VI

[1] Der 18. März ist wirklich ein denkwürdiger Tag in der preußischen – ich wollte sagen: deutschen Geschichte. Nicht etwa darum, weil Mailand und Berlin an diesem Tage »Revolution« gemacht haben – eine Thatsache, die übrigens von der extremen Demokratie, und daher natürlich auch von der extremen Aristokratie einmüthig bestritten wird; – noch viel weniger darum, weil in Preußen an diesem Tage der Absolutismus gestürzt wurde – denn auch daran wird von den rothen – und schwarzweißen Enthusiasten nicht geglaubt; – am allerwenigsten aber darum, weil der 18. März der Vorabend des Geburtstages der Berliner Bürgerwehr, jener durch ihr[1] Motto des »passiven Widerstands« auf deutsch: der aktiven Feigheit berühmten Phalanx, war: – sondern weil sicherlich kein Tag mehr verflucht und gesegnet, mit Füßen getreten und in den Himmel erhoben, betrauert und gefeiert, geschmäht und besungen ist, und das Alles mit Unrecht. – Der 18. März ist unschuldig wie ein neugebornes Kind, das Berliner Volk hat es sattsam dadurch bewiesen, daß es mit ihm gespielt hat, wie mit einem Kinde. Denn man muß wissen, daß das Berliner Volk selbst noch ein Kind war, obgleich ihm an diesem Tage die Wiege nicht mehr – wie Schiller sagt – als ein »unendlicher Raum« erschien, wie bisher, weshalb es denn auch herauszusteigen versuchte; daß der Versuch nicht gelang, daß es sich nachher, als der rechte Zuchtmeister kam, in den Winkel des passiven Widerstands verkroch und schließlich wieder folgsam in die alten Windeln wickeln und in die alte Wiege hineinlegen ließ, das ist für ein Kind, dem die Ruthe gezeigt wird, ja ganz natürlich. Also warum so viel Aufhebens vom 18. März? –[2]

Die Bewegung, deren Schlußakt die Nacht vom 18. zum 19. März bildete, hatte sich schon einige Wochen vorher angekündigt. Eine dumpfe Gährung, über deren Ursache sich nur wenige Rechenschaft geben konnten, hatte sich der Gemüther bemächtigt. Trotz der unfreundlichen Witterung waren die öffentlichen Plätze und Promenaden fast den ganzen Tag über mit Menschen übersäet, die entweder zu Gruppen zusammentretend aufmerksam auf eine Stimme lauschten, die aus ihrem Mittelpunkt hervordrang, oder paarweise dahin schlendernd mit lebhaften Gestikulationen über die neuesten Dekrete der provisorischen Regierung in Paris diskutirten. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich in den Restaurationen, Kaffeehäusern und Conditoreien. Besonders in der »Zeitungshalle« und bei »Stehely« fand sich gegen 6 Uhr Abends, wenn die neuesten Zeitungen vom Rhein ankamen, stets ein zahlreiches, aus Gelehrten, Künstlern, Beamten, Officieren u.s.w. zusammengesetztes Publikum ein, und horchte Kopf an Kopf gedrängt mit angehaltenem Athem auf[3] die Worte Dr. R-s, welcher bei Stehely meist das Amt des »Vorlesers« übernahm. War die Vorlesung, welche häufig mehrere Stunden dauerte, und nur durch einzelne halbunterdrückte Exklamationen unterbrochen wurde, welche entweder dem Staunen über das Vorgelesene oder einer unzeitigen Störung galten, beendet, so lösete sich die lang gefesselte politische Phantasie der Zuhörer zunächst in einem unverständlichen Summen auf, das nicht unpassend mit dem fernen Brausen des Meeres oder dem düstern Grollen eines nahenden Orkans verglichen werden kann, bis es endlich crescendo in tosenden Wogendrang einer allgemeinen politischen Discussion ausbrach. Ungefähr eine Woche vor dem 18. März war wieder Abends eine zahlreiche Gesellschaft bei Stehely versammelt, welche mit Ungeduld die »Kölnische Zeitung« erwartete. Das Gedränge in den engen Zimmern war groß, so daß man sich nur mit Mühe hindurchzudrängen vermochte. Fern oder wenigstens unberührt von dem lauten Treiben der politischen Menge saßen in einer ziemlich dunkeln Ecke zwei[4] Männer, welche sich von Zeit zu Zeit kurze Bemerkungen über die einen oder andern Gäste zuflüsterten. Der Aeltere von ihnen mochte zwischen 40–45 Jahre zählen, obschon sein Alter schwer zu bestimmen war. Denn seine breite, kluge Stirn war bereits mit vielen Runzeln bedeckt, während das hellbraune nach oben strebende Haar noch seine ganze Fülle und das hellbraune Auge noch seinen vollen Glanz besaß. Der militärisch kurz gestutzte Schnurrbart trug viel zu dem Ausdruck offner Männlichkeit bei, welcher der ganzen Erscheinung aufgeprägt war. Sein Begleiter saß fast ganz im Schatten, so daß man die Züge seines auffallend bleichen Gesichts nicht genau erkennen konnte.

