schaffen konnte, ist gewiß ein wahrer Dichter!

Der dritte dieser Hausfreunde war der liebenswürdige G. H. v. Schubert, mit dem ich späterhin persönlich öfter verkehrte. Sein »Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde«, besonders der erste Teil desselben, übte eine tiefe Wirkung in den weitesten Kreisen. Gerade bei dieser kühlen Temperatur des herrschenden Rationalismus war es kein Wunder, daß die Sprache des Herzens, des Lebens und der eigenen Erfahrung wie ein warmer Frühlingsregen, welcher über das Land zieht, unzählige Lebenskeime weckte und fruchtbar machte. Schubert hat durch seine Schriften wie durch persönlichen, ausgebreiteten Verkehr unendlich segensreich gewirkt. Sein reiches Wissen, die Milde und Weitherzigkeit, verbunden mit der Heiterkeit seines Gemütes, zogen auch solche an, die nicht ganz seines Sinnes waren. Überhaupt hatten sich die konfessionellen Gegensätze noch gar nicht so zugespitzt, wie es bald darauf der Fall wurde; vielmehr lebte man in einer Strömung, wo alle innerlich lebendigen Christen, Katholiken wie Protestanten, sich über den aufgerichteten Zaun hinüber freundschaftlich die Hände reichten, und zwar nicht sowohl aus kühler Toleranz, sondern aus dem Gefühl des innigen Einsseins mit dem einen, dem Heiland und Erlöser aller. Man brauchte in dieser Beziehung oft das Bild oder Gleichnis eines[321] Heeres, dessen Truppen, obwohl einer Fahne folgend, doch verschiedene Uniformen tragen.

So gab es für mich allein den Begriff der unsichtbaren Kirche, nach dem Liede:


»Die Seelen all, die Er erneut,

Sind, was wir heil'ge Kirche nennen«,


während für mich die äußere Kirche wenig Interesse hatte. Zur österlichen Zeit ging ich nach Dresden zum Empfang des heiligen Abendmahls, und in Meißen hörte ich zuweilen eine Predigt im Dom oder St. Afra, bei welcher ich aber selten die Erbauung fand, die ich suchte.


So kam der Herbst heran und brachte das von mir sehnlichst herbeigewünschte Reskript der Regierung, wonach die Zeichenschule aufgehoben und am 24. Dezember zu schließen sei. Somit war ich bis auf weiteres mit einem sogenannten Wartegeld von hundertundvierzig Talern des Dienstes enthoben. Trotz mancher Sorgen und fortdauernder Kränklichkeit fühlte ich mich jetzt glücklich in der Hoffnung, recht bald vom Druck einer wie Blei auf mir lastenden Atmosphäre befreit, in ein befreundetes, frischeres Element zu kommen.

So zog ich denn im Frühjahr 1836 – sobald die ersten Lerchen schwirrten – mit Weib und Kindern und allen Habseligkeiten wieder in die Vaterstadt Dresden ein, zur großen Freude meiner Freunde.

Auffallend war, daß mich von da an alle die Krankheiten, die mich alljährlich heimsuchten, für lange Jahre verließen und eine sehr regsame, tätige Periode eintrat. Die letzten Jahre, die ich in Meißen zubrachte, hatten mich körperlich so herabgebracht, daß ich an ein frühes Ende glauben mußte.

Quelle:
Richter, Ludwig: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Berlin [1923], S. 290-322.
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Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

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