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Das muß ein erbärmliches Leben sein, welches auch nicht einen einzigen fesselnden Augenblick enthielte und ein trostloses Dasein, aus welchem sich auch gar nichts Gutes lernen ließe. Wenn ein bunter Wechsel der Ereignisse einen Lebenslauf anziehend gestaltet, dann darf ich hoffen, daß die Erzählung meines Lebens wohl der Mitteilung wert sei. Wenige Zeitgenossen haben ein so wunderbar verschlungenes Schicksal erfahren und so viele Wandlungen durchgemacht, wie ich. Als Österreicher bin ich geboren, als guter Deutscher beschließe ich mein Leben; als Katholik bin ich getauft, als ehrlicher Protestant, wenn auch nicht als rechtgläubiger evangelischer Christ, sterbe ich; eine slavische Mundart war meine Muttersprache, in der Geschichte der deutschen Wissenschaft hoffe ich ein kleines Plätzchen mir erobert zu haben. Ein dreifacher Renegat also, der Religion, Sprache und Nationalität gewechselt und verraten hat, werden meine Feinde sagen. Den einen und den andern Vorwurf haben sie mir auch oft genug grob in das Gesicht geschleudert. Und dennoch ging alles ganz einfach und natürlich zu, ohne Berechnung, ich möchte beinahe[1] sagen, ohne lange Überlegung. Ich wurde wie durch eine Naturgewalt ein Deutscher; dies faßt alle meine Lebenswand lungen in sich. Ich fühlte keinen Schritt, den ich that, in seinem gewaltsamen Gegensatz zu früheren Zuständen, sondern sah in jedem eine notwendige Stufe in meiner Entwickelung, und ich bereue daher meinen Lebensgang auch nicht im geringsten. Wie ich ein Deutscher wurde, will ich den jüngeren Freunden erzählen.
Bei meiner Geburt lag die prächtige, alte Königstadt an der Moldau, das hunderttürmige Prag, mir zu Füßen. Seine czechischen Einwohner haben sich nachmals durch grimmigen Haß für diese Demütigung gerächt. – Und doch kam ich ganz unschuldig zu dieser hohen Geburt. Mein Elternhaus stand oben auf dem höchsten Punkte der Stadt. Wenn man von der alten steinernen Moldaubrücke, der schönsten in Mitteleuropa, den Blick auf das linke Ufer lenkt, so sieht man einen breiten Bergrücken mächtig emporragen, auf welchem rechts das königliche Schloß und der Dom sich erheben, links aus dem dichten Grün des Abhangs ein kleines Kirchlein, dem heiligen Laurentius geweiht, herausguckt. Die Mitte nimmt in langgestreckter Linie ein Klosterbau ein. Im Bereiche des Klosters, eines Prämonstratenserstiftes, das den Namen Strahof führt, wurde ich am 13. Juli 1825 geboren. Mein Vater stand als Klosterbräuer im unmittelbaren Dienste des Stiftes. Wie[2] er zu diesem Dienst gekommen war, über seine Herkunft und Vergangenheit ist mir nichts Sicheres bekannt. Es klingt mir nur dumpf die Sage in den Ohren, daß unsere Familie seit undenklichen Zeiten in dem Stadtteil, in welchem das Kloster liegt, auf dem Hradschin angesiedelt, ehemals bessere Tage gekannt hatte, allmählich aber im Vermögen und im Ansehen herabgekommen war. Dies letztere ist gewiß. Alle meine Verwandten väterlicher Seite waren kleine Leute, Handwerker und Krämer, oder Klosterdiener. An einen alten Klosterpförtner und einen noch älteren »Tafeldecker« des Abtes als wertgeschätzte Vettern erinnere ich mich noch ziemlich deutlich, am dunkelsten an meine Eltern. Mein Vater war der erste, welcher die Familie wieder etwas in die Höhe brachte. Er starb aber im rüstigsten Alter, wenige Wochen nach meiner Mutter, wie die Leute sagten, aus Gram über den Verlust der schönen, viel jüngeren Frau, noch ehe er seinen Wohlstand befestigt hatte. Wir blieben vier Kinder zurück. Die beiden jüngsten wurden zu fernen Verwandten gegeben und starben nach wenigen Monaten; mich, der ich gerade fünf Jahre zählte, und meinen um sieben Jahre ältern Bruder nahm der nächste Hausnachbar, unser Pate, der Verwalter des Klostergutes, zu sich. Der Mann mit dem schier unaussprechlichen Namen Gschirhackl zeichnete sich nicht durch besondere Freundlichkeit aus, die Frau lebte nur in der Küche und für die Hauswirtschaft; sie waren aber im Grunde kreuzbrave Leute, die für unser materielles Wohl ehrlich sorgten. Im Kreise ihrer Kinder waren wir sein Jahren heimisch[3] gewesen, und was für uns das Wichtigste war, wir blieben in derselben Umgebung und lebten unter denselben Verhältnissen weiter wie im elterlichen Hause. Wir wurden in keine fremde Welt, wie meine armen jüngsten Geschwister, verpflanzt und dankten es gewiß diesem Beharren im alten Lebensboden, daß wir nicht wie diese verdorrten, sondern gesund weitersproßten. Von meiner Geburt bis zu meinem zwölften Jahre blieb ich mit dem Kloster Strahof fest verbunden und lebte, ohne es zu wissen, ein Stück echten und rechten Mittelalters durch.