– Lassen wir diese Phantasten – sagte der Letztere – und erzählen Sie mir, wie der König die Nachricht von der beabsichtigten Demonstration aufnahm.

– Er war mehr davon alterirt, als es meiner Ansicht nach der Gegenstand verdient. Auf der andern Seite hat er den Excedenten mehr Rücksicht[5] bewiesen, als zuträglich war. Ich fürchte, mein Prinz –

– Nennen Sie mich hier nicht so, Herr von M. Nun fahren Sie fort, was fürchten Sie?

– Ich fürchte, die halbe Maßregel, welche er anwendet, wird weder befriedigen noch entmuthigen, und daher erbittern und zur Aufregung beitragen. Hätte mir der König für das Gespräch, welches ich mit den »Führern« vorgestern in der Zeitungshalle hatte, plein pouvoir gegeben, so stände die Sache jetzt anders. Man muß, wenn man einem ungekannten Feinde gegenübersteht, seine Entschlüsse nach dem Eindruck des Augenblicks formiren. Und vollends diesem Feinde gegenüber war es ein Kinderspiel zu siegen. Soviel Untiefe, Taktlosigkeit – ja Knabenhaftigkeit habe ich nicht vermuthet. Werden Sie es glauben, daß sie nicht wußten, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollten?

Sie fühlen sich Alle geschmeichelt in dem Gedanken an die Wichtigkeit ihrer Person, die dadurch dokumentirt wurde, daß der Polizeipräsident[6] in Höchsteigener Person und in voller Gallauniform zu ihnen kam, um zu unterhandeln; aber die Einen suchten ihrer Eitelkeit dadurch Luft zu machen, daß sie grob wurden, die Andern wurden im Gegentheil verwirrt und äußerst höflich gestimmt. Aber bei keinem Einzigen fand ich eine Spur von Selbstbeherrschung und wahrem Bewußtsein. Sie wollen politische Würde zeigen, und werden tölpelhaft, sie möchten den großmüthigen Feind spielen und machen sich lächerlich. – Wäre es nach meinem Sinne gegangen, so hätte man ihnen gewähren lassen. Die Kinder, wissen Sie, werden ja zuletzt jedes, auch des schönsten Spielzeugs überdrüssig.

Herr v. M. hatte, während er in dieser Weise von der seit einigen Tagen in der Stadt begonnenen Bewegung sprach, seinen Blick mit scheinbarer Unbefangenheit auf die edlen aber abgespannten Züge des Prinzen geheftet, als wollte er darin den Eindruck lesen, welchen seine Worte auf ihn hervorbringen würden. Aber der Prinz hatte wohl kaum darauf gehört; er blickte zerstreut in[7] die auf- und abwogende Menge und schaute erst wieder auf, als jener schwieg.

– Und Sie glauben also – sagte er, seine Gedanken sammelnd – daß hinter dieser Demonstration nichts Tieferes steckt?

– Es ist möglich, daß geheime, hinter den Kulissen verborgene Kräfte die Drähte bewegen, welche diese Marionetten in Bewegung setzen, ja ich bin fast davon überzeugt. Auch habe ich über gewisse Personen sogar schon meine Vermuthungen. – –

Das rasch aufblickende Auge des Prinzen, der in diesem Augenblicke an den Chevalier dachte, begegnete dem forschenden Blicke des Polizeipräsidenten. Jeder bemerkte den Ausdruck in den Blicken des Andern. Nur der Prinz hatte eine richtige Ahnung von dem, was Herrn v. M. in diesem Moment beschäftigte, während dieser in Betreff des Prinzen auf ganz falscher Fährte sich befand.

