Vita Ipsa. Das Leben selbst!

[75] 12. September 1905. Gerichtssaalnotiz.

Der 27 jährige Stationsaufseher K.M., bedienstet in einer kleinen Station nächst Br., war in heißer Liebe entbrannt, wie der »technische Ausdruck« lautet, zu der Tochter eines Bahnarbeiters, der 16 jährigen Marie K ... Das hübsche Mädchen wollte aber von K.M. nichts wissen, weil er ein schlechter Bostontänzer war, Einschrittwalzer!

Sie sagte es am 16. Mai auch ihm direkt ins Gesicht, als er sie am Kirchweihtage zum Tanze führen wollte ...

K.M. gab nicht nach, bat, drängte, flehte, weinte. Das Mädchen ließ sich nicht erweichen, haßte ihn ob seiner Unzulänglichkeiten, stieß ihn von sich. Sie ging mit einem idealen Bostontänzer zum Tanze. Alle sahen begeistert zu und applaudierten. Nun provozierte K.M. einen Skandal. Er wurde gefoltert von Verzweiflungen. Die Mutter der K. bewog das siegestrunkene Mädchen, den Tanzboden zu verlassen.

M. eilte ihnen nach, holte sie bei ihrer Wohnung ein und rief: »Ich kann nicht Boston tanzen, aber ich liebe dich...«

Er schoß dreimal und die K. stürzte blutend zusammen. Die Geschworenen sprachen ihn des Mordes einstimmig schuldig, worauf ihn der Gerichtshof zum Tode durch den Strang verurteilte ...

Er dachte: »Ich konnte nicht Boston tanzen, Einwalzerschritt. Aber ich liebte dich von ganzem Herzen ...«[75]

Der Journalist dachte: »He, aus dieser Sache läßt sich bei einigem Talent etwas Feines machen ...«

Er drehte es, zog es auseinander, walkte es, bog es, erläuterte und schilderte, wie, wo, weshalb, zerstörte die Natur und brachte seinen eigenen feinen Geist, seine Beobachtungsgabe, seine minutiösen Feinfühligkeiten ...

So, daß die Kenner sagten: »Der kann schreiben!« Aber das Leben in seiner einfachen genialen Tragik lachte Hohn über die Bemühungen des Journalisten ...

So wie es sich ereignet hatte in seiner merkwürdigen Primitivität, so war es auch künstlerisch bereits das Vollkommenste!

Der Journalist hingegen nahm die Elogen entgegen seiner Freunde, die zu ihm sagten: »Du hast es wirklich erst ins rechte Licht gerückt ...«[76]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 75-77.
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