Die Geschwister

[217] Sein Schwesterchen lag krank im Bett. Sie war neunzehn Jahre alt und wunder-wunderschön. Sie hatte ein weisses Nachthemd an mit hellblauer Seidenstickerei.

Sie sagte: »Fürchtest Du Dich, mich zu küssen, weil ich Halsschmerzen habe?!«

Er küsste sie und setzte sich auf das Bett.

Auf dem Nachtkästchen stand in einem Glase eine blassrothe dicke Rose.

Daneben lag ein Band Turgenjew: »Frühlings-Fluthen«.

Auf der Einbanddecke stand innen der Vers:

»Frühlingsrauschen, Goldgeklimper – –. Willst Du tauschen – –?! Lebensstümper!«

Die Schwester sagte: »Albert ist gleich weggegangen; er hat nur das Buch und die Rose gebracht –.«

Von dem Verse sagte sie nichts.

Was sollte sie auch sagen?!

Rauschte denn der Frühling – –?!

Aber Albert schlief keine Nacht und dachte an sie.

Ihm rauschte der Frühling – – –.

Und er würde mit ihr darben und sorgen – –.

Die Schwester sagte zum Bruder: »Weisst Du, Peter, das ist eigenthümlich! So wie wir es uns in unseren Träumen vorstellen, nämlich in den Tag-Träu men, dass einmal Einer sein wird mit uns, so ist[217] Albert. Er ist gleichsam unser lebendig gewordener Traum und doch nur wieder der Traum von Etwas, was nicht da ist und was nicht kommt. Wie wenn man ein Bild sieht von einer Sennhütte. Man erhält Sehnsucht nach der wirklichen – – –.

Er hat alle die kleinen Sorgen und Rücksichten wie eine Mutter und ist doch ein Mann und ein Fremder. Das überrascht uns sehr. Wir verstehen das gar nicht. »Wenn dazu noch etwas Anderes käme« fühlen wir, »wäre es wirklich wunderschön.« Er sitzt bei mir und sagt mir: »Bist Du denn nicht schon müde vom Sticken – –?! Welches sind denn die besten Stick-Nadeln?! Giebt es viele Sorten von Seide?! Du solltest vor dem Schlafengehen Dich nicht kalt waschen, das zerstört die süsse Müdigkeit! Frühstückst Du Thee?! Trinke ihn nur sehr licht, Du brauchst Gott sei Dank noch keine Anregungsmittel. Ich werde Dir morgen den Katalog für das Künstlerhaus schicken. Du musst besonders die Marieen-Legenden von Stachiéwicz betrachten – – –.«

So spricht er mit mir. Alles interessirt ihn. Und so milde ist er – – –. Beim Souper sagte er einmal: »Du isst doch Reis gerne mit Suppe gekocht?! Warum kocht Ihr nicht den Reis mit Suppe, wenn sie es gerne hat?! Das Leben ist nicht so amüsant, diese kleinen Genüsse, die man haben kann – – –?!« So verwöhnt er mich. Es dreht sich doch nicht Alles um mich – – –?! Aber ich werde nicht schlecht davon; ich fühle, dass ich davon gut werde. Das thut so wohl, ein bischen verwöhnt zu werden. Wie der[218] Papagei schliesst man die Augen und lässt sich krauen und sagt: »Noch!«. Er bringt Bücher, Blumen und sitzt stundenlang bei mir. Ich fühle, dass er mich sehr gerne hat. Aber was nützt das?! Er ist ja nur mein lebendig gewordener Traum – – –. Er vergrössert nur die Sehnsucht nach dem, was nicht da ist und was nicht kommen wird.

Und doch! Zum erstenmal im Leben sehen wir in die Tiefe, in die Zartheit einer Männerseele und fühlen plötzlich, das wir Etwas sind, was glücklich und traurig machen kann und dass uns Einer wirklich von ganzem Herzen lieb hat und an uns hängt wie ein kleines Kind an seiner Baba. Und da sollen wir sagen: »geh'!« und sollen ihn heilen?!

Er geht, wenn wir es ihm sagen, er geht – –. Und dann?!

Dann warten wir und warten und warten – –.«

Der Bruder nahm ihre Hand in die seine und küsste sie.

Die Schwester sagte: »Du, hat Dich die Riquetta gern?!«

Der Bruder erwiderte: »Ich bin wie ihr lebendig gewordener Traum von dem, was nicht da ist und was nicht kommen wird – – –. Daher sagt sie manchmal zu mir »geh'!« und manchmal »bleibe!«

So sassen die Geschwister noch lange beisammen.

Er hielt ihre heisse Hand in der seinen.

Die blassrothe dicke Rose duftete – – –.

Es war eine jener seltenen Stunden, in welcher zwei Menschen einander ganz verstanden – – –.[219]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 217-220.
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