– Verehrtester – sagte der Prinz mit ironischem Lächeln – welchen Preis würden Sie für[8] die Entdeckung einer Verschwörung in optima forma zahlen?

– Königliche Hoheit – –

– Ich habe Sie schon einmal gebeten – unterbrach ihn ungeduldig der Prinz – auf mein Inkognito Rücksicht zu nehmen; viel zu oft schon für einen Polizeipräsidenten. Und nun einen freundschaftlichen Rath: Ich liebe die Spionage selbst vom Chef der Polizei nicht. Wenn Sie also einen Anspruch auf mein Vertrauen machen, so legen Sie mir gegenüber Ihr Polizeibewußtsein ab.

– Ihre Vermuthung beruht auf einem Irrthum – erwiederte lächelnd Herr v. M. Er lächelte immer, wo andere Menschen in Zorn oder in Verlegenheit gerathen wären – auf einem doppelten Irrthum. Wie, wenn mir aus ganz andern Gründen, als Sie vermuthen, daran gelegen wäre, zu erfahren – –

– Ob ich conspirire?

– Nein, das ist Nebensache; welcher Partei Sie eventuell angehören würden?[9]

– Und welche Motive könnten dies etwa sein?

– Die – wenn ich so sagen darf – freundschaftlichsten.

– Also zum Exempel?

– Weil ich wünschte, daß wir über gewisse politische Herzensneigungen sympathisiren und –

Eventuell dafür conspiriren möchten?

– Eventuell, wenn's sein muß, diplomatisiren möchten.

– Wissen Sie denn nicht, daß es für einen Polizeichef schon gefährlich ist, wenn er überhaupt »politische Herzensneigungen« besitzt?

– Wenn er sie besitzt – nein; aber wenn er diesen Besitz gesteht – ja.

Doch wir beginnen bereits zu diplomatisiren, merke ich und ich wünschte, mit Ihnen in der That offen verkehren zu können.

Es lag eine nicht zu verkennende Herzlichkeit in dem Tone des Polizeipräsidenten, so daß der Prinz nicht umhin konnte, ihm die Hand zu reichen.[10]

– Das können Sie – sagte er mit Wärme – indem er sich erhob.

Arm in Arm verließen sie als wirkliche Freunde den Saal, in dem die Vorlesung bereits begonnen hatte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Man wird sich erinnern, daß später Herr v. M. – wie man sagte, wegen zu großer Popularität seines Postens enthoben und auf – Reisen geschickt wurde.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als sie die Linden hinabschritten, machte Herr v. M. den Prinzen auf die große Menge der nach der Versammlung unter den Zelten hin Ausströmenden aufmerksam.

– Zwei Dritttheile von ihnen – sagte er – sind Neugierige, die mit demselben Interesse nach einer Menagerie wie nach einer Volksversammlung ziehen. Von dem übrig bleibenden Dritttheil derer, die aus wirklichem Interesse an der Sache theilnehmen, müssen wir mindestens ein neues Dritttheil Phantasten rechnen und ein anderes Dritttheil[11] Unzufriedene aus Prinzip, oder Eigennützige, die aus Eitelkeit oder andern Motiven sich einen Namen erwerben wollen. Das letzte Dritttheil aber besteht aus Spionen und den wenigen ehrlichen und wirklich politischen Gebildeten. –

– Was ist Ihnen, Prinz? – wandte sich plötzlich Herr v. M. an diesen – Sie zittern. –

Die Lippen des Prinzen zuckten convulsivisch, aber es drang kein Laut aus Ihnen hervor. Er deutete nur auf einen elegant gekleideten Mann vor ihnen, der mit einer an seinem Arm dahinschreitenden Dame in lebhaftem Gespräch begriffen war.

Herr v. M. lächelte. Es ist der Chevalier St. Just – sagte er leise, wie zur Beruhigung des Prinzen.

– Ich weiß es – flüsterte dieser – und die Dame?

– Die Dame – erwiederte Herr v. M. mit Unbefangenheit – ist eine gute Freundin von mir.[12]

Der Prinz athmete wieder auf: es war also nicht die Gräfin Bedford.

– Eine gute Freundin des Polizeipräsidenten – meinte der Prinz, welcher sich zur Gleichgültigkeit zwang – in der That, ich hätte nicht gedacht, daß sogar Sie das allgemeine Schicksal theilten, betrogen zu werden.

– Betrogen zu werden? – wie so? Weil meine gute Lucie mit dem Chevalier nach der Volksversammlung unter den Zelten geht? Wahrlich, Sie haben recht, ich wäre nicht werth, Polizeipräsident zu sein, wenn meine Geliebte es wagen dürfte, mich auf offner Straße zu compromittiren.

– Also wußten Sie um diesen Spaziergang?

– Er geschah auf meine ausdrückliche Bitte.

– Ah so. Der Zweck ist also ein Staatsgeheimniß?

– Im Gegentheil: es geschah in Ihrem Interesse.

– Sehr verbunden. Und Sie meinen, es wird Ihrer Freundin gelingen?[13]

– Es ist bereits gelungen. Als wir sie passirten, hat sie mir den Stand der Dinge mitgetheilt.

– Sie hat uns ja nicht bemerkt – sagte der Prinz, dessen Erstaunen wuchs.

– Daß es Ihnen so schien, ist mir ein Beweis mehr für das Talent meiner Freundin. Doch ich vergaß, Sie zu fragen, ob Ihnen Baronin Alice über den Chevalier Mittheilungen gemacht?

– Ja, und wie mir dünkt, sehr wichtige. Erlauben Sie mir vorher eine Frage: Ist Ihnen der Name Gilbert bekannt?

– Gilbert? – Gilbert? sagte Herr v. M. mit bedächtigem Tone, als suche er in dem Schatze seiner polizeilichen Erinnerungen nach Etwas. – Ists mir doch, als hinge dieser Name mit einem gewissen Vorfall in Straßburg zusammen, der großes Aufsehen machte. Es handelte sich dabei um den Raub einer jungen Dame von hohem Adel, veranlaßt, wie man damals sagte, durch den Fürsten Lichninsky. Richtig, jetzt er innere ich mich. Gilbert ist seit langer Zeit im Dienste des Fürsten und von diesem zu Mancherlei benutzt worden,[14] zum Beispiel als Unterhändler bei der Herzogin Nagas und bei andern dergleichen Geschäften. Auch hier in Berlin hat er vor einigen Jahren eine Rolle gespielt. Er war es, welcher den famösen Perlhalsbandbetrug gegen die Solotänzerin Philippine durchführte, wegen dessen der Fürst von dem verstorbenen Könige aus Preußen verbannt wurde und nach Spanien ging.

Gilbert ist von Geburt ein Deutscher, aus Wien, wenn ich nicht irre. Aus unbekannten Ursachen, das Gericht sagt: aus unglücklicher Liebe, ging er nach Frankreich und nannte sich nach seiner Mutter, welche eine Französin war, Gilbert.

In Paris lernte er den Fürsten kennen, liirte und compromittirte sich mit ihm bei dem Straßburger Vorfall und wurde zu lebenslänglicher Galeerenarbeit verurtheilt. Er bewerkstelligte jedoch bald seine Flucht, trieb sich dann in Algier und Italien umher und kehrte unmittelbar vor der französischen Revolution nach Paris zurück. So weit reichen meine Berichte. Gestern ist mir dieser Name wieder hier in Berlin begegnet – bei[15] welcher Gelegenheit, weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen, – doch, der Gefangenwärter eines des Diebstahls verdächtigen Maschinenarbeiters aus der Borsigschen Fabrik, Namens Ralph – –

– Der völlig unschuldig ist – bemerkte der Prinz.

– Sie kennen ihn?

– Durch Alice.

– Hm!! – Also dieser Gefangenwärter zeigte mir an, daß Ralph einige Mal im Selbstgespräch mit drohendem Tone den Namen Gilbert ausgerufen.

– Ist der arme Mensch schon wieder frei?

– Nein. Zwar hat der Chevalier St. Just das Mißverständniß mit dem Goldstück aufgeklärt, doch habe ich höhern Orts Befehl erhalten, die Freilassung noch zu verschieben. Wie kommen Euer Königliche Hoheit jedoch auf Gilbert?

– Alice hat recht gehabt: er ist ein Verräther – sagte leise der Prinz, und fuhr dann fