Modern

[185] Die meisten jungen schlanken Frauen mit zarten Gliedern und Stumpfnäschen glauben, daß sie einen »P.A.-Typus« repräsentieren. Und obzwar sie in[185] jeder Beziehung versorgt und behütet sind, würde es dennoch ihr »Selbstbewußtsein« erhöhen, steigern, und ihrem Lebens-Tonus in irgendeiner Art zugute kommen! Ja, aber sie ahnen nichts von der mysteriösen Anziehungskraft für das Künstler-Auge ihrer Schulter-Bewegungen, ihrer Arm-Bewegungen, ihres Sitzens, sich Vor- und Rückwärtsbeugens und des mystischen Blickens ihrer verträumten ins Leere spähenden, süßen Augen! Was sie ewig anzieht, rührt, tief sympathisch macht, ist nicht ihr konstitutionelles, lieblich-anmutiges Äußere, sondern das Mysterium einer unbewußten Bewegungs-Genialität oder Ruhe-Genialität, das zum »Niederknieen« oder »Anbeten« unbewußt den Mann drängt! An und für sich sind sie gewiß sehr nette, zarte, liebliche Geschöpfe, aber das Gefühl, in der Nacht für sie nach Haus zu rennen, um ihnen eine für sie gerade wichtige oder angenehme Zigarette zu bringen, lösen sie eben nicht aus.

Unsere »romantischen Empfindungen« lösen sie nicht aus, erzeugen kein Gefühl, für sie wenigstens eine Stunde lang sich aufopfern zu wollen, sich selbst zuliebe. Sie sind ganz nett und treu dem, der für sie gerade liebevoll sorgt, aber das Mysterium ihrer geheimnisvollen Anziehungskraft, das spüren sie nicht. Der »ideale Schwung« in ihrem Leben, das sonst ganz gut versorgt ist, Das »poetisch-romantische« fehlt ihnen, wie der Sauerstoff der Lunge, sie leben dahin, aber die Edel-Emotion fehlt ihnen, die sie zu süßen beweglichen Kätzchen machen würde. Bei aller dankbaren Anerkennung des Gegebenen haben sie ewig die belastende Frage: »Mein Gott, ist das Alles also wirklich schon Alles?!«[186] Sie leben unter dem Drucke befriedigter notwendiger und angenehmer Bedürfnisse dahin, aber das »Juhu« des Bergalmsteigers ist nie in ihnen. Ihre Tage gehen sorgenlos gleichmäßig dahin, und das Altern überrascht sie nicht, da sie es als etwas Notwendiges ununterbrochen vorausahnen. Jemand, der ihre Serviette, mit der sie ihr Mündchen abgewischt haben, heimlich einstecken würde, würde sie verjüngen, beleben. Aber wozu?! Weshalb Komplikationen?! Ruhestörungen eines bequemen Friedens?!? Muß man denn ewig »jugendfrisch« sein, man kann ja auch »gesetzt« werden und vernünftig. »Was mir fehlt, ist vielleicht Karlsbad, Marienbad, Teplitz, Franzensbad, Nauheim!« Nein, Dir fehlt Sehnsucht, Melancholie, Hoffnung, Erwartung, edle Selbstlosigkeit. Aber lassen wir Das. Nicht Jede wagt es, ihre Seele in Bewegung zu versetzen. Es ist riskant und unbequem. Gesicherte Ordnung ist auch eine Art von Gesundheit, wenn auch eine ziemlich ungesunde! Ist denn durchs Leben zu tänzeln nicht gefahrvoll und strapaziös?! Im bequemen Lehrstuhl ein gutes Buch zu lesen, ist gefahrloser und besonders für die Anderen. Zu »tanzenden, hüpfenden, ewig sehnsüchtigen Seelen« gehören eine Menge exzeptioneller, ja genialer Voraussetzungen. Man geht seine Wege, macht seine vielfachen Kommissionen, spricht mit Dem und Jenem, und sagt sanft zu seiner romantischen Seele: »Meine Liebe, überlasse Das gefälligst den Anderen, für Dich hat das Leben leider Gott sei Dank keine gefährlichen Probleme! Ordnung sei also Deine bequeme Lebens-Devise!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 185-187.
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