48.

Cap. IV. v. 11.

Deine lippen, meine braut, fließen von honigseim: Honig und milch ist unter deinem lippen.

[327] Nach dem lied: Mein hertzens Jesu.


1.

O rosen-mund, komm, küsse mich,

Flöß deine lebens-säffte

Unmittelbar und süßiglich

In die verschmachten kräffte.

Ihr nectar-lippen thut euch auff,

Und laßt dem balsam seinen lauff,

Der wunden heil und häffte.


2.

Du mein jugend meisterin,

Gespielin meiner ehe,[327]

Beherrscherin von meinem sinn,

Mit der ich geh und stehe:

Mein engel und mein reyßgeferth,

Von dem ich nie verlassen werd,

Wenn ich sonst niemand sehe.


3.

Ich hörte so viel schöns von dir

Mich dürst't nach deinen quellen,

Die du ein wenig zwar in mir

Zur labung wollen stellen,

Die aber noch so sparsam floß,

Und nicht die gantzen ströme goß,

Des feuers macht zu fällen.


4.

Nun aber hast du meine braut

So reichlich mich gelabet:

Dein mund hat mir sein hertz vertraut,

Dein einfluß mich begabet.

Wie trieffen deiner lippen paar

Von honig, das sonst theurer war,

Als was ihr bienen habet.


5.

O zucker-mund, ich halte mich

Noch immer an die flüsse:

Ich werd nicht satt, ich frage dich

Durch widerholte küsse

Des glaubens um dein edles thun.

Ich will in deiner lehr beruhn,

Damit ich alles wisse.


6.

Thu dein geheimnuß ferner auff,

Vertraue mir dein hertze

Und was der arge spötter-hauff

Vor thorheit hält im schertze,

Das muß mir krafft und weißheit seyn,

Ja selbst der Gottheit starcker schein,

Der mich befrey vom schmertze.
[328]

7.

Die salbung, die ich hab gefaßt,

Die muß mich alles lehren.

Dem schlüssel Davids, den du hast,

Soll nichts den Aufschluß wehren.

Ich hang so lang an deinem mund,

Biß mir die gantze füll wird kund,

Den wachsthum zu vermehren.


8.

So laß die kräffte der natur

Durch diesen kuß versüßen.

Es spür die gantze creatur

Die krafft von liebes-küssen.

Die neugeburt mach alles neu,

Daß ich dein rechter erbe sey

Dein ewig zugeniessen!

Quelle:
Gottfried Arnold, München 1934, S. 327-329.
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