13. Die letzten Bonner Jahre.

[252] Dahlmanns Tod (1860) schnitt tiefer in das Universitätsleben und auch in mein Schicksal ein, als wir bei seinem hohen Alter und seinem still zurückgezogenen Wandel anfangs vermuteten. Der Universität ging mit ihm ein moralischer Mittelpunkt verloren. Gerade die besten und angesehensten Kräfte horchten willig auf seine Meinung und unterwarfen sich gern seinem Urteil. Selbst fernstehende wurden durch mißfällige Äußerungen des alten Dahlmann peinlich berührt. Seiner Vermittelung war der Ausgleich der Gegensätze, welche ja an keiner Universität fehlen, oft gelungen, seine Autorität hatte nicht selten beginnende Feindschaften an offenem Ausbruch gehindert. Jetzt hatten die Gegensätze ein freieres Spiel. Meiner Frau und mir war aber durch Dahlmanns Tod das Haus verschlossen, in welchem wir unser zweites Heim gefunden, behaglichen Frieden geatmet und doch auch die reichsten Anregungen empfangen hatten. Wollten wir nicht ganz einsam hausen, so mußten wir neue gesellige Beziehungen knüpfen.

Das Bonner Leben erfuhr überhaupt seit dem Anfang[252] der sechziger Jahre mannigfache Änderungen. Die erste und wichtigste war das Eindringen politischer Strömungen in alle Kreise. Wir standen uns wohl auch früher in politischen Gegensätzen, sogar in sehr schroffen, gegenüber. Aber unter der starren Decke der Reaktion war eine kräftigere Bewegung, eine offene Äußerung unmöglich gewesen. Jetzt wurde der Parteibildung freier Raum gegeben. Sybels Berufung an Dahlmanns Stelle brachte namentlich die politischen Interessen in den Vordergrund. Sybel lebte und webte in den parlamentarischen Kämpfen, stand im Landtag mit an der Spitze der Opposition gegen die Roonsche Armeereform und verschaffte natürlich auch in der geselligen Unterhaltung dem politischen Element eine große Geltung. Ein geborener Rheinländer, besaß er noch aus früheren Zeiten zahlreiche Freunde, seine Leutseligkeit und leichte, heitere Natur fügte viele neue hinzu. So bildete sich allmählich um Sybel ein größerer Kreis wesentlich durch verwandte politische Anschauungen verbunden, welchem ein anderer nicht gerade feindselig, aber doch fremd gegenüberstand. Ein anderes örtliches Ereignis erweiterte die Scheidung der Gesellschaft. Nach vielen Jahren war endlich wieder das Amt des Kurators besetzt worden. Bis dahin hatte es immer der zeitige Rektor verwaltet. Die Übelstände eines Jahreswechsels im Kuratorialamte hatten sich längst fühlbar gemacht. In der Verwaltung fehlte jede Stetigkeit; größere Pläne zum Besten der Universität konnten nicht durchgeführt werden, da jeder neue Rektor von der Thätigkeit des Vorgängers absah und selbständig[253] schaffen wollte. Das Ende war, daß das Regiment eines jeden Rektor-Kurators nur durch eine kleine That, die gar oft zum Spotte reizte, verewigt wurde. Der eine schwärmte für »ein hartes, aber bequemes Sopha« im Professorenzimmer. Er hoffte dadurch die Sybariten und Spartaner unter den Professoren zu gewinnen. Der andere säumte alle Wege im Hofgarten mit niedrigen eisernen Stäben ein, welche er, um sie ja recht unkenntlich zu machen, grün anstreichen ließ. Man hörte in den nächsten Tagen nur von Beinbrüchen und Fußverrenkungen. Der Spott siegte nicht über den Ärger vieler Kollegen, daß die Scheinmacht der Rektorwürde durch die Trennung vom Kuratorialamte gekürzt wurde. Der Kurator Wilhelm Beseler, der frühere Statthalter von Schleswig-Holstein, war keine leichtlebige Natur, welche der feindseligen Stimmung einzelner Professorenkreise die Spitze abzubrechen verstand. Man mußte ihm näher kommen, um sein edel vornehmes Wesen zu würdigen. Dem fernerstehenden erschien er kalt und steif. So bildeten sich allmählich zwei Parteien, des ersten Anlasses gewärtig, zu den Waffen zu greifen.

Eine weitere Trennung der früher einheitlichen Gesellschaft in mehrere Gruppen bewirkte endlich das rasche Wachstum der Stadt. Außer englischen Familien, in welchen damals noch nicht die shop-keeper Zunft, sondern die wirklich vornehme gentry vorherrschte, siedelten sich mehrere deutsche Kaufherren in Bonn an. Sie hatten in Elberfeld, in Manchester, New-York fleißig gearbeitet, Vermögen erworben und wollten nun am schönen Rheine die[254] Ruhe genießen. Anfangs verfolgten wir mit bloßer Neugierde den Villenbau auf der Koblenzer Straße. Bald gewannen wir einzelnen Leuten ein größeres Interesse ab. Wenn Dahlmann in den letzten Lebensjahren seinen Spaziergang in der Richtung nach Godesberg einschlug, musterte er gern den Fortgang der Arbeiten. »Ich liebe es, aus der Form und Gestalt der Häuser Schlüsse auf den Charakter der Bewohner zu ziehen.« Ein Landhaus fand sein besonderes Gefallen. »Der Mann, der nach diesem Plan bauen läßt, hat großen Geschmack und Bildung.« Dahlmann täuschte sich nicht. Der Bewohner, aus dem Bergischen zugewandert, wurde nach kurzer Frist stets obenan genannt, wenn die besten Bürger Bonns aufgezählt wurden. Gottlieb Kyllmann, schon in seiner Heimat politisch thätig – er war Mitglied des vereinigten Landtags und 1848 Landrat gewesen – nahm sich auch in Bonn der Gemeindesachen eifrig an, war einflußreich in der Versammlung der Stadtverordneten, tonangebend in der Konzertgesellschaft. Nicht bloß Musikfreund, sondern ein wirklich feiner Musikkenner, schuf er der Kunst in seinem Hause eine überaus behagliche Heimstätte. Regelmäßig veranstaltete er Quartettabende, für welche er die Lehrer des Kölnischen Konservatoriums, an ihrer Spitze als Primgeiger Otto von Königslöw, gewonnen. Kamen hervorragende Künstler durch Bonn, so waren sie selbstverständlich seine Gäste und dankten ihm durch gern gewährte reiche Spenden ihrer Kunst. Er gab dem musikalischen Leben in Bonn einen mächtigen Schwung und führte auch meine Frau und mich in die musikalischen[255] Kreise ein. Die Kyllmannsche Villa, ein vornehm einfacher Bau, trefflich gelungen in den Maßen, musterhaft in der innern Einrichtung, war nur wenige Schritte von unserer Wohnung entfernt. Der Nachbarverkehr verwandelte sich rasch in einen Freundschaftsbund, besonders, seitdem auch Kyllmanns Schwager, Preyer, von Manchester nach Bonn übersiedelte und in unserer unmittelbaren Nähe sich ankaufte. Hier war die Frau das belebende Element, während in Kyllmanns Hause die feuersprühende, rasch begeisterte Natur des Mannes alle mit sich fortriß. Aber gerade durch den Gegensatz zur stillwirkenden feinsinnigen Frau und zu den anmutigen Töchtern, welche bald mehr dem Vater, bald mehr der Mutter nachgeraten waren, leider bald das Elternhaus verließen, kamen in den Verkehr mit Kyllmanns reiche Farben. Wir bildeten schließlich eine große Familie, besuchten gemeinsam die Gürzenichkonzerte in Köln, machten gemeinsam alle Ausflüge und ließen selten einen Tag vorübergehen, an welchem wir uns nicht gesehen oder doch wenigstens voneinander gehört hatten. Der engere Nachbarbund hob den weitern Verkehr nicht auf, lockerte ihn aber doch merklich. Und da ähnliche Freundschaftsgruppen auch in andern Kreisen geschlossen wurden, so empfing die alte gesellige Einheit abermals starke Einbußen.

