Der Essay

[73] Das Thema lautet: Wieso kommt es, daß Ibsen, der kaum tot ist und so anerkannt war, bereits auf den Bühnen fast antiquiert, ledern, unwirksam erscheint, während August Strindberg, der nie Anerkannte, heute fast auf allen Bühnen favorisiert wird?! Das ist nämlich so: Ibsen war eigentlich ein gestrenger ernster pedantischer sachlicher unbequemer und nachsichtslos logisch-fader Schulmeister der Menschheit in seinem Fache: Moderne Psychologie!

Die Menschheit war gezwungen, in diese harte strenge Schule zu rennen, und aufmerksam zu lernen, wie der »moderne Mensch« ganz drinnen, anatomisch, physiologisch ausschaut! Nachdem sie aber »ausgelernt« hatte, gleichsam »Matura« gemacht[73] hatte in »Verzwicktheiten« mannigfacher Art, geht die Menschheit nicht mehr naturgemäß in diese fade »Schule«!

Anders, siehe, hingegen bei Strindberg.

Er ist das Genie, der Titan, das aus weiten Fernen auf die ganze Menschheit unverständlich und doch belebend herableuchtende Gestirn! Er erzieht nicht, er wirkt, rücksichtslos, eventuell sogar verderblich. Deshalb wendet sich die von Ibsen langsam erzogene Menschheit zu ihrer freiwilligen Läuterung nun dem Strindberg zu! Strindberg ist die Fleißaufgabe des bereits ausgelernten Schülers!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 73-74.
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