XIX

[293] Es war ein trüber Novembertag. Voll melancholischen Ernstes senkte sich die schwer bewölkte Himmelsdecke, Nebel aushauchend, auf ihn hernieder – kein Sonnenstrahl durchdrang das[293] Grau der Wolken – finster und verödet, wie in seiner Seele, sah es rings umher in der Natur aus.

Lange schweifte er, düster vor sich hinstarrend, umher, bis sein Weg sich dem Kirchhofe näherte, der außen vor der Stadt in einem dunkeln Kranz von Flieder so manchen seiner Bekannten, seiner Freunde sogar, einschloß.

Da, im Innersten fast convulsivisch ergriffen, warf er sich auf einen Stein am Eingang nieder, und seine heiße Stirn an das kalte Gitter der Pforte lehnend, rief er verzweiflungsvoll aus: Also hier soll ich Dich künftig suchen, Dich, die Du wie ein schönes Meteor meinem armen Leben nur glühtest, um so früh zu erlöschen? Hier auf dem feuchten Kirchhof, in den frostigen Gewölben des Todes, in gräßlicher Einsamkeit wird bald Deine Wohnung seyn! – –

Indem hallten traurig die langsamen Pulse der Abendglocke zu ihm herüber. Es war, als ob diese Töne seine Besinnung weckten, seinen Geist ermuthigten, und einen Entschluß in ihm aufriefen, den er faßte, als sei er ihm von oben eingegeben.

Noch lebt sie, sprach er zu sich selbst, und was heute noch nicht unmöglich ist, sie zum letztenmal zu sehen, und den Abschiedsgruß des hinscheidenden Engels zu empfangen, wehrt mir bereits[294] der nächste Morgen, der vielleicht schon über ihrer Leiche aufgeht. Alle Bedenklichkeiten, die die Spannung zwischen Linovsky und ihm seinem Wunsch entgegenstellten, alle Hindernisse, die den ungestörten Augenblick, nach dem er sich sehnte, zu unterbrechen drohten – – sonst ihm so wichtig und zurückstoßend scheinend – kamen ihm jetzt leicht zu überwinden und nichtig vor.

Er raffte sich auf und ging. Ihm war, als habe der Vorsatz, sich zu ihr hinzudrängen, und sie, allen Schwierigkeiten zum Trotz, wieder zu sehen, sei es auch zum letztenmale, die Welt um ihn her verändert – als knüpfe ihn wieder ein glühender Antheil an die Erde, als wehe eine andere Lebensluft als vorher, neuen Muth und neue Kraft in seine ermattete Seele.

Als er in die Stadt zurückkehrte, hatte sich die Dämmerung bereits in Dunkelheit verwandelt. Wie Mistöne, die seinen Schmerz verhöhnten, drang das Kutschengerassel der zerstreuungssüchtigen Menge, die dem Theater zueilte, in sein Ohr. Mühsam wand er sich hindurch, und erreichte die Straße, wo Erna wohnte. Er stellte sich ihrem Haus gegenüber, um sein ungestüm klopfendes Herz erst wieder zu einiger Ruhe zu zwingen. Tiefe Wehmuth bemächtigte sich seiner, und lösete den tobenden Aufruhr seines Innern in[295] mildes Zagen und Trauern auf. Ach – da schimmerte bleich das Licht, das ihre Leiden beschien – vielleicht, dachte er, sind morgen schon diese Fenster dunkel – unwiderstehlich trieb ihn dieser Gedanke an, zu eilen, und ohne auf die abmahnende Stimme der Ueberlegung zu hören, betrat er entschlossen die ihm heilige Schwelle.

Hier schien bereits des Todes grauenvolles Schweigen zu herrschen. Alles war öde und still, wie in einem Grabe. Vergebens sah er sich nach irgend einem menschlichen Wesen um, das Erna seine Nähe hätte verkünden können, denn er befürchtete mit Recht das Nachtheilige einer plötzlichen Ueberraschung bei ihrer Schwäche. Endlich trat Auguste leisen Schrittes aus einem der Gemächer.