Das Kloster bildete ein fest abgeschlossenes Gemeinwesen und erschien auch durch seine räumliche Abgrenzung als eine besondere Welt. Ein Weinberg und ein mächtiger, damals gänzlich verwilderter Garten, der unmittelbar an die Stadtmauer stieß, schloß dasselbe beinahe von allen Seiten ein; ein schmales Treppenpförtchen und ein größeres, mit der Statue des hl. Norbertus geschmücktes Thor, beide in der Nacht stets versperrt, gewährten zu dem Klosterbezirke den Zugang. Hatte man das Thor durchschritten, so kam man auf den weiten äußern Klosterplatz. Rechts hatten der Schmied und der Böttcher ihre Werkstätten, hinter welchen sich der stattliche Meierhof mit Scheunen, Stallungen und noch vielen anderen Wirtschaftsgebäuden ausbreitete. Linker Hand, neben einer kleinen, unter Kaiser Josef aufgehobenen Kirche, die allen Klosterhandwerkern als Rumpelkammer diente, und stets mit Brettern, Faßdauben, Schmiedeeisen, auch wohl mit Heu und Stroh angefüllt war, befanden sich die Pferdeställe, daran anstoßend das geräumige Bräuhaus[4] und das Amtshaus. Auf dem Platze selbst hantierte im Sommer der Klosterzimmermann und trieben wir »Klosterkinder« unser Wesen, in unserm freien Besitze nur zuweilen durch die vielen Gänse gestört, welche auf dem grünen Anger weideten, oder auch durch den Klosterpförtner gehemmt, der auf höhern Befehl die lärmenden Buben zur Ruhe verweisen mußte. Die Knute (Karbatsche) in seinen Händen sprach deutlich seinen Willen aus und beendigte wenigstens für einige Augenblicke unsern Spieleifer. Die Tiefe des Platzes nahm die Kirche ein, mit welcher der Eingang zum eigentlichen Kloster unmittelbar zusammenhing. Ein großes gewölbtes Thor führte in den inneren Hof, ein kleines Pförtchen in diesem, neben einer uralten Linde, in die sogenannte Klausur. In diesem Hofe reihten sich die Wohnungen der Äbte und jener geistlichen Würdenträger, welche von Amtswegen mit der profanen Welt zu verkehren hatten, wie des Provisors, Küchenmeisters, Musikmeisters, die Gaswohnungen, dann Küche und Keller aneinander. Die Klausur, welche aber in meiner Kindheit durchaus nicht einen streng geschlossenen, den Laien unzugänglichen Raum bedeutete, beherbergte die Mönchsgemeinde und enthielt über einem Kreuzgange die Stuben der »Patres«, sodann in Flügelbauten einen Sommer- und Winterspeisesaal. Beide zeigten reichen, in Farben und Stucco ausgeführten Deckenschmuck, wie denn überhaupt Kirche und Kloster zu den glänzendsten Denkmälern des italienisierenden Barockstiles zählen.
Nahezu hundert Menschen, etwa dreißig bis vierzig Kleriker und mehr als ein halbes Hundert Diener jeder[5] Rangstufe und jeden Alters beiderlei Geschlechts, vom Rentmeister und dessen Schreiber, von dem hochangesehenen Koch und Küfer bis zu Tagelöhnern und Wäscherinnen herab, bewegten sich den Tag über in diesen Räumen. Freunde psychologischer Studien hätten im Kloster mannigfache Anregungen erfahren. Namentlich unter den älteren Geistlichen war der Typus der wunderlichen Heiligen und seltsamen Gesellen reichlich vertreten. Da gab es zunächst den Subprior und Novizenmeister, Pater Johannes. Er stammte aus Sachsen, galt als großer Sprachenkenner und tiefsinniger Theologe. Wie oft hörten wir von ihm erzählen, er sei so gelehrt, daß er darüber wirr im Kopfe geworden wäre. Wir nahmen uns natürlich vor, einer solchen Gefahr sorgfältig aus dem Wege zu gehen. In Wahrheit war Pater Johannes ganz hell von Sinnen, litt nur an einer großen nervösen Reizbarkeit, so daß es in seinem Gesicht fortwährend blitzte und zuckte. Pater Adolf führte je nach der Jahreszeit ein scharf geschiedenes Doppelleben. Im Sommer versah er das Amt eines Bibliothekars, hielt sich den Tag über in dem prächtigen hohen Bibliotheksaale auf, erklärte den häufig anklopfenden Fremden die Schätze der Sammlung, schrieb kleine Aufsätze über die Klostergeschichte und denkwürdige Ordensgenossen. Am 1. Oktober sperrte er regelmäßig die Bibliotheksthüre ab, erst am 1. Mai drehte sich wieder der Schlüssel im Schlosse. Diese ganze Zeit lebte er wie ein Murmeltier in seiner Zelle und ließ sich nur zu den Mahlzeiten und bei wichtigen Kultusakten blicken. Wir behaupteten von ihm, daß er sich die Augen allmählich[6] ausgeschlafen habe. In der That zeigte er in seinen hohen Jahren an ihrer Stelle nur ganz schmale Schlitze. Wie in jedem Kloster, so blühte auch im Stifte Strahof die Freßpflanze. So hießen die Geistlichen, welche jede Thätigkeit verabscheuten und ausschließlich dem Essen sich widmeten. Die teilten den Tag einfach nach den