Erst durch Kyllmann trat ich auch zu Otto Jahn in nähere Beziehungen. So lange Dahlmann lebte, hatten wir uns in dessen Hause öfter getroffen, sonst war aber der Verkehr bei dem namenlosen Studieneifer Jahns, der[256] ihn nur selten vom Schreibtische weichen ließ, meistens auf zufällige Begegnungen beschränkt gewesen. Mit Kyllmann verband Jahn die Musikliebe. Er wurde, gerade so wie wir, der ständige Gast an den Quartettabenden und unser gewöhnlicher Begleiter, wenn wir zu den Gürzenichkonzerten fuhren Eine noch größere Annäherung führten die Vorarbeiten für das Arndtdenkmal herbei. Otto Jahn, Kyllmann und ich waren in den geschäftsführenden Ausschuß gewählt worden und versammelten uns täglich zur Mittagszeit bei dem Schatzmeister des Ausschusses, dem Buchhändler Markus, nebenbei unserm gemeinsamen Freunde und wackern Vertrauten aller unserer Gedanken und Sorgen, um die nötigen Schritte zur Förderung des Werkes zu beraten. Oft zogen sich die Sitzungen in die Länge, so daß Jahn den Mittagstisch in seinem Gasthause darüber versäumte. Da bat ihn bald Kyllmann, bald ich zu Tische. Den Hausfrauen war aber der unerwartete Gast nicht immer bequem. Wir schlugen daher Jahn vor, zumal die Sitzungen immer länger wurden und seine Gesundheit unter der schlechten Wirtshauskost litt, regelmäßig unser Mittagsgast zu werden. Die meisten Tage nahm Kyllmann in Anspruch, der Mittwoch fiel uns zu. Dabei blieb es bis zu Jahns Tode, auch nachdem der erste Anlaß längst nicht mehr bestand. Einen bessern zuverlässigeren Freund als Otto Jahn gab es nicht. Er kannte keinen Unterschied zwischen den eigenen und den Interessen des Freundes. Die ganze Kraft und die ganze Zeit widmete er, wenn es Not that, dem letzteren und empfand wirkliche oder vermeintliche[257] Unbill, die diesem widerfuhr, sogar tiefer, als hätte er sie selbst erduldet. In schweren Tagen stand er uns hilfreich und aufopfernd, wie ein treuer Kamerad zur Seite. Der innige Verkehr enthüllte außerdem Seiten seiner Natur, welche der Fremde niemals in ihm vermutet hätte. Mit Dahlmann teilte er die Eigenschaft, daß er nur im engsten Kreise auftaute. Derselbe Mann, welcher in großer Gesellschaft sich in ein eisiges Schweigen hüllte, als steif, unnahbar galt, konnte an den Kyllmannschen Quartettabenden oder am Familientische eine sprudelnde Beredtsamkeit entfalten. Der angebliche Bücherwurm war geradezu erfinderisch, Frauen zarte Aufmerksamkeiten, Kindern unverhoffte Freuden zu erweisen. Der scheinbar trockene Gelehrte offenbarte im Kreise vertrauter Freunde eine Fülle der feinsten Gedanken, der tiefsten Empfindungen. In seinem Kopfe und seiner Brust war für die verschiedenartigsten Geistesinteressen gleichmäßig Raum, für Vasenbilder und Goethe, für Schleswig-Holstein und Apulejus, für Mozart und Pausanias. Und jede Sache betrieb er mit solcher Gründlichkeit und persönlichen Hingabe, daß man glauben mußte, sie allein fülle sein Leben aus. Otto Jahn war ein Mann von starken Affekten, daher sich Gegensätze leicht bei ihm zu scharfen Fehden zuspitzten. An solchen fehlte es überhaupt in der Zeit von 1860–1866 nicht. Bald führten uns politische Fragen auf den Kampfplatz. Die dänische Gewaltherrschaft in Schleswig-Holstein, das Anrecht des Augustenburgers auf die Regierung wurde in unsern öffentlichen Versammlungen scharf erörtert, wobei[258] Jahn das Hauptwort führte. Bei einer solchen Gelegenheit lernte ich auch die Annehmlichkeit öffentlicher Verlachung kennen. Eine große Bürgerversammlung hatte eine Petition an den Bundestag, er möge die Rechte des Augustenburgers wahren, beschlossen. Ich hielt es nicht für folgerichtig, dem Bundestag, dessen Aufhebung wir sonst erstrebten, zu huldigen. Als es zur Abstimmung über den Antrag kam, erhob ich mich allein gegen denselben. Schallende Gelächter folgte meiner That. Bald entzweiten die Bonner Kreise innere Angelegenheiten der Universität. Am meisten machte der sogenannte Ritschl-Jahnsche Streit von sich reden. »Ein Sturm im Glase Wasser,« meinten viele Fernstehende. Wir aber, welche in denselben hineingezogen wurden, empfanden nur zu sehr die Schädigung der Universität durch ihn und beklagten als Nachhall desselben die bittere Stimmung in der Bonner Gesellschaft. Der Streit wäre anfangs wahrscheinlich beigelegt worden, wenn sich ein Mann von Autorität, welcher das Vertrauen beider Parteien genoß, gefunden hätte, denn in Wahrheit trugen falsche und feige Freunde die Hauptschuld an dem Zwiste. Ein vollständiger Einblick in die Sachlage mußte die persönlichen Verdächtigungen als grundlos enthüllen. Leider gab es keinen solchen Mann. Die Einmischung dritter Personen erhitzte die Kampflust und erweiterte das Streitfeld. Über die Köpfe der ursprünglichen Gegner hinweg wurde der Angriff auf den Kurator und den Minister gerichtet. Beseler besaß viele Feinde nicht allein unter den Professoren, sondern auch unter den höhern Staatsbeamten. Gerüchtweise verlautete,[259] da sich die Verwaltung der Rheinprovinz im Jahre 1859 schwach und kraftlos gezeigt hätte, so wäre Beseler dazu ausersehen, im Falle der Kriegsgefahr als königlicher Kommissar mit außerordentlichen Vollmachten an die Spitze der Provinzialregierung zu treten. Das weckte natürlich den Haß und den Neid der Beamtenhierarchie. Beselers Parteinahme gegen Ritschl sollte für ihn zur Falle werden. Man hoffte, daß nach seinem erzwungenen Rücktritte entweder die alte gemütliche Kuratorialwirtschaft wieder zu Ehren kommen werde oder ein Kurator aus rheinischen Kreisen gewählt würde. Merkwürdig, wie viele Personen auf einmal als passende Kandidaten genannt wurden, während früher, über ein Jahrzehntlang, kein solcher gefunden werden konnte. Vom Oberpräsidenten der Provinz bis zum kleinen Bonner Bürgermeister erschienen eine ganze Reihe von Beamten für das Amt trefflich geeignet. Die Angriffe auf den Kurator scheiterten, da sich der Minister seines Beamten kräftig annahm. So versuchte man denn auch über den Kopf des Ministers auf den König zu wirken. Fürstliche Personen, der Erzbischof von Köln, sogar Kaiser Napoleon III., dieser durch den Einfluß von Madame Cornu bestimmt und dem Übersetzer von Cäsars Leben ohnehin zugeneigt, wurden um ihre Einmischung angegangen. Der ursprünglich rein innere Universitätsstreit bauschte sich förmlich zu einer Haupt- und Staatsaktion auf, bis schließlich Bismarck in Gastein durch energischen Einspruch alle unberechtigte Zwischenträgerei abschnitt und wenigstens äußerlich wieder Ruhe schuf. Die Universität[260] aber hatte bleibenden Schaden. Ritschl zog nach Leipzig, Jahn versank infolge der dauernden geistigen Aufregungen in Siechtum und starb schon nach wenigen Jahren. So verlor Bonn fast gleichzeitig seine zwei berühmtesten Lehrer.

In diesen Monaten voll Unruhe und Unfrieden vollendete ich meine »Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809.« Das Buch war noch ein Vermächtnis Dahlmanns. Als Salomon Hirzel in der Mitte der fünfziger Jahre den Plan zu einer Staatengeschichte der neusten Zeit faßte, erbat sich und empfing er auch Dahlmanns Rat. Dahlmann empfahl mich für die Geschichte Österreichs. Gar lockend wirkte die Aussicht mit Hirzel, den alle Bonner Freunde überaus achteten, in ein näheres Verhältnis zu treten. Trotzdem zögerte ich lange Zeit, auf den Antrag einzugehen, da ich fürchten mußte, aus meinen Fachstudien herausgerissen zu werden. Aber Dahlmann hörte nicht auf, mich zu ermuntern, Hirzel zu drängen. Wenn ich die Nächte zu Hilfe nahm, konnte ich den verschiedenen Aufgaben und Pflichten genügen. Ich sagte daher zu, nur erbat ich mir, nicht zu Hirzels Freude, eine längere Frist. Mir steht ein Urteil über den wissenschaftlichen Wert des Buches nicht zu. Worüber ich aber gute Auskunft geben kann, das sind die Ziele, die mir vorschwebten und die Hilfsmittel, welche mir zu Gebote standen. Von Hause aus verzichtete ich auf eine eingehende Erzählung der äußern Politik des Wiener Kabinetts. Die Benützung der Archive der Großstaaten war mir verschlossen, aus den Berichten eines kleinen Diplomaten hätte ich, wie ich aus[261] Erfahrung wußte, nichts gelernt. Sie waren der reine Widerhall Metternichscher Redensarten. Die Lücke in meinem Buche konnte später ein Historiker, welchem die großen Archive offen stehen, leicht ausfüllen. Dagegen erschien es wünschenswert, die innern Zustände Österreichs seit den Freiheitskriegen, die Natur der Regierung, die Lage des Volkes, seine Leiden und seine Versuche, sich von diesen zu befreien, für die Nachwelt in ausführlicher Schilderung festzustellen, so lange sie noch in der Erinnerung lebendig haften. Einem Nachgeborenen sind die sogenannten vormärzlichen Zustände in Österreich einfach unverständlich, geradezu unbegreiflich. Die Aufgabe war in hohem Grade undankbar. In Wahrheit schrieb ich eine lange Krankheitsgeschichte. Warme Brusttöne anzuschlagen, die Leser zu erheben und zu begeistern, sie von Szenen siegreicher Tapferkeit zu solchen des nationalen Stolzes und der patriotischen Hingabe zu führen, blieb mir versagt. Eine pathetische Darstellung hätte mich mit dem Fluche der Lächerlichkeit beladen. Nach der Natur der Dinge war nur eine leise Ironie, welche mit der Erbärmlichkeit und Thorheit der Menschen nicht grob zu Gerichte geht, aber den Leser von dem peinlich ermüdenden Eindruck derselben befreit, allein berechtigt. Gleichviel ob die Aufgabe litterarischen Neigungen entsprach oder nicht, ob sie einer mehr künstlerischen Auffassung der Geschichte günstig oder ungünstig war, nur so konnte sie gestellt werden, sollte das Buch wirklich unser Wissen von Österreich vermehren. Zur Lösung gerade dieser Aufgabe standen mir auch die reichsten Mittel bereit.[262] Abgesehen davon, daß ich mich des vorhandenen gedruckten Materials bemächtigte, die Mühe nicht scheute, die Akta des Ungarischen Landtages seit 1790 genau durchzulesen, auf die Gefahr hin, den letzten Rest klassischer Latinität zu vergessen, und emsig die alten Zeitungen, nur mit Unrecht von den Historikern gering geschätzte Quellen, durchstöberte, durfte ich mich einer langen politischen Erfahrung und einer ausgedehnten Kenntnis von Personen und Thatsachen rühmen. Seit meiner Jugend waren mir von den verschiedensten Seiten reichhaltige Nachrichten über das politische Leben und Treiben in Österreich zugeflogen, welche mich fähig machten, die Stimmungen in einzelnen Kreisen richtig zu schildern. Ohne ihre Kenntnis blieben aber die Ereignisse auch des Jahres 1848 unverständlich. Die beste Hilfe fand ich wieder bei meinem Schwiegervater. Alljährlich in den Ferien pilgerte ich mit umfangreichen Fragebogen nach seinem Gartenbesitze in Prag, wo meine Familie die Sommerfrische hielt. Da saßen wir nun täglich in ernster Beratung zusammen, wer nur wohl über diese oder jene Thatsache, diese oder jene Persönlichkeit die beste Kunde schaffen könne. Pinkas besaß weitreichende Verbindungen. Seine Freunde saßen in den Ministerkanzleien, standen mit an der Spitze der Provinzialverwaltung und der Provinzgerichte. Er war der Vertrauensmann zahlreicher Kavaliere und Banquiers. Unermüdlich schrieb er Briefe oder holte persönlich Erkundigungen ein, um meine Wißbegierde zu befriedigen. Seiner Vermittelung dankte ich auch, daß mir die ständischen Archive geöffnet[263] wurden. Nicht durch Vertrauensbruch, wie später meine lieben czechischen Landsleute verleumderisch behaupteten, sondern auf offenem amtlichen Wege verschaffte er mir den Zutritt zu ihnen. Es ist wohl nicht dagewesen, daß man einem Historiker die Benutzung der Archive als Verbrechen anrechnete. So sammelte sich im Laufe der Jahre ein Material in meinen Händen, wie es in solcher Fülle und Mannigfaltigkeit kaum ein Mitlebender besaß, ein Nachgeborener gar nicht mehr erwerben kann. Ohne Selbstüberhebung darf ich von meinem Buche behaupten, daß es in Bezug auf die Erkenntnis der innern Zustände Österreichs dem künftigen Historiker als Quelle und zwar als lautere Quelle dienen wird.

Ich war darauf gefaßt, daß das Werk allen Parteien in Österreich gründlich mißfallen werde. Die deutsche, durchgängig großdeutsch und preußenfeindlich gesinnt, grollte mir, daß ich die Unfähigkeit des Kaiserstaates, an der Spitze eines nationalen deutschen Reiches zu stehen, unwiderleglich dargethan hatte. Die Slaven waren wieder empört, daß ich ihre kleinen Gernegroß nicht zu Helden und Staatsmännern stempelte und ihr lächerliches Streben, auf Unwissenheit und blinden Hochmut eine nationale Kultur aufzubauen, nach Gebühr brandmarkte. Den Liberalen klang meine Schilderung der Revolution nicht begeistert genug. Auch zürnten sie, daß ich ihren, leider selbst heute noch merklichen Hang zum Doktrinären, als ob die Staatssachen sich nach dem Muster eines Zivilprozesses behandeln ließen, geißelte, die Konservativen führten endlich Klage[264] über die grausame Schilderung der alten Machthaber. Diese Unzufriedenheit war ganz am Platze. Ich wollte keine Parteischrift verfassen und mußte daher jede einzelne Partei verletzen. Daß aber das Buch einen solchen Sturm brutalen Hasses anfachen, eine solche Flut der gemeinsten Beschimpfungen und Verleumdungen in Österreich entfesseln werde, hatte ich doch nicht erwartet. Das Beste darin leisteten meine biedern czechischen Landsleute. Im böhmischen Landesarchive wurde ein von mir benutztes Aktenstück aus dem Jahre 1790 nicht gleich gefunden. Es war, wie auf meine scharfe Beschwerde der Archivar bekennen mußte, einfach in ein anderes Aktenbündel verlegt worden. Das genügte aber, daß die czechischen Zeitungen meinen Schwiegervater und mich offen des Diebstahls beschuldigten. Daneben konnten die Bezeichnungen: Landes- und Volksverräter noch als Ehrennamen gelten. Daß ich die Geschichte Österreichs im Auftrage der preußischen Regierung geschrieben habe und im Solde Bismarcks stehe, konnte ich in den Wiener Blättern oft genug lesen. Der Hauptsammelplatz übelriechender Lügen blieb aber fortdauernd bis heute Wurzbachs, von der Wiener Akademie der Wissenschaften unterstütztes, von der Staatsdruckerei verlegtes: »Biographisches Lexikon des österreichischen Kaiserstaates.« Daß Wurzbach in meiner Lebensbeschreibung ein abschreckendes Zerrbild meiner Person bot, verstand sich bei seiner feindseligsten Stimmung von selbst. Aber bis zum Lächerlichen verstieg sich doch sein Haß, wenn er mein dickleibiges Buch über »Raffael und Michelangelo« einen blosen »Artikel«[265] nannte und als einziges Porträt eine überdies mißlungene Karrikatur in einem czechischen Spottblatte anführte. Nicht genug daran – beinahe in jedem Bande, bei passenden oder unpassenden Gelegenheiten, wurde mein ehrlicher Name herbeigeschleppt, um ihm das Verbrechen der »Felonie« anzuhängen. Das Tollste leistete Wurzbach in der Biographie des Generals Mack, welcher 1805 Ulm an Napoleon übergab. Hier heißt es, ohne allen Zusammenhang mit dem Text, von mir: »Springers Werk hat mitgeholfen, daß Preußen Krieg gegen Österreich geführt, da er den Kaiserstaat in seiner Geschichte in einer des Österreichers unwürdigen Weise bloßgestellt und herabgedrückt und seine Schwächen in denunciatorischer Weise bloßgestellt (sic!) hat.« Nach solchen Verlästerungen wirkte wie Balsam das Lob der ungarischen Staatsmänner, mit welchen ich auf einer Reise nach Pesth in nähere Beziehungen trat, ich hätte die Ereignisse in Ungarn durchaus wahrheitsgetreu geschildert, sowie die Anerkennung der besten deutschen Historiker, wie namentlich Sybels, welcher (in der Kölnischen Zeitung) keinen Geringeren als Gibbon zur Vergleichung heranzog Auch ein liebenswürdiger Brief Freytags, den Eindruck des Buches auf die kronprinzliche Familie schildernd, stellte sich ein, hob den Mut und brachte wieder hellere Töne in die Stimmung. Der Ausbruch des Krieges 1866, wenige Monate nach der Ausgabe meines Buches, gab zu Verdächtigungen meiner Person neuen Anlaß. Ich stand natürlich ganz auf preußischer Seite. Hatte ich doch seit dem Jahre 1848 als frommen Wunsch wiederholt ausgesprochen,[266] was jetzt das greifbare Kriegsziel bildete. Mit meinen österreichischen Stammesgefühlen kam ich durchaus nicht in Widerstreit. Denn das »große Unglück«, das alle unbefangenen Österreicher stets als das einzige Rettungsmittel herbeigesehnt hatten, um die Regierung von ihrem verderblichen Wege endlich abzulenken, war gekommen. Jetzt erst, neben einem mächtigen Preußen und Deutschland, besann sich Österreich auf seine wahre Bestimmung und vermochte den wichtigsten Aufgaben der innern Politik seine volle Kraft zu widmen. Daß das Staatsschiff auch nachher noch vielfach schwankte und schwankt, den festen Kurs nicht immer einhält, ist nicht die Schuld der alten österreichischen Patrioten. Sie haben stets vor schlechten Steuerleuten gewarnt.

An den heftigen Zeitungskämpfen, welche dem Kriege vorangingen und folgten, teilzunehmen, hielt ich mich nicht berufen. Nur einmal erhob ich in den »Grenzboten« kräftiger meine Stimme, als die Wiener Presse, im ersten blinden Zorn über den Sieg der preußischen Waffen, drohte, zur Wiedervergeltung deutsche Dichter und deutsche Bildung von Österreich auszuschließen. Abgesehen davon, daß es persönlich unschicklich gewesen wäre, Triumphlieder über die, wenn auch wohlverdiente Demütigung meiner alten Heimat anzustimmen, fehlte mir auch die Zeit zu eingehender politischer Thätigkeit. Sobald ich die letzten Buchstaben in meiner Geschichte Österreichs geschrieben hatte, griff ich auf den alten Plan zurück, ein Buch kunsthistorischer Probleme ihrer endgültigen Lösung näher zu bringen, bisher[267] wenig beachtete Punkte in der künstlerischen Entwickelung in ein helleres Licht zu stellen. Im Herbst 1867 erschienen meine »Bilder aus der neueren Kunstgeschichte.« Mit dem größten Eifer setzte ich mich an die Arbeit, bemühte mich, auch den Aufsätzen einen feineren formalen Schliff zu geben. Der Erfolg mußte mich zufrieden stellen. Vieles, was die »Bilder« zuerst ausgeprägt hatten, läuft bereits als Scheidemünze um. Aber mit meinen Körperkräften ging es schier zu Ende. Nicht ungestraft hatte ich sie über ein Jahrzehntlang bis zur äußersten Grenze angespannt und ein Doppelleben geführt, in meiner Wissenschaft mich stetig ausgebildet und daneben für das tägliche Brot hart gearbeitet.

Eine Erkältung, bei der nächtlichen Rückkehr von Düsseldorf, wo ich einen Vortrag im Malkasten gehalten hatte, geholt, brachte im Frühling 1868 die Krankheit zum Ausbruch. Der Bonner Arzt sah in meinem Leiden nur eine Erschöpfung infolge übermäßiger geistiger Anstrengungen und ließ die anderen Symptome, den Husten, die Atemnot unbeachtet. Sein Rat lautete: Gehen Sie in die Berge und laufen Sie sich aus. So ging ich denn in die Berge und lief, bis ich in Badenweiler zusammenbrach. Meine arme Frau, telegraphisch von meinem Elend benachrichtigt, fand einen totkranken Mann. Ihrer aufopfernden Pflege danke ich es allein, daß die Krankheit – Bronchitis und Rippenfellentzündung – endlich wich, die Kräfte zunahmen und in kleinen Tagereisen die Rückkehr nach Bonn unternommen werden konnte. An eine Aufnahme meiner Thätigkeit[268] war aber nicht zu denken. Der leider jetzt erst zu Rate gezogene Kliniker Rühle machte meine Herstellung von einem längeren Aufenthalt im Süden abhängig. Wie sollte ich aber die Kosten einer doppelten Haushaltung bestreiten? Da zeigte es sich, daß ich zwar manche Gegner und Feinde besaß, aber doch noch ungleich mehr warmherzige und thatkräftige Freunde gewonnen hatte. Ohne daß ich eine Ahnung davon besaß, hatten sich in verschiedenen rheinischen Städten, in welchen ich Vorlesungen gehalten hatte, angesehene Männer zusammengethan und einen stattlichen Beitrag zu den Reisekosten gesammelt. Meine Überraschung kannte keine Grenzen, als mir eines Tages die Post einen dicken Geldbrief mit einer anonymen Zuschrift in das Haus brachte, in welchem in feinsinnigster Weise das Interesse an der Wissenschaft als Hauptmotiv der Sammlung betont, und die große Summe Geldes als Ehrengabe, gleichsam als nachträgliches Honorar für meine Leistungen als Lehrer bezeichnet wurde. Dadurch wurde der sonst peinliche Stachel eines bloßen Wohlthätigkeitsaktes vollständig gebrochen. Niemals habe ich die Namen der einzelnen Spender erfahren, niemals auch nur die leiseste Andeutung, daß dieser oder jener sich mir gegenüber als Patron fühle, gehört. Zeitlebens bleibe ich den wackeren rheinischen Freunden für ihre Teilnahme zu wärmsten Dank verpflichtet. Auch das kronprinzliche Paar steuerte zu den Kosten der Erhohlungsreise kräftig bei, in dem liebenswürdigen Begleitschreiben gleichfalls betonend, daß es mich dem Dienste der Wissenschaft dauernd zu[269] erhalten wünsche und hoffe. Das Ministerium mit der Bitte um einen Reisezuschuß anzugehen, lehnte ich, durch Erfahrungen andere gewitzigt, ab. Mehrere Mitglieder der Universität, insbesondere der Curator Beseler, stellten, ohne mich zu fragen, das Bittgesuch. Wie zu erwarten stand, erklärte der Minister leider keine Mittel für derartige Zwecke zu besitzen. Aber Olshausen, der mir wohlwollende Referent im Ministerium, wußte Rat. Von seinem Freunde Keudell hatte er erfahren, daß das auswärtige Amt über einen Dispositionsfond verfüge, welcher schön öfters den anderen Ministerien ausgeholfen hätte. Durch Keudells Vermittelung wurden wir vom auswärtigen Amt eintausend Thaler angewiesen, wogegen ich, wie Keudell schrieb, nur der Form wegen, zur Einsendung von Stimmungsberichten aus Italien verpflichtet würde. Ich schrieb auch solche aus verschiedenen Städten, bin aber überzeugt, daß sie ungelesen im Ministerialarchive modern. Meine werten Freunde in Österreich werden vielleicht darin eine nachträgliche Ablohnung für die in meiner Geschichte Österreichs geleisteten Dienste entdecken. Ich weiß nur, daß dieses die einzige Beziehung war, welche ich mit dem auswärtigen Amt und dessen Leiter unterhielt.

Sorgenfrei konnten meine gute Frau und ich Ende Oktober die weite Reise nach dem Süden antreten. Unsere drei Kinder blieben unter der Obhut der greisen Großmutter, welche auf die Nachricht von meiner Erkrankung sofort aus Prag herbeigeeilt war, von teilnehmenden Freunden umgeben, in Bonn zurück. Wir wußten sie[270] vortrefflich aufgehoben und sahen mit fröhlichen Hoffnungen dem Heilerfolge im warmen Italien entgegen. In Florenz und Rom hielten wir uns nur kurze Zeit auf, eilten so rasch als möglich unser Reiseziel, das von dem Arzt besonders empfohlene Palermo zu erreichen.

Sicilien zeigte damals den Inselcharakter noch stark ausgeprägt, ebenso wie die einzelnen Städte nur einen geringen Zwischenverkehr besaßen. Keine Eisenbahnen durchschnitten das Land, von der nördlichen Küstenbahn waren erst dürftige Anfänge vorhanden, die Verbindung mit dem Festlande mittels der Dampfschiffe ließ an Raschheit und Regelmäßigkeit noch viel zu wünschen. Von eiligen Touristen, welche das Land wie im Fluge durchjagen, heute kommen, morgen gehen, gab es keine Spur. Wer nach Palermo in Geschäften oder aus Rücksichten der Gesundheit kam, war in der Regel auf einen längeren Aufenthalt gerüstet. So hatte sich auch in der Trinacria, bei dem alten Musterwirte Ragusa, eine kleine Kolonie ständiger Wintergäste gesammelt, mit welchem sich auf natürlichem Wege ein näherer Verkehr entspann. Am freundschaftlichsten standen wir zu Herrn und Frau von Guaita aus Frankfurt und der preußischen Generalsfamilie von Gansauge aus Berlin. Die Nachwehen des Krieges 1866, die Spannung zwischen Österreich und Preußen, bedrohten zwar anfangs auch unsere Palermitaner Gesellschaft, doch gewann bald das gemeinsame deutsche Interesse und die Gewohnheit täglichen Umganges den Sieg. Namentlich mit Guaitas verabredeten wir alle größeren Ausflüge[271] und verlebten wir viele genußreiche Tage. Für uns begann ein wahres Phäakenleben. Wir wurden nicht müde, die herrliche sonnige und doch frische Luft zu atmen, die Eindrücke der farbenreichen und doch auch in der Zeichnung großartigen Landschaft, der neuen Pflanzenwelt in uns aufzunehmen. Ein einfacher Morgenspaziergang auf der Marina oder im anstoßenden öffentlichen Garten reichten hin, uns für den ganzen Tag fröhlich zu stimmen. Und dann die weiteren Ausflüge nach Monreale und San Martino oder um den Pellegrino herum nach Mondello und Carini, oder nach der durch Goethe berühmt gewordenen Villa Palagonia. Überall fanden Auge und Phantasie die mannigfachsten Anregungen. Gar bald entdeckte ich, daß ich bei scheinbarem Müßiggange auch meine Fachkenntnisse erweitern, den historischen Sinn stärken konnte. Wie in der Natur, trat uns auch in der Kunst eine neue Welt entgegen. Außer in Neapel hat der wildausschweifende und doch in gewissem Sinne vornehme Barockstil nirgends in Italien so viele Denkmäler hinterlassen, wie in Palermo. Hier allein erscheint er nicht der Willkür eines einzelnen Künstlers entsprungen, sondern aus den Kulturzuständen herausgewachsen. Das Museum führte nur altgriechische Kunstwerke und die mir ganz fremde sicilianische Malerschule vor die Augen. Vor allem aber fesselten die Werke der Normannenzeit meine Aufmerksamkeit. Ich ruhte nicht eher, als bis ich alle Gäßchen und Winkel der Stadt, damals noch recht unsauber, aber malerisch, durchwandert und die Reste der normannisch-arabischen[272] Kunst erforscht hatte. Eine Frucht dieser Studien war die Abhandlung über »Die mittelalterliche Kunst in Palermo«, welche ich nach meiner Rückkehr im Auftrage der Bonner Universität schrieb, um der Düsseldorfer Akademie bei ihrem Jubiläum überreicht zu werden. Ich habe sie später umgearbeitet und den »Bildern aus der neuern Kunstgeschichte« einverleibt. Bei den heimischen Gelehrten fand ich die liebenswürdigste Unterstützung. Cavallari, der Nestor der sizilianischen Archäologen, wurde nicht müde mit mir in den alten Palästen und halbzerstörten Häusern herumzuklettern und mich auf diesen oder jenen von mir noch nicht bemerkten Rest alter Kunst aufmerksam zu machen. Häufig kam er noch am Abend in unsere Stube und führte uns farbige Bilder aus dem sizilianischen Volksleben vor. Namentlich als Märchenerzähler fand Cavallari keinen seinesgleichen. Wie oft schlug es Mitternacht und wir hingen noch andächtig an seinen beredten Lippen. Antonino Salinas, gleichfalls auf deutschen Universitäten ausgebildet, damals in jungem Bräutigamsglück schwelgend, wurde ein Führer im Museum, der würdige Kanonikus di Marzo legte mir bereitwillig die Schätze der seiner Leitung anvertrauten Bibliothek vor und unterrichtete mich in der Geschichte der neueren Palermitaner Kunst, in welcher er mit Recht als die beste Autorität bei seinen Landsleuten galt.

Über dem gelehrten Umgange wurde der Verkehr mit Leuten aus dem Volke nicht vernachlässigt. Ein Fremder, zumal eine Fremde, welche sich um die heimischen Dinge[273] kümmerte, war damals eine seltene Erscheinung in Palermo. Man konnte sicher sein, wenn man auf der Straße einen Mann um Auskunft bat, diese ausführlich zu erhalten und außerdem noch für den übrigen Teil des Weges einen Begleiter zu gewinnen. So machten wir allmählich zahlreiche Straßenbekanntschaften. Am lebendigsten steht noch ein junger Advokat vor mir, welchen wir gleichfalls zufällig auf der Straße ansprachen und welcher seitdem, so oft er uns erblickte, uns sein Geleit anbot. Da die Palermitaner einen großen Teil des Tages auf den Straßen verleben, so wiederholten sich solche Begegnungen recht häufig. Ihnen dankte ich gute Kunde über die damals recht verwickelten wenig erfreulichen politischen Zustände auf der Insel. Die Sizilianer konnten sich in die feste Ordnung, welche der Anschluß an das Königreich Italien mit sich brachte, nicht gewöhnen; die Rekrutenaushebung, die schärfer angezogene Steuerschraube weckte große Unzufriedenheit. Dazu kamen noch die nur mühsam erst vor kurzem unterdrückten bourbonischen Aufstände. Das Räuberwesen stand noch immer in Blüte. Über alle diese Dinge zeigte sich unser Advokat wohl unterrichtet. Meiner Frau wurde aber doch unheimlich zu Mute, wenn er zuweilen über die Straße auf einen zerlumpten, wild aussehenden Kerl lossprang und mit diesem Händedrücke und herzliche Grüße austauschte. »Das ist ein des Mordes oder des Raubes angeklagter Brigante, welchen ich mit Erfolg verteidigt habe«, so erklärte er seine warmen Sympathieen für den Menschen.[274]

Meinen guten Francesco col grosso cavallo darf ich unter meinen Volksfreunden nicht vergessen. Zufällig hatten wir gleich anfangs mehrere Tage nacheinander denselben Kutscher aus der Droschkenreihe, welche vor der Trinacria hielt, gewählt. Er gefiel uns wegen seiner Zuverlässigkeit und der Liebe zu seinem Pferde, einem dicken Braunen, mit welchem er sich während der Fahrt ununterbrochen auf das zärtlichste unterhielt und welches er auf das sorgsamste pflegte. Wir wurden mit ihm eins, daß er uns auf allen unsern Ausflügen fahren solle. So wurde Francesco, ein kleiner untersetzter Mann von mittleren Jahren, mit lebendigen Augen und stets heiteren Mienen, unser Leibkutscher. Er merkte bald mein Interesse an Ruinen, alten zerfallenen Bauten. Oft diente er als Dolmetsch, da ich den Dialekt der Einwohner schlecht verstand und wurde allmählich selbst von einem archäologischen Eifer ergriffen. Wenn ich im Weichbilde von Palermo nach der Lage und den Resten der normannischen Lustschlösser suchte, so blieb Francesco, nachdem er sein Pferd versorgt, an meiner Seite, drang in alle Gärten, überkletterte Mauern, untersuchte den Boden. Als er bei unsern Fahrten wahrnahm, daß mich auch die buntbemalten Karren – sie zeigten auf grellgelbem Grunde Bilder der Haimonskinder, Rolands u.s.w. – interessierten, brachte er mich zu Wagenbauern und Malern in den Vorstädten, und ließ mich die Schablonen sehen, nach welchen die Bilder gemacht wurden und spürte auch die Volksbücher im sizilianischen Dialekt auf, welche die Sagen von den [275] reali di Francia erzählten. Wir schieden zuletzt als die besten Freunde. Dreizehn Jahre später kam ich wieder nach Palermo. Auf einem Gang durch den Toledo bemerkte ich staunend, daß eine Droschke plötzlich anhielt, der Kutscher unbekümmert um Insassen und Pferd vom Bock sprang und auf mich zulief. Unversehens preßte er mich in die Arme und küßte mich auf beide Wangen mit dem jubelnden Ausruf: »caro professore, mio professore!« Es war Francesco. Sein grosso cavallo weilte nicht mehr unter den Lebenden, nur Francesco blühte noch immer und bewahrte mir die alte Treue und Anhänglichkeit.

Nur zu rasch flossen die Wochen und Monate dahin. Der Frühling war in das Land gekommen, nicht der nordische, sich sanft einschmeichelnde, neue Lebenslust weckende, sondern der schnell, wie verschämt, vorüberhuschende Vorbote des heißen Sommers, der gar kein Anrecht auf selbständige Geltung erhebt. Bereits begann in der Mittagsstunde die Wärme unbequem zu werden, das Leben im Freien auf die Abend- und Nachtstunden sich einzuschränken. Meine Gesundheit schien übrigens dauernd gekräftigt zu sein und so traten wir langsamen Schrittes die Heimreise an. Die Pfingsten 1869 feierten wir wieder im Kreise unserer Kinder in Bonn.

Meine Beziehungen zu den Studenten waren gottlob die alten freundlichen geblieben. Die feierliche Begrüßung gleich nach meiner Ankunft durch Corps und Burschenschaften, die vollen Bänke im Auditorium bewiesen, daß[276] ich trotz der langen Abwesenheit nicht vergessen war. Um so trauriger sah es in dem Freundeskreise aus. In Kyllmanns Hause war mit dem steigenden Alter auch die Kränklichkeit, die Ruhesehnsucht eingezogen, die allezeit lebensfrohe Familie Preyer hatte Bonn verlassen, und, was uns den größten Schmerz bereitete, Otto Jahn rang mit dem Tode. Sein scheinbar kräftiger Körper widerstand auf die Dauer nicht der ungesunden Lebensweise, der ungemessenen Arbeitslast, an welche Otto Jahn seit Jahren sich gewöhnt hatte. Mannigfache Kränkungen und Enttäuschungen erschütterten den Organismus des reizbaren Mannes stärker, als die entfernter stehenden Bekannten meinten. Als ich Jahn wiedersah, war er zum Schatten geschwunden. Die erloschene Stimme, der schleppende Gang, der schwere Atem, die ganz entsetzliche Abmagerung ließen das Schlimmste schon in naher Zeit befürchten. Riesige Willenskraft zwang den totmüden Körper bis zum Schluß des Semesters auszuhalten. Dann eilte er zu lieben Verwandten nach Göttingen, legte sich nieder und starb.

Wir hätten diesen Schlag noch schwerer überwunden, wenn nicht bald darauf in der Bonner Gesellschaft eine Erscheinung aufgestiegen wäre, von so bestrickender Liebenswürdigkeit und geistiger Anmut, daß unsere Gedanken unwillkürlich eine hellere Farbe empfingen und der gesellige Verkehr einen ungeahnten Reiz gewonnen hatte. Die Fürstin Wied brachte die Wintermonate in Bonn zu. Von einem langjährigen Fußleiden endlich geheilt, körperlich[277] gekräftigt, konnte sie jetzt ihre feinsinnige Natur freier entfalten und eine reichere Gastfreundschaft üben. Ich hatte die Fürstin schon in meinen ersten Bonner Jahren kennen gelernt, wiederholt Vorträge im Neuwieder Schlosse zu wohlthätigen Zwecken gehalten, und wie alle, welche der seltenen Frau näher traten, den unwiderstehlichen Zauber ihres Wesens erfahren. Vornehm, wahrhaft fürstlich in ihrem ganzen Gebahren, dabei frei von jeglichem aristokratischen Hochmute und für Kunst und Wissenschaft ehrlich begeistert, stets bemüht, männliche Tüchtigkeit und Frauenwürde zu ehren, brachte sie es rasch dahin, daß ihr alle die Huldigungen freiwillig und im vollsten Maße dargereicht wurden, auf welche sie durch ihren Rang Anspruch erheben konnte. »Unsere Fürstin« hieß sie in den Bonner besten Kreisen.

Die niemals völlig abgerissenen Verkehrsfäden wurden neu geknüpft und rasch verstärkt. Wir nahmen nicht allein regelmäßig Teil an den größeren Besuchsabenden, sondern genossen auch das Glück näheren Umgangs. Die Erziehung, welche ich mir in meiner Jugend im Verkehr mit vornehmen Kreisen gegeben hatte, brachte jetzt gute Früchte. Ich hatte die Kunst, welche Bürgerlichen so schwer fällt, erlernt. Ich blieb ehrerbietig, wahrte mir aber streng die Unabhängigkeit des Urteils. Dadurch gewann ich das Vertauen der Fürstin. Und schon damals faßte sie den Gedanken, mich zur Begleitung auf der bevorstehenden Reise zu ihrer Tochter, der Fürstin von Rumänien. aufzufordern. Die Reise sollte im Herbst 1870 stattfinden. Das war aber das große Kriegsjahr. Natürlich fielen alle Reisepläne[278] wie Kartenhäuser zusammen. Wer hätte daran denken können, den Rhein in einem Augenblicke zu verlassen, in welchem er vom Feinde bedroht schien und dem Lande den Rücken zu kehren, dessen Söhne einen Riesenkampf begonnen. Im Jahre 1870 merkte man, wie ganz deutsch und gut preußisch die Rheinprovinz trotz alledem und alledem geworden war. Helle Begeisterung loderte in allen Kreisen auf, alle Stände wetteiferten in Thaten und Opfern miteinander.

Für den Vaterlandsfreund und alten Kämpfer für Deutschlands Einheit und Preußens Führerschaft war es eine harte Entsagung stille zu sitzen und nur durch Zeitungen von den Weltkämpfen zu erfahren. Manchmal sehnte ich mich nach der Redaktionsstube zurück und wünschte wieder Journalist zu werden. Ein Zeitungsschreiber lebt sich so leicht in den Glauben ein, an den Ereignissen mitzuwirken, er wird jedenfalls früher und genauer von den Vorgängen unterrichtet, als die andern Menschenkinder und fühlt sich diesen gegenüber als Wissender. Blieb es mir auch persönlich versagt, der guten Sache zu dienen, so brachten meine Kinder und ich ihr doch das beste dar, was wir besaßen. Mit unserer freudigen Zustimmung übernahm meine Frau die Leitung eines Lazaretts, welches in dem Bonner Sommertheater, einer alten luftigen Baracke, improvisiert wurde. Wir brachten gern das Opfer eines gestörten Familienlebens in der Überzeugung, daß wir den armen kranken und verwundeten Soldaten die größte Wohlthat erwiesen. Über den Mut, die vollkommene Selbstlosigkeit und die wunderbar sachliche Geschicklichkeit[279] meiner Frau als Pflegerin herrschte nur eine Stimme. Die Behörden und die Bürger, die Ärzte und die Kranken, Jesuiten und protestantische Pastoren wetteiferten im Lobe und Preise. Uns kam es freilich hart an, acht Monate lang Isa nur für kurze Augenblicke im Hause walten zu sehen. Sie gönnte sich nur mittags eine kurze Pause, weilte sonst vom Morgen bis zum Abend bei ihren Verwundeten. In jenen nationalen Freudentagen trat aber das Einzelinteresse gegen die Teilnahme am Heere so sehr zurück, daß wir das Opfer kaum spürten.

Die Schlachten konnte ich nur still mit meinen besten Wünschen begleiten, dagegen war es mir vergönnt bei der Friedensfeier laut und öffentlich meine Stimme zu erheben. Ich hielt am 22. März, dem Geburtstage des Königs, die akademische Festrede1 in der Aula. Ein bedeutungsvoller Tag. Zum erstenmale gesellte sich in den Räumen der Universität zu dem alten berühmten Rufe: Heil dem Könige! der andere, so hoffnungsreiche: Heil dem deutschen Kaiser! Der deutsche Reichstag war in Berlin versammelt, Preußens Ziel und Bestimmung erreicht, Deutschlands Schicksal vollendet. Der Tag war wohl danach angethan, einen Redner zu begeistern und ich bemühte mich nach Kräften der gehobenen Stimmung und begeisterten Empfindung Ausdruck zu geben. Von den Friedenszielen sprach ich, von den Pflichten, welche uns die neue Stellung auferlege, von den Hoffnungen, zu welchen uns die Großthaten des[280] Volkes in Waffen berechtigen. So gewaltige Ereignisse, wie ihresgleichen in der Geschichte Europas kaum wiederkehren, müssen auch in unserer Bildung, in unserm geistigen Leben tiefe Spuren zurücklassen. Und nun versuchte ich ein Bild dieser künftigen Kultur zu entwerfen. Wenn ich jetzt nach zwanzig Jahren die Festrede – sie wurde im »Neuen Reich« abdruckt – wieder lese, merke ich doch, daß ich kein zuverlässiger Prophet war. Von den stolzen Hoffnungen, welche ich an die Gründung des deutschen Reiches für das Volksleben knüpfte, wie wenige sind in Erfüllung gegangen! Der nationale Sinn hat den innern Zwiespalt auf kirchlichem und politischem Gebiete nicht beseitigt, die freie Hingabe an den Staat mußte selbstsüchtigen Sonderinteressen weichen, der einfach gediegene Bürgerstand hat aufgehört als die sicherste Stütze des Staates geachtet zu werden, an die Stelle des harmonischen Zusammenwirkens sind schroffe Trennungen und feindselige Scheidungen getreten. Ich war, wie alle, welche noch in den schlimmen Zeiten bis 1859 groß und reif geworden waren, von dem Glanz des neuen Reiches geblendet, ich blieb Idealist, sah nur die Lichtseiten, merkte nicht die dunkeln Wolken im Hintergrunde, welche die Friedensziele hoffentlich nicht völlig zerstört haben, aber sie weit, ach nur gar zu weit zurückgeschoben haben.

Im Spätsommer nahm die Fürstin Wied, mit welcher der Verkehr im Kriegsjahre ein enger und lebendiger geworden war, den Plan der rumänischen Reise wieder auf. Ich begleitete sie, alter Abrede gemäß, als Reisemarschall.[281] Eine angenehmere, genußreichere Fahrt durch weite Länder ließ sich, ganz abgesehen von den großen landschaftlichen Reizen und neuen Volksszenen, die einem auf Schritt und Tritt entgegentraten, nicht denken. Die Fürstin, für sich anspruchslos, war für ihre Umgebung voll der zartesten Aufmerksamkeiten, ihre Hofdame, ein älteres Fräulein Lavater, geistsprühend, voll Witz und Humor, dabei von reifster Erfahrung und freien Grundsätzen, hielt das Gespräch stets in lebendigem Fluß. Solange wir die Eisenbahn benutzten, ging die Reise ohne irgendwelchen bemerkenswerten Zufall vor sich. Den Geschmack wirklicher Reisestrapazen bekam ich in Siebenbürgen, wo die Eisenbahn aufhörte. Der Fürst von Rumänien hatte uns zwei Tagereisen entgegen einen Hofwagen gesandt. Durch ein Mißverständnis kam ein kleiner Zweisitzer, in welchem für mich unbedingt kein Platz war und doch durfte und wollte ich die Fürstin nicht verlassen, wie die Dienerschaft den Postwagen benutzen. Da improvisierten wir aus dem Schmuckkästchen der Fürstin einen freilich sehr niedrigen und engen Rücksitz, auf dem ich mich nur niederlassen konnte, wenn ich die Kniee bis zum Kinn emporzog. Zwei Tage lang auf holpriger Straße auf diese Weise zu fahren, war für meine Brust doch beinahe zu viel. Wie gerädert, der Gliedmaßen kaum mächtig, kam ich in Kronstadt, der letzten österreichischen Station, an. Hier erwartete uns noch ein kleines komisches Abenteuer. Der Unterpräfekt des rumänischen Grenzbezirks bat die Fürstin um die Erlaubnis, sie im Namen Rumäniens zuerst begrüßen zu dürfen. Die[282] Bitte konnte trotz der vorgerückten Abendstunde nicht abgeschlagen werden. Ein stattlicher Mann, ein breites dreifarbiges Band über der Brust, trat in den Salon ein. Aber, o Schrecken! Er sprach nur rumänisch, verstand weder deutsch noch französisch. Die Verlegenheit war groß. Ich eilte zum Wirt hinaus, um einen Dolmetsch zu suchen. Nur der Oberkellner war des Rumänischen und Deutschen gleich mächtig. Ich instruierte ihn in aller Eile, wie er sich zu benehmen habe und führte ihn in den Salon. Der Anfang ging ganz gut. Der Präfekt, zur Fürstin gewandt, hielt eine längere Ansprache, welche der Kellner flüsternd übersetzte. Die Antwort der Fürstin aber war ihm offenbar zu knapp. Er trug sie dem Präfekten in einer jedenfalls sehr breiten und offenbar sehr schmeichelhaften Übersetzung vor. Der gute Präfekt meinte wohl, er müsse für den gnädigen Empfang noch besonders danken, wandte sich aber nicht mehr an die Fürstin, sondern an den Kellner, der seinerseits die Mühe des Dolmetschers sparte und sofort dem Präfekten in rumänischer Sprache antwortete. Dabei machten sie gegenseitig immer tiefere Verbeugungen. So komisch die Szene für uns stumme Personen war, so drohte sie doch zuletzt peinlich zu werden. Durch einen sanften Rippenstoß bedeutete ich dem Kellner, daß seine Mission zu Ende sei. Stolz verließ er das Gemach, ihm folgte bescheiden und demütig der brave Unterpräfekt.

Jenseits der Grenze, wenige Meilen von Sinaja, dem Sommersitze des Fürsten, fand der offizielle Empfang statt, an den sich, wie in der griechischen Welt üblich, der Gang[283] nach einer benachbarten Kapelle und ein lärmendes Tedeum in ihr anschloß. Ich hielt mich während all dieser Vorgänge bescheiden im Hintergrund und konnte in aller Ruhe die neuen Eindrücke in mich aufnehmen. Zum erstenmale trat mir in den Volksgruppen ein Stück unverfälschten Orients entgegen. Die Überraschungen steigerten sich, als wir nach einer mehrstündigen staubigen Fahrt Sinaja selbst erreichten. Mit dem Namen Sinaja verknüpft sich jetzt die Vorstellung eines wahren Zauberschlosses, bei dessen Schöpfung Reichtum, feinster Geschmack und reichster Kunstsinn wetteiferten, um einen Fürstensitz von einer Pracht und einem poetischen Reize ins Leben zu rufen, wie kein anderer Souverän Europas besitzt, ja besitzen kann, da in Sinaja die großartigste Natur die Wirkung des idealen Bauwerkes unterstützt. Damals befand sich hier an der Pilgerstraße gelegen, das Kloster Sinaja, dessen vordere Teile, die Pilgerherberge, dem fürstlichen Hofe zur Benutzung überlassen wurden, während die Mönche sich in die inneren Teile der weitläufigen Anlage zurückzogen. Der fürstliche Hof richtete sich schlecht und recht, so gut es die Dürftigkeit und Enge der Räume gestattete, ein. In der größten Zelle residierte das Fürstenpaar, in kleinen und kleinsten Zellen wurde das Gefolge untergebracht. Als Speisesaal diente eine hinter der Küche errichtete Baracke, welche freilich im äußern diese Bestimmung nicht verriet, immerhin abends, wenn dann zahlreiche Kerzen auf die mit lebendigem Grün bekleideten Wände, auf reiches Tafelgeschirr ein helles Licht warfen, einen behaglichen Aufenthalt[284] bot. Zum Glück blieb das Wetter wochenlang so prächtig, die Sonne uns so ausnehmend treu, daß wir uns fast den ganzen Tag im Freien bewegen konnten. Die großartige Landschaft ließ aber alle kleinen Unbequemlichkeiten des Lebens rasch vergessen. Tief unten im Thale rauschte die Prahova, lachten die saftig grünen Matten das Auge an. Zu beiden Seiten erhoben sich bewaldete Berge mit wahren Baumriesen und üppigem Unterholze. Axt und Säge hatten den Weg auf diese Höhen noch kaum gefunden, so daß man sich in einen Urwald versetzt glaubte. Den Hintergrund aber säumten die schneebedeckten Spitzen der Karpathen ein. Dabei war die Luft wunderbar rein und frisch, das bloße Atmen ein hoher Genuß. Fußmärsche mit dem Fürsten Karl, in welchem ich einen Zuhörer aus Bonn begrüßen durfte, Spaziergänge und Wagenfahrten mit den Damen lehrten mich die persönliche Liebenswürdigkeit und reiche Bildung des jungen Fürstenpaares kennen. Als wir im Herbst von Sinaja nach Bukarest – eigentlich Kotrotscheni bei Bukarest – übersiedelten, lernte ich auch seine Regierungskunst bewundern. Das Land befand sich in einer übeln Lage. Der Eisenbahnbau hatte die Finanzen zerrüttet, die Unsicherheit nach Außen den verschiedenen Parteien im Innern Vorschub geleistet. Mürrisch grollend, wie ein auf den Altenteil gesetzter Bauer, hielt sich die Pforte zur Seite, das russische Kabinet konnte sich noch immer nicht beruhigen, ein freies Feld für politische Intriguen verloren zu haben, in Wien herrschte noch immer das alte Mißtrauen, welches in jeder Stärkung der Balkanstaaten[285] eine Gefahr für den Kaiserstaat witterte. Der einzige ehrliche Freund saß in Berlin. Aber Bismarck hatte zunächst mit wichtigeren Sorgen zu kämpfen, und außerdem erheischte der Verkehr mit der deutschen Regierung große Vorsicht. Schon die deutsche Abstammung des Fürsten erschien vielen Bojaren als Makel und immer wieder tauchte die Verleumdung auf, daß das Wohl des Staates den Hohenzollernschen Interessen nachgestellt werde und Rumänien an Preußen als Vasallenland verhandelt worden sei. Franzosenfreunde gab es stets sehr viele unter den Bojaren und besonders Bojarenfrauen. Sie lärmten nach dem Kriege toller als je und scheuten selbst vor Skandalszenen gemeiner Verhöhnung der Deutschen nicht. Dem Fürsten Karl waren die Schwierigkeiten seiner Stellung wohl bekannt. Er blieb kaltblütig, ließ die gefaßte Aufgabe, Rumänien eine geordnete Verwaltung, ein brauchbares Heer zu verschaffen, nicht einen Augenblick aus den Augen. Er wartete, aber er verzagte nicht. Keine Partei verletzte er grundsätzlich, keiner warf er sich blind in die Arme. Empfänglich für jeden guten Rat, zugänglich jeder Persönlichkeit, war er taub für jede Schmeichelei oder Intrigue. Daß er den bekanntesten, Umtriebe planenden Bojaren auf den Kopf behauptete, er zweifle nicht an ihren selbstlosen Absichten und wolle gern ihre Pläne sachlich prüfen, brachte sie am meisten aus der Fassung. Sein einfach gerades Wesen, sein ernster, auf das Ganze gerichteter Sinn entwaffnete allmählich die Gegner. Am frühesten gewann er durch seine militärische Tüchtigkeit die Achtung des Heeres.[286] Bald erkannten aber auch die bessern Politiker, daß es geratener sei, mit ihm, als gegen ihn zu arbeiten. In anderer Weise machte die Fürstin Elisabeth für die Dynastie erfolgreiche Propaganda. Die Königskrone schwebte eigentlich schon lange über ihrem Haupte, ehe die glorreichen Siege des Gemahls sie ihr in das schöne Haar gedrückt hatten. Sie besaß eine angeborene Majestät, verband aber damit die echte Frauenanmut und heitere Liebenswürdigkeit. Die Natur hatte sie reich, fast allzureich mit Gaben bedacht. Mein gewöhnlicher Streit mit Fräulein Lavater bezog sich darauf, ob in der Musik, ob in der Poesie die wahre Stärke der Fürstin liege, ob die Tiefe der Gedanken, oder die Glut der Empfindungen am meisten an ihr zu bewundern sei. Je nachdem sie an dem Tage gerade diese oder jene Seite ihrer Natur enthüllt hatte, trafen wir die Entscheidung. Von der herbsten Schwermut bis zur ausgelassensten Laune beherrschte sie alle Stimmungen. Niemals merkte man eine Anstrengung, stieß auf etwas Gemachtes oder Gekünsteltes. Alles, ihre Lieder, ihre Sinnsprüche, ihre Erzählungen und Märchen quollen frei und leicht aus ihrer Phantasie. Die Fürstin Elisabeth besaß das Genie eines Improvisators, zugleich den gediegenen Ernst des wahren Dichters. Oft war ich Zeuge, wie sich in der Hofgesellschaft Herren und Damen mit spöttischer Miene der Fürstin näherten, als wollten sie sagen: »die kleine deutsche Prinzessin werden wir schon übertrumpfen«, wie sie dann aber nach dem Schlusse der Vorstellung in eine laute Bewunderung ihrer Anmut und[287] ihres geistreichen Wesens ausbrachen. Dem Zauber der Fürstin konnte niemand entgehen.

Während ich im fernen Osten Hofsitte und Volksleben studierte, vollzog sich im Westen eine entscheidende Wendung in meinem Schicksal. Eines schönen Tages empfing ich ganz unerwartet einen Brief des Herrn von Roggenbach, in welchem er mir offiziell die Professur der Kunstgeschichte an der wiedererrichteten Universität Straßburg anbot. Eine Ablehnung war unmöglich. Abgesehen davon, daß ich meine materielle Lage wesentlich verbesserte, nicht mehr, wie bisher, der angestrengtesten Privatarbeit bedurfte, um ohne Defizit die Jahresrechnung abzuschließen, erschien uns allen die Annahme des Rufes als eine patriotische Pflicht. Wir hegten allzusammen die glänzendsten, fast übertriebenen Vorstellungen von dem festen Bande, welches die Universität zwischen dem Reich und dem wiedergewonnenen Lande knüpfen werde. Ein Schreiben des freundlich gesinnten Kurators Beseler beseitigte die letzten Skrupel. Er mahnte dringend zur Annahme, beklagte meinen Weggang, welchen die Weigerung des Ministers Mühler, mein bescheidenes Gehalt zu erhöhen, unvermeidlich mache. So folgten denn, als ich im November wieder in Bonn ankam, gar bald den fröhlichen Tagen des Wiedersehns, die trüben Stunden der Trennung.

Unsäglich schwer fiel meiner Frau und mir der Abschied von Bonn, wo wir zwanzig Jahre, den glücklichsten Abschnitt unseres Lebens zugebracht hatten. Eine so auserlesene Zuhörerschar, wie ich sie in Bonn besaß, durfte[288] ich kaum hoffen, jemals wieder zu gewinnen. Hatte ich auch nur wenige Schüler (Rahn, Laspeyres, Lessing) erzogen, so durfte ich doch mit Stolz auf die vielen Philologen und Historiker hinweisen, welche mir ihre künstlerische Bildung verdankten. Die Publika blieben bis zuletzt ein Stelldichein für alle Fakultäten. Geachtet war auch meine Stellung unter den Kollegen. Der gute Sell versicherte mir wiederholt, daß mich die Mehrzahl längst zum Rektor gewählt hätte, wenn nur mein kirchliches Bekenntnis klarer gewesen wäre. Und wenn auch unsere ältesten und besten Freunde fast alle im Grabe ruhten, so lebten wir doch in der angenehmsten Geselligkeit, hatten an der Familie Beseler, an Frau Martha Aegidi neue wackere Freunde gewonnen. Auch in diesem Winter zog die Fürstin Wied nach Bonn. Sie hatte den von seinem Knieleiden von Metzger glücklich geheilten Prinzen Gustav von Schweden, den späteren Kronprinzen, unter ihre Obhut genommen, einen munteren Jungen, der besonders mit meiner ältesten Tochter gute Kameradschaft hielt und sich bei uns wie zu Hause fühlte. Auf die Wiederkehr eines so anregenden, fröhlichen Winters, wie gerade der letzte Bonner war, mußten wir nun verzichten. Kein Wunder, daß die Fackelzüge, Kommerse, Adressen und wie die Ehrenbezeugungen scheidender, geliebter Lehrer sonst heißen mögen, die Wehmut nicht völlig bannen konnten. Am Rhein hatten wir unsere Heimat gefunden, in Land und Leute uns vollständig eingelebt. Der Rheinländer galt namentlich meinen Kindern als bester Landsmann. Wir ziehen in eine fremde Welt,[289] in ein neues Land. Was wird es bringen? So frugen wir uns täglich. Doch alle wehmütigen Erwägungen, alle schönen Erinnerungen mußten gegen die Pflicht zurücktreten. Mitte April 1873 übersiedelten wir mit unserer Habe, unseren Hunde und unseren Kanarienvögeln nach Straßburg.

1

Die Rede ist im Anhang abgedruckt.

Quelle:
Springer, Anton: Aus meinem Leben. Berlin 1892, S. 291.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon