À Rebours

[200] Krankheit ist eine Gabe des Himmels: man erfährt es nämlich plötzlich, wie ungeschickt man in den gesunden Tagen gewirtschaftet habe! Man kommt zur Erkenntnis, daß man ein Narr oder ein Verschwender, Vergeuder war von Lebensenergien in irgendeiner Fasson. Wehe dem, der nie daran gemahnt wird! Das Schicksal hat dann tiefere, geheimnisvollere Torturen mit ihm vor, um ihn hinterrücks dem Untergange entgegenzutreiben. Krankheit jedoch ist das böse Gewissen des Unbewußten in uns. Eine edle, sanftmütige Ermahnerin ist es, Umkehr zu halten auf dem Pfade der Sünde. Wehe, wenn mein Gehirn nicht melancholisch wird an falsch oder überflüssig ausgegebenen zehn Kronen! Wehe, wenn es nicht schon sogleich gemahnt wird an seine schändlichen Ungeschicklichkeiten! Der Weg ist dann gebahnt zum Wechselfälscher oder Selbstmörder! Krankheit ist der Alarmruf an die gesunden Kräfte im Organismus, den heimtückisch heranschleichenden Feind rechtzeitig zu bekämpfen!

Der Gesunde pocht auf seine Gesundheit und übernimmt sich! Der Kranke jedoch wird bescheiden! Der Gesunde ist plötzlich ruiniert, der Kranke wird allmählich gesunden! Gesundheit zu erhalten, Krankheit zu beheben, dazu gehört Weisheit, Weisheit, Weisheit! Aber die Gesundheit[200]

weise zu erhalten, dazu wird niemand gemahnt; die Krankheit aber weise zu bannen, dazu gemahnt uns eben das Kranksein! Der Gesunde lebt blind und taub, der Kranke lebt sehend und vernehmend!

Krankheit ist eine Mahnung Gottes, uns, solange es noch Zeit ist, eines Besseren zu besinnen! Gesundheit jedoch ist die Schadenfreude Satans an unseren Überhebungen in jeglicher Beziehung!

Der Gesunde kann plötzlich schwer erkranken, der Kranke kann leicht gesunden! Der Gesunde torkelt dahin, der Kranke geht vorsichtig. Der Gesunde hat keinerlei Achtung vor dem Lebendigsein, der Kranke betet zu jeglicher Stunde ohne Leiden![201]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 200-202.
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