Erschrocken, als habe sie ein Gespenst erblickt, fuhr sie zurück als sie ihn erkannte. Sie hier? flüsterte sie bebend, und vermochte nichts weiter zu sagen; denn mit furchtbarem Ernst und völlig entschieden, seinen Willen durchzusetzen, trat Alexander ihr näher.

Ja, ich bin hier, sprach er, mit dem Rechte, das der Schmerz mir giebt. Ich muß Erna noch einmal sehen. Bringen Sie, ich beschwöre Sie darum, bringen Sie mich nicht um den unersetzlichen Moment des letzten Abschieds, wie[296] Ihr unversöhnlicher Groll mich einst um das ganze Glück meines Lebens brachte! Ich möcht' es Ihnen jetzt schwerer verzeihen, als damals, und es ist gefährlich, dem Verzweifelnden eine Bitte zu verweigern.

Sie sollen sie sehen, erwiederte Auguste in einem milden, begütigenden Tone; denn theils ergriff sein Anblick sie in der wilden Verworrenheit des Sinnes, in der er vor ihr stand, mit grausenerregender Ahnung dessen, was er in dieser Stimmung fähig sei, theils wollte sie so dicht vor dem Gemach der Kranken jede lautere Aeußerung verhüten.

Sie drängte ihn daher in ihr Zimmer, wo sie noch immer zitternd, ihn, sich erst zu fassen und zu erholen, bat.

Doch Alexander wehrte heftig das sanfte Zureden ab, mit dem sie ihn zu beruhigen suchte. Ihre Beredsamkeit, sagte er bitter, vermag nichts über mich. Schlimm genug, daß diese einst Erna von dem Wege verlockte, auf dem sie glücklich geworden wäre, und glücklich gemacht hätte. Doch – das ist vorüber – aber sparen Sie das gleißnerische Bemühen, mich vielleicht anderen Sinnes machen zu wollen – die Augenblicke sind kostbar – führen Sie mich hin zu Erna!

Da ermannte sich Auguste. Daß ruhige Vernunft,[297] und der heiße Wunsch, eine würdige Wahl möge das Loos meiner Freundin sichern, strenger über Sie urtheilte, als die Liebe, die ich nicht mehr in Erna's Brust ahnete, da sie sich in tiefer Verschlossenheit barg – ist das ein Verbrechen, das Sie so hart zu rügen berechtigt sind? fragte sie. Sie können Ihr früheres Betragen nicht entschuldigen, und es war nur die gerechte Nemesis, die Ihre Strafe dictirte. Mich trifft kein Vorwurf als der, daß ich nicht an die Besserung eines Menschen glaubte, dessen Ruf eben so nachtheilig, als früher seine eigenen Geständnisse, von seiner tiefen Verdorbenheit sprach. Doch lassen wir das! Hab ich geirrt, indem ich strebte, Erna's Schicksal die Richtung zu geben, ach, so büße ich hart genug durch den Anblick ihres Vergehens, der mir bitterer ist, als der eigene Tod mir wäre!

Der Thränenstrom, der bei diesen Worten ihren Augen entstürzte, besänftigte Alexandern einigermaßen. Doch sagte er nichts, sie zu trösten und aufzurichten, sondern erneuerte ungestüm sein schon früher ausgesprochenes Verlangen.

Sie werden gewiß der Schonung, die die Leidende bedarf, nicht Ihre Wünsche unbedingt voransetzen, antwortete Auguste. Ihr Anblick, erschien er ihr unerwartet, könnte leicht den ohnehin nur noch matt glimmenden Funken ihres Lebens[298] verlöschen. Daher, wenn es Ihnen nicht genügt, sie durch die Glasthür eines Nebenzimmers zu sehen, muß ich Erna durchaus erst vorbereiten.

Alexander beschwor sie, nicht damit zu zögern. Sie öffnete also einen Allcoven, der an das Krankenzimmer stieß, und hieß ihn behutsam eintreten. Leise verschob sie die seidene Gardine von der Glasthür, die ihn nur noch von Erna schied, und er erblickte sie dicht neben sich auf ihrem Lager.

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 293-299.
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