Mahlzeiten ein und benutzten die Zwischenzeit, nur durch leichte körperliche Bewegung den Appetit zu schärfen. Die Strahofer Freßpflanze wurde ein Opfer ihres Berufes. Pater Karl pflegte noch als 70jähriger Greis täglich vor Tisch am offenen Fenster zu wippen. Einmal verlor er das Gleichgewicht und stürzte vom obersten Stock auf den steinigen Gartenweg herab und brach sich das Genick. Der liebenswürdigste Sonderling blieb ohne Zweifel der Singemeister, Pater Gerlach. Wenn ihn nicht zuweilen ein milder Sommerabend in sein kleines Privatgärtchen lockte, oder die Übungen des Sängerchors in Anspruch nahmen, verbrachte er seine ganze Zeit in seiner Zelle. Sie war geräumiger als die anderen. Ein langer Tisch, zu beiden Seiten mit Lagen von Notenpapier bedeckt, zog sich von einem Ende der Stube zum andern. Vor jedem Notenbogen stand ein Stuhl – etwa 6–8 auf jeder Seite – in Manneshöhe aber waren über dem Tische mehrere dünne Stricke wie auf einer Waschbleiche gespannt. Kaum hatte Pater Gerlach die Thür hinter sich geschlossen, so saß er auch schon auf dem ersten Stuhl und begann die blanke Seite des Bogens mit dicken Noten zu füllen. War er mit der Seite zu Ende, so hüpfte er auf den zweiten Stuhl und so fort bis zum letzten Stuhle. Für[7] jede Stimme war ein besonderer Bogen aufgelegt. Hier angelangt, erhob er sich, um die noch nassen Bogen auf die Stricke zu spannen und rückte sodann auf die entgegengesetzte Seite des Tisches, um hier das Werk fortzusetzen. Unterdessen war das erste Notenblatt getrocknet und er konnte auf dem folgenden Blatte die einzelne Stimme fortführen. Verklärt stand er vor dem großen Schrank, welcher seine Arbeiten, große und kleine Messen, Kantaten, Litaneien u.s.w. barg. Zur Aufführung gelangten seine Werke höchst selten. Organist, Geiger und Sänger erklärten, daß die sorgfältigste Vorbereitung unumgänglich nötig wäre, um so schöne Kompositionen würdig zu verkörpern. Da aber der Kirchenfonds für Musikproben kein Geld besaß, so blieb es bei der geschriebenen Musik. Pater Gerlachs Zufriedenheit wurde dadurch nicht gestört. Einmal im Jahre verließ er das Kloster, um unten in der Stadt der Aufführung eines Oratoriums beizuwohnen, das genügte, um ihn für die ganze übrige Zeit frisch zu erhalten.
Auch unter dem Klostergesinde gab es seltsame Käuze. Der seltsamste von allen war unstreitig der Nachtwächter. Jede Nacht durchstreifte er, von zwei bissigen Hunden begleitet, den Klosterbezirk und gab die Stunden auf seinem gellenden Horn an. Jeden Morgen stellte er sich dann zur Verfügung des Pater Küchenmeisters und wanderte in die Stadt, um die Aufträge desselben bei den Kaufleuten und Lieferanten auszuführen. Welche Warenmassen schleppte an Vortagen hoher Feste der gute Mann in seinem riesigen Tragkorbe den Berg hinauf; wie gern hätten wir das[8] Korbtuch gelüftet, um die guten Sachen wenigstens zu sehen, die am folgenden Tage an der Klostertafel verspeist werden sollten. Schweigsam, gewissenhaft waltete er seiner beiden Ämter. So wenig er selbst sprach, so wenig wurde in der Regel von ihm gesprochen. Nur einmal, alle drei bis vier Wochen, tauchte des Nachtwächters Namen in der kleinen Klostergemeinde unheimlich auf: »Der Teufel ist wieder einmal in den armen Nachtwächter gefahren,« flüsterten die Leute sich zu. Der gute Nachtwächter war ein Quartalsäufer, welcher mehrere Wochen lang die strengste Enthaltsamkeit üben konnte, dann aber widerstandslos dem Laster verfiel. Wo und wie er sich bis zur Bewußtlosigkeit vollgetrunken, konnte man nie von ihm erfahren. Der Teufel wäre plötzlich in seinem Magen gesessen, hätte ihn fürchterlich mit Durst geplagt und ihn durch Drohungen gezwungen, Glas auf Glas, Krug auf Krug in seinen Schlund zu gießen. Ein paar Tage nach einem Teufelsüberfall sahen wir den Nachtwächter hohläugig und bleichwangig, ganz zerknirscht, vom weinenden Weibe begleitet, die Klosterpforte betreten. Er machte den Bußgang zum Pater Küchenmeister, klagte sein Elend und bat um Hilfe. Natürlich trug auch in den Augen des Küchenmeisters der Teufel die Hauptschuld. Er wollte auch einmal versuchen, ihn zu bannen. Nachdem er für den Nachtwächter eine Privatmesse gelesen, mahnte er in eindringlichen Worten den Teufel, doch von seinem bösen Spiel abzulassen und exorcisierte ihn feierlichst. Getröstet und gekräftigt zog der Nachtwächter von dannen. Solange ich aber im Klosterbezirke weilte, hörte ich nicht,[9] daß der Teufel von seinem Irrtum, den Magen des Nachtwächters für ein Wirtshaus zu halten, abgekommen wäre.
Es fehlte nicht an buntem Leben, nicht an heitern Scenen, auch nicht an einem gewissen höfischen Prunke. Denn das Kloster war nicht etwa von schmutzigen Bettelmönchen bevölkert, die von den Wohlthaten anderer lebten und wenigstens äußerlich den Schein der Armut und strengen Entsagung festhielten, sondern von schmucken Chorherren, Kanonikern, bewohnt, welche sich eines reichen Grundbesitzes erfreuten, an keine strenge Regel gebunden waren und selbst den linden Zwang der Regel des heiligen Augustinus abzustreifen gelernt hatten. An der Spitze der Klostergemeinde stand mit unumschränkter Gewalt der Abt oder Prälat, einer der wichtigsten Magnaten des ganzen böhmischen Landes und in der Hierarchie gleich hinter den Bischöfen kommend, deren Insignien und Gewänder er auch trug. Er besaß die Gewalt eines kleinen Dynasten und trat auch mit dem Glanze eines vornehmen Herrn auf. Seiner unmittelbaren Gemeinde brauchte er sich nicht zu schämen. Wenn die Chorherren in ihren schneeweißen Gewändern, über welchen sie an Festtagen kurze Pelzmäntel trugen, in langer Prozession durch die Kirche schritten, am Schlusse der stattlichen Reihe unter dem Thronhimmel der Prälat, von seinen Beamten und Bedienten (auch der Jäger und Büchsenspanner fehlten nicht) umgeben, so konnte man wähnen, einem fürstlichen Aufzuge und nicht einem geistlichen Bittgange beizuwohnen.
Kirche und Kloster waren mir bis zum dunkelsten Winkel wohlbekannt. Nur zur Erntezeit fesselte mich das freie Feld[10] mehr als die Hallen des Klosters und der Kirche trotz ihrer angenehmen Kühle. Ich lebte ja in der Familie des Gutsverwalters, sah, wie ihn die Erntesorgen vollständig in Anspruch nahmen, hörte viele Wochen täglich keine andere Rede, als vom guten und schlechten Ertrag der Ernte. Da wäre es seltsam zugegangen, wenn nicht auch mich und meine Kameraden die Landwirtschaft beschäftigt hätte. Bot sie doch eine so unterhaltende Abwechslung und gab sie einige Zeit unsern Spielen eine neue Richtung. Die Felder des Klostergutes streiften bis nahe an das Stadtthor, an welches der Klosterbezirk unmittelbar grenzte. Wenige Schritte brachten uns schon in die Mitte der singenden Schnitter. Und wenn auch einzelne Felder ferner lagen, so durften wir auf einen leeren Erntewagen rechnen, der uns willig aufnahm und auf das Feld brachte. Munter tummelten wir uns zwischen den Garben. Aufgetürmt dienten sie als Wälle, die zur Erstürmung lockten; im Halbkreise aufgestellt, wurden sie als Haus benutzt; auch zu Höhlen ließen sie sich, wenn wir vorsichtig einzelne untere Garben herauszogen, verwerten. Da wir als Hausgenossen des Verwalters zu den privilegierten Wesen zählten, so wurde uns mancher Unfug nachgesehen. Daß wir es nicht zu arg trieben, dafür sorgten schon die Hitze und der Sonnenbrand. Sie lehrten uns, die Wonne des reinen Faullenzens bis zum Grunde auskosten. Das Feld war meine Sommerheimat, sonst aber weilte ich in freier Stunde am liebsten im Kloster; nicht im Klostergarten allein, dem natürlichen Schauplatze unserer Räuber- und Soldatenspiele,[11] sondern auch in den Zellen, wo ich manche Gönner zählte und namentlich in der Kirche selbst. Bei keinem Kirchenfeste, bei keinem feierlichen Gottesdienste fehlte ich. Dem Rufe der großen Glocken folgte ich wahrscheinlich viel pünktlicher als die Mehrzahl der Geistlichen. Mein Platz war entweder auf dem Musikchore, wo ich mich gern bereit finden ließ, die Bälge der Orgel zu treten, oder in der unmittelbaren Nähe des Hauptaltars, mitten unter den Klerikern, welche im Chorgestühl saßen. Zeuge aller Kultushandlungen, verschaffte ich mir bald eine genaue Kenntnis selbst der Details, wie sie sonst nur Küster zu erwerben pflegen. Ich betrachtete mich als zum Handwerke gehörig, wußte genau, wenn die Glocke angeschlagen, das Rauchfaß geschwenkt, die Monstranz erhoben werden müsse, und konnte ich auch die Gebete nicht mitsingen und mitsprechen, so verstand ich doch den Tonfall gut nachzuahmen und merkte die Schlußworte aller Responsorien. Diese auf das Einzelne gespannte Aufmerksamkeit und diese intime Kenntnis des ganzen Mechanismus war wohl die Ursache, daß ich nur selten in fromme Andacht versank. In eine erhöhte Stimmung versetzten mich am meisten noch die Vorabende großer Feste. Wenn namentlich an lauen Frühlingsabenden das Geläute aller Glocken in der Stadt – bei der freien und hohen Lage des Klosters waren sie alle vernehmlich – an mein Ohr schlug, zuletzt auch die durch ihre Harmonie berühmten großen Glocken der eigenen Kirche in das Konzert einsprangen, und wenn sie verstummt waren, aus der Kirche heraus der getragene Chorgesang und der Orgelklang ertönte,[12] die Bäume rauschten, die Sonne die in der Ferne sichtbaren Berge vergoldete, die große Stadt zu unsern Füßen sich langsam in Schatten hüllte, dann wurden wohl in meiner Seele wunderbare süße Empfindungen wach, die noch jetzt, nach einem halben Jahrhundert, in mir nachzittern. Mächtig ergriff mich auch der Gottesdienst in der Karwoche, namentlich die Lamentationen, die während derselben vier Nachmittage gesungen wurden. Die Kirche war spärlich beleuchtet, keine Kerze brannte am Altare, nur auf einem Gerüst vor demselben waren in Pyramidenform dreizehn brennende Kerzen aufgestellt. Die sorgfältig geübten Gesänge, abwechselnd Soli und Chöre, von den kräftigen Männerstimmen vorgetragen, gingen für mich immer viel zu früh zu Ende. Nach jedem Abschnitt wurde eine Kerze ausgelöscht, am Schlusse der Lamentationen hüllte uns tiefes Dunkel ein. Die Priester versanken in stilles Gebet und verließen leise, einer nach dem andern, die Kirche. Auch mir war dann ganz feierlich zu Mute; kaum wagte ich auszutreten und vollends ein lautes Wort zu sprechen hätte ich für die ärgste Sünde gehalten.
Unbewußt empfing ich von der Klosterkirche auch die ersten Anregungen für meinen späteren Lebensberuf. Der Kern derselben stammte noch aus dem Mittelalter; den wahren Charakter empfing sie aber erst im vorigen Jahrhundert, in welchem sie einer vollständigen Restauration unterzogen war. Die zahlreichen Altäre prunkten in buntfarbigem Marmor, die Statuen in reicher Vergoldung. Den größten Reiz übte auf mich aber das mit Fresken bedeckte[13] Gewölbe des Mittelschiffes. Als ich nach vielen, vielen Jahren wieder einmal meine Geburtsstätte besuchte, erschrak ich über die rohe Manier, die grelle Färbung, die gereckten und gezerrten Figuren. Der Barockstil in seiner schlimmsten Ausartung trat mir entgegen. Als Kind war ich nicht so kritisch gesinnt. Ich konnte stundenlang die Bilder betrachten, an den, wie mir schien, wunderschön gefärbten Figuren mich ergötzen. Daß ich die dargestellten Scenen – Legenden aus dem Leben des heiligen Norbertus – nicht verstand, reizte nur meine Neugierde. Ich legte sie mir nach meinem kindischen Sinne zurecht und phantasierte allerhand Geschichten zusammen. Die Bilderfreude hat mich seitdem nie wieder verlassen.
Der Eintritt in die Schule änderte wenig an meinem Leben. Der Unterricht dauerte nur vier Stunden täglich, die Schule war nur wenige Schritte vom Wohnhaus entfernt. So blieb der Klosterplatz und das Kloster noch immer meine eigentliche Heimat. Lesen und Schreiben hatte mich der älteste Sohn meines Pflegevaters gelehrt, und so durfte ich, obgleich erst sechs Jahre alt, gleich in eine höhere Klasse eintreten. Nach einem Jahre wurde ich schon in die oberste versetzt, hier mußte ich aber drei Jahre ausharren, bis ich das für das Gymnasium vorgeschriebene Alter erreichte. Der Unterricht in der Volksschule wurde selbstverständlich in deutscher Sprache erteilt. Wir Kinder sprachen wohl mit den Dienstboten, den Knechten, den Bauern böhmisch, schimpften auch, wenn wir uns mit Straßenjungen rauften, böhmisch aufeinander. Die Möglichkeit[14] böhmischen Schulunterrichts fiel uns aber auch nicht im Traume ein. Wir sahen keine böhmischen Bücher und glaubten nichts anderes, als daß Lesen und Rechnen und vollends die höheren Wissenschaften, wie Sprachlehre und Rechtschreibung, nur in der deutschen Sprache erlernt werden könnten. Die kleinbürgerlichen Kreise, in welchen ich groß wuchs, dachten nicht anders und fühlten sich ganz wohl dabei. Unser Lehrer, obschon von Geburt ein Slave, hielt streng darauf, daß wir uns einer reinen deutschen Sprache beflissen. Über die Reinheit hatte er freilich sonderbare Vorstellungen. Er meinte, das reine Deutsch müsse sich von dem gewöhnlichen, das wir zu Hause sprachen, dadurch unterscheiden, daß überall das O und A vertauscht werde. Er mahnte uns daher hochdeutsch zu reden und verbot uns bloßfüßig zur Schule zu kommen. Er schnupfte Tobak und trank Koffee.
Einen schärferen Einschnitt in mein Leben machte der Übergang in das Gymnasium. Nun galt es täglich zweimal den weiten Weg von dem Berge, auf welchem das Stift und unser Haus lag, herab bis in den untern Stadtteil, die Kleinseite, zu wandern. Wir mußten einen langen windigen Hohlweg passieren, an mehreren scharfen Ecken vorbei, welche selbst an ruhigen Tagen einer abscheulichen Zugluft uns aussetzten. Eine stattliche Schar von Jungen zog mit mir zugleich den Weg; nach wenigen Jahren waren fast alle an einer Brustkrankheit gestorben. Auch ich hätte dieses Los wahrscheinlich geteilt, wenn nicht bald nach Beginn meiner Gymnasialstudien der alte Gschirhackl gestorben und[15] die Witwe, mit Recht um das Schicksal ihrer Söhne besorgt, in den untern Stadtteil gezogen wäre. Zwei erwachsene Söhne hatte sie bereits am Blutsturze verloren. Sie wollte wenigstens die anderen retten. Leider zu spät. Auch die beiden jüngsten Söhne, prächtige Jünglinge, zu denen ich wie zu Idealen emporblickte, starben rasch nacheinander an derselben Krankheit, noch vor der armen Mutter.
Die ersten vier Jahre meiner Gymnasialzeit lebte ich ziemlich freudenlos. Die österreichischen Gymnasien zerfielen damals in zwei Kurse, einen vierjährigen Grammatikal- und einen zweijährigen Humanitätskursus. Fachlehrer gab es nicht. Unter einem Klassenlehrer machte man den niedern Kursus durch und bekam erst bei dem Eintritt in die sogenannte Humanitätsklasse einen andern Lehrer. Nun wollte es mein Unglück, daß ich als ersten Klassenlehrer einen griesgrämigen, kränklichen, seinem Berufe gar nicht gewachsenen Mann empfing, welcher uns Jungen anzuregen, weder Lust noch Fähigkeit besaß. Er war ursprünglich ein Arzt, fand als solcher keine Beschäftigung und bekam, von irgend einem einflußreichen Protektor begünstigt, eine Lehrerstelle am Gymnasium. Schon die vorgeschriebenen Schulbücher, magere Chrestomathieen, boten einen geringen Bildungsstoff, aber selbst diesen empfingen wir nicht ungeschmälert. Unser Lehrer lebte in dem Wahne, daß das Studium der Klassiker uns weniger fromme, als die Lektüre der Neulateiner. Und so plagte er uns weidlich mit Muret und wie die langweiligen Epigonen des Erasmus sonst heißen mögen, ließ uns salbungsvolle lateinische Dialoge[16] aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ohne Ende übersetzen und memorieren und trieb uns die Lust am Lateinstudium gründlich aus. Auf mich, der ich frühzeitig einen argen Hang zur Zersplitterung besaß, übte diese Unterrichtsweise einen besonders schlechten Einfluß. Sie lähmte meinen Ehrgeiz, machte mich in der Schule stumpf und zerstreut. Zum Glück, daß es wenigstens einen Lehrgegenstand gab, der mich stärker fesselte und zu eifrigem Lernen anspornte – die Geschichte.
Seit meiner Kindheit war ich von einer unersättlichen Lesewut ergriffen. Ich konnte kein Buch sehen, mochte der Inhalt auch noch so fremdartig und für mein Alter unpassend sein, ohne es vom Anfang bis zum Ende gierig zu verschlingen. Obgleich meine Umgebung durchaus nicht litterarische Interessen pflegte, so fand dennoch mein Lesetrieb die reichste Nahrung. Da besaß zunächst der alte Gschirhackl eine kleine Büchersammlung, welche er, der Himmel weiß, wie – wahrscheinlich als Erbe von Klostergeistlichen – im Laufe der Jahre zusammengebracht hatte. Sie befand sich in einer kleinen unheizbaren Stube am Ende der Wohnung und konnte ohne Gefahr einer Störung, aber mit der Gefahr, im Winter Nase und Hände zu erfrieren, durchstöbert werden. Zieglers und Houwalds Dramen, eine Anthologie aus deutschen Dichtern und namentlich Hufelands Makrobiotik leben noch am deutlichsten in meiner Erinnerung. Wie ich dummer Junge dazu kam, Hufelands Buch nicht bloß zu lesen, sondern auch zu excerpieren, begreife ich jetzt nicht. Denn, daß ich nichts vom Inhalt verstand, brauche[17] ich nicht zu versichern. Wahrscheinlich hatte einer der älteren Haussöhne das Buch gelobt, und da mußte mein Vorwitz natürlich auch die Nase hineinstecken. Zum Glück war ich noch zu klein, als daß der unverdaute Inhalt dieser Bücher mir einen größern Schaden zufügen konnte. Wichtiger wurde für meine späteren Neigungen die Bekanntschaft mit Zeitungen, welche ich gleichfalls schon in meinen Kinderjahren machte. Von Amtswegen wurde im Hause Gschirhackls die Prager Zeitung gehalten, aus derselben mittags vom Amtsschreiber, was sie Interessantes darbot, laut vorgelesen. Damals wütete gerade der Karlistenkrieg. In endloser Reihe folgten in der natürlich streng legitimistischen Zeitung die Berichte über die Siege der Karlisten. Von der Stellung der kämpfenden Parteien hatte ich keine Vorstellung. Immerhin übten die Schlachtenschilderungen und die Beschreibung der kühnen Züge Zumalacarreguys, Cabreras einen großen Eindruck auf meine Phantasie und weckten die Lust an historischen Darstellungen. Sie steigerte sich, als mein Bruder und ich aus dem Nachlaß eines Onkels etwa fünfzig Bände vorwiegend populär historischen Inhalts erhielten, in welchen ich mich bald ganz heimisch machte. Geringern Nutzen schöpften wir aus einem andern, viel größern Büchergeschenk. Eine alte reiche Tante war gestorben, als deren allein berechtigte Erben wir galten. Mit dem Rechtstitel muß es aber doch einen Haken gehabt haben, denn nicht wir erbten Haus und Hof, sondern ein alter Hausfreund, ein Justiziar seines Amtes. Als Ersatz für die verlorene Erbschaft schenkte er uns eine ganze Karre[18] voll Bücher aus dem vorigen Jahrhundert, in welchem er noch seine Studien gemacht hatte. Was für seltsame Autoren lernte ich da kennen! Außer unzähligen Lehrbüchern der alten Jesuitenschulen – wir begnügten uns, dieselben zu katalogisieren – waren Reisebeschreibungen, naturhistorische Werke, namentlich aber auch Schriften aus der Aufklärungsperiode in der Sammlung reich vertreten. Auf die letzteren stürzte ich mich sofort mit leidenschaftlichem Eifer. Ein Buch Horanis über den Papst Pius IV. und den römischen Hof in der Revolutionszeit machte den stärksten Eindruck auf mich. Was ich im Kloster miterlebt und mitangesehen hatte, war eine nur zu gute Vorbereitung für den kirchenfeindlichen Geist, der aus Horani sprach. War ich doch als kleiner Knabe Zeuge gewesen, wie mehrere Kleriker aus Neid und Mißgunst einem Bruder auflauerten, als dieser an einem frühen Morgen sich von einem Rendezvous zurückschlich und unvermerkt über die Mauer des Klostergartens zu klettern versuchte. Hörte ich doch von den Hausgenossen die Liebschaft der Patres, die Zeichen, die sie während des Chorgebetes mit ihren Freundinnen auszutauschen pflegten, offen besprechen, und sah mit eigenen Augen, wie handwerksmäßig, rein mechanisch die Kultushandlungen von vielen vollzogen wurden. Ich nahm Horanis Schilderungen für bare Wahrheit. Wie hätte ich von Tendenz und Parteischriften etwas wissen sollen. Und als in der Schule bald darauf in der Geschichtsstunde die Streitigkeiten zwischen den alten Kaisern und Päpsten behandelt wurden, warf ich mich flugs auf die Seite der ersteren und schrieb ein Blatt[19] Papier voll von Invektiven gegen Gregor VII. Gottlob, daß der Lehrer von diesem ersten litterarischen Versuche nichts erfuhr. Um so mehr bemühte ich mich aber, mein Licht öffentlich leuchten zu lassen, als die österreichische und böhmische Geschichte in der Schule an die Reihe kam. Aus den Büchern eines Exjesuiten, Ignaz Cornova, hatte ich dieselbe in der ausführlichsten Weise kennen gelernt und mir eine genaue Detailkunde verschafft, wie sie kein anderer Schüler besaß. Dieselbe womöglich mit den eigenen Worten meiner Autorität vor dem Lehrer auszubreiten, bildete meinen besondern Stolz. Dadurch versöhnte ich ihn, der sonst über meine Flüchtigkeit im Arbeiten klagte und verhalf mir zu einer bessern Censur.
Eine neue Zeit begann für mich, als ich mit fünfzehn Jahren in den obern Kursus, die Humanitätsklassen, aufstieg. Der neue Klassenlehrer, Wenzel Aloys Swoboda, in der böhmischen Litteratur rühmlich bekannt, sprach verständig, wie wenige, musikalisch gebildet, ein gewandter Verskünstler, verstand er, mich zu fesseln und meinen Ehrgeiz zu wecken. Swoboda war in den Schulkreisen wegen seines leidenschaftlichen Charakters, seiner Herbheit und Strenge arg gefürchtet. Er konnte in der That, namentlich in den Nachmittagsstunden, wenn er ein Glas Wein zuviel getrunken hatte – und das geschah leider an den Prälatentafeln und Klosteressen, zu denen er häufig als witziger Gesellschafter eingeladen wurde, regelmäßig – fürchterlich donnern und poltern. In der Erfindung von Ehrentiteln für denkfaule Schüler war er unerschöpflich.[20] Er setzte sie aus drei, vier Sprachen zusammen und erreichte mit denselben nicht selten die unverhoffte Wirkung, daß die ganze Klasse, das Opfer seines Zornes mit eingeschlossen, in ein schallendes Gelächter ausbrach. Im Grunde war aber der alte Swoboda, wie wir ihn nicht nach seinen Jahren, sondern nach seinem Aussehen nannten, eine harmlose, wohlwollende Natur. Auf zwei Dinge legte er im Unterricht das größte Gewicht. Er verlangte einen fließenden Ausdruck in den lateinischen Aufsätzen und wenigstens ein wohlklingendes Wortgepräge in den lateinischen Versübungen, welche wir abwechselnd in jeder Woche anfertigen mußten. Bei den Interpretationen der Klassiker legte er das größte Gewicht auf die Verbesserung des Textes, von welchem er gewiß mit Recht behauptete, daß unsere Schulausgaben ihn arg verdorben hätten. Mir kamen nun da meine Bücherschätze zu gute. Ein alter Gradus ad Parnassum, ein Wörterbuch der Synonyme, lehrten mich Verse schmieden, ohne meine Phantasie sonderlich anzustrengen. Wie aber Texte ohne Mühe korrigiert werden können, entdeckte ich gleichfalls nach kurzer Frist. Ich besaß eine Reihe älterer Klassikerausgaben, viele Autoren in der, wie ich nachmals erfuhr, geschätzten Zweibrückener (Bipontiner) Edition.
