Die Kindheit

[1] Als ich acht Jahre alt war und »Privatunterricht« genoß, sagte man meinen Eltern, es sei für meine »Entwicklung« notwendig, daß ich »öffentlich« unterrichtet[2] werde! Man schickte mich daher in die »Herrmanns-Schule« Schulerstraße. Ich verstand kein Wort, was vorgetragen wurde. Nach acht Tagen war ich wieder »privat«. Überhaupt, wo ich auch öffentlich lernte Zeit meines Lebens, ich verstand nie ein einziges Wort. Das war bei mir »pathologisch«. Es begann schon im Gymnasium. Ich hielt alles für chinesisch. Ebenso auf der »Universität«. Ich hielt vor allem alles für überflüssig und verzwickt. Ich wollte »das Leben direkt, nicht auf gelehrten Umwegen«! In Stuttgart in der Hof-Buchhandlung wollte ich in drei Monaten das theoretisch erlernen, was die »angestellten Kommis« in fünf Jahren erst nicht erlernen! Man sagte mir: »Die Praxis ergibt es!« Ich erlernte weder Theorie noch Praxis. Es war langweilig und geisttötend, obzwar man wenigstens mit »geistigen Werten« handelte. Ich floh von Stuttgart mit ausgeborgtem Geld und hielt es in »Reichenau bei Payerbach, Hotel Thalhof«, für fördernder. Da war herbstlicher Wald, feuchtes Moos, Bergnebel, des Brünnleins Plätschern bei Nacht. Ich vermißte »die Arbeit« gar nicht, mein Vater sagte, er wisse nicht, wohin ich steuere, aber es sei nicht seine Sache. Ich steuerte in die Almen des Schneebergs. Wohin steuern die andern? Pfui!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 1-3.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]