Verehrte Freundin, Frau J.P.!

[286] Gestern, 15. Juni, lernte ich Sie im »Grabenkiosk« (offenes Kaffee, mein Vormittags-Sommersitz mit trottoir roulant), kennen und siehe, heute sage ich bereits zu Ihnen: Verehrte Freundin! Das ist ein geistiges Reife-Zeugnis für Sie! Sie luden mich sofort nach der Lektüre meines soeben erschienenen »Vita ipsa« ein, den Sommer, drei Monate, in Ihrer Wald-Villa bei Aussee zu wohnen als Ihr illustrer Gast! Ich sagte selbstverständlich freudig zu. Jetzt sage ich selbstverständlich traurig ab. Wollen Sie denn das tragische Schauspiel erleben, erleiden, daß ein auf Ihre Gnade angewiesener Bettler-Dichter größere Ansprüche an eine vorsichtigste Lebensführung stellt als die Reichen, die ihn zu Gast laden!? Wo liegt z.B. das Kaffeehaus zur Allein-Rast und absoluter Sammlung von Allem und Jedem?! 20 Minuten von der Wald-Villa. Unmöglich, es muß 20 Schritte entfernt sein. Ich darf also allein in meinem Zimmerchen die Mahlzeiten einnehmen! Ich esse nie wie ein Gesunder, seit 40 Jahren, sondern[286] wie eine kranke Wöchnerin. Sonst wäre ich längst, nach meinen sieben Jahren gewollten und ungewollten Sanatorium- Lebens längst tot. Eine »lebendige Menschen-Mimose« im Kreise, in nächster, fast greifbarer Nähe, von reichen anspruchslosen Menschen, die den geliebten Dichter zu ihrem erstaunten Schreck als arg verwöhntes, ja hierin unzurechnungsfähiges Kindchen, notabene noch dazu ohne »Launen des Genies«, sondern gefestetster, unzerstörbarster Prodromos-Ansicht, nunmehr leider kennen lernen!

Ein »anständiger« Mensch, verehrte Freundin J.P., hat Ihnen Das, diese Enttäuschung, zu ersparen!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 286-287.
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