Die Vergleichung der Texte lehrte mich die Unterschiede und Abweichungen kennen. Einmal auf der Spur, hielt es nicht schwer Verbesserungen zu versuchen, zumal es fest stand, daß der Text in der Schulausgabe notwendig der schlechtere sein müsse. Fand ich dennoch Schwierigkeiten, so half ich mir wie Abbé Vogler bei seinen Orgelreparaturen.[21] Dieser warf die Pfeifen, die nicht stimmen wollten, aus dem Werke einfach heraus, »simplificierte« die Orgel. Gerade so simplificierte ich die Texte der Klassiker und warf anstößige Wörter und Verse heraus. Ich war der einzige in der ganzen Klasse, der sich auf diese Art für die Lektionen vorbereitete und gewann mir dadurch die Gunst des Lehrers. Nach wenigen Monaten war ich sein ausgesprochener Liebling. Bald hätte ich mir dadurch die Zuneigung der Mitschüler verscherzt. Swoboda nahm die Gewohnheit an, bei einer schwierigen Stelle erst die ganze Klasse abzufragen, mich für zuletzt aufzusparen, obschon ich auf einer der vordersten Bänke saß. Nervös aufgeregt, fieberisch harrte ich, bis die Reihe endlich an mich kam. Ich hätte mich zu Tode geschämt, wenn ich die Erwartung des Lehrers getäuscht hätte. Da stand er vor mir mit seinem kahlen, dicken Kopfe, auf dem nur spärliche graue Haare flatterten, die Prise in der Hand, die mir in das Gesicht geflogen wäre, hätte ich schlecht geantwortet, mit seinen kleinen Äuglein mich anblinzelnd: »Nun sage es doch den Eseln!« Zum Glück traf ich fast immer das Richtige und wurde mit einem freundlichen Lächeln und dem regelmäßigen Spruche: »Nicht war, Springer, das sind doch Esel?« belohnt. Die Esel hätten alle Ursache gehabt, sich über mich zu ärgern. Ich versöhnte sie aber, indem ich für alle Schwachen und Faulen die Schulaufgaben machte. Dazu hatte ich während der Messe, welche dem täglichen Unterricht in der Gymnasialkapelle voranging, hinreichend Zeit. Die Pause, ehe der Lehrer kam – und Swoboda ließ[22] immer lange auf sich warten, hielt uns dagegen bis zur Mittagsstunde in der Schule – wurde benutzt, Abschriften zu verbreiten und kleine Änderungen an denselben anzubringen, damit ja kein Verdacht gegen den gemeinsamen Verfasser aufkomme. Mir machte es Spaß, in jede Abschrift ein paar Schnitzer zu praktizieren, und so den Schein der Originalität zu retten. Die Schularbeiten ließen auch jetzt mir reiche Muse, meiner Lesegier zu Hause zu fröhnen. Ich schwelgte in den Romanen Walter Scotts und Coopers, nahm aber auch mit Ritterromanen, die in Österreich längere Zeit ein dankbares Publikum fanden, vorlieb. Vollends glücklich fühlte ich mich, als ich nach dem Brockhausschen Konversationslexikon die Hand ausstrecken durfte, welches der Vater eines Schulkameraden besaß und mir lieh. Die historischen und biographischen Artikel las ich von Anfang bis zu Ende durch und sog, ohne es zu wissen, den landläufigen flachen Liberalismus in mich ein, der mich noch lange nachher wie eine Hautkrankheit plagte. Auch litterarische Pläne gingen in meinem Kopfe herum. Daß wir Gymnasialschüler heimlich eine Zeitschrift gründeten, zu welchen ich die historischen Artikel beisteuerte, versteht sich von selbst. Ich hatte aber noch höheres im Sinne. In unserer Büchersammlung befand sich auch Wielands Ausgabe und Übersetzung der Briefe Ciceros. Die ersten Briefe las ich im Original, da mich aber der Inhalt mehr anzog, als die Form und der ciceronianische Stil, so griff ich gar bald zu der gegenüberstehenden Übersetzung. Auf Grundlage dieser Briefe eine Geschichte des Verfalls der römischen[23] Republik zu schreiben, erschien mir ein lobenswertes Unternehmen. Ich excerpierte fleißig, kaufte mir auch schönes Papier und bezifferte die Bogen. Ich glaube aber nicht, daß ich weiterkam als zur Niederschrift des Titels und des gewiß in schwunghafte Phrasen gekleideten Vorwortes. So verlebte ich, immer von meinen Büchern umgeben, trotz äußerer Stille und Öde, innerlich vergnügt und befriedigt, die zwei letzten Jahre meiner Gymnasialzeit. Eine gründliche Vermehrung hatte mein Wissen nicht erfahren. Meine Kenntnis des Griechischen, das auch die schwache Seite Swobodas, wie aller österreichischen Gymnasiallehrer war, blieb mangelhaft, meine Kunde der lateinischen Autoren zeigte große Lücken. Keinen einzigen hatte ich vollständig gelesen. Ich wußte vielerlei, aber nichts recht und vollkommen. Aber meine Denkkraft hatte Swoboda geübt, mich zu kritischen Betrachtungen angespornt und meine Lust am Lernen zur Leidenschaft gesteigert. Das werde ich dem wackern Manne niemals vergessen. Unter Trompeten- und Paukenschall wurde ich am Ende meines Schuljahres als primus omnium verkündet und »munificientia Augustissimi Imperatoris« mit einer Prämie (Vegas Lehrbuch der Mathematik) beschenkt.[24]
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