Der Kuss

[306] Ich sass auf einer Gartenbank im »Thiergarten.« Auf meinem Schosse sass bibi Akolé und zählte ihr Geld, welches in drei Portemonnaie's wundervoll vertheilt war, in jedem Fache 25 Kreuzer, Geschenke von Bewunderern.

Eine wunderschöne junge Dame kam und ihr Gatte.

Akolé sah die Dame an, stand auf, ging auf sie zu, breitete die Arme aus, wollte sie auf den Mund küssen, weil sie schön war.

Die Dame wich zurück.[306]

Das Kind schmiegte sich an mich an, tief beschämt.

»Madame – –« sagte ich, »ich bitte Sie, ich bitte Sie – – –.«

»Nicht auf den Mund – –« sagte die Dame verlegen.

Ich nahm Akolé in meine Arme, küsste ihren geliebten Mund, dessen Athem wie der Hauch von Abend-Wiesen war.

»Thue es doch – – –« sagte der Gatte, »il sera offensé.«

»Ich kann nicht – – –« sagte die wunderschöne junge Dame.

Da sagte ich: »Diese Dame ekelt sich vor dir, Akolé. Wie eine dumme stupide Mutter benehme ich mich, welche die anderen Menschen nicht begreift. Verzeihen Sie mir, Madame. Ich war wie eine stupide Mutter, das Dümmste, das Beschränkteste, was es auf der Erde giebt. Die Liebe eines Vogelgehirnes ganz einfach.«

Die Dame gab dem Kinde eine Krone.

Das Kind gab sie zurück, sogleich.

Der Gatte dachte: »War das Ganze notwendig?! Solche Überspanntheiten.«

Die Dame sagte adieu, gab mir die Hand, blickte mich traurig an.

Langsam ging das Ehepaar weg.

Akolé verkroch sich in meinen Armen, die sich in unermesslicher Liebe um sie schlossen.[307]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 306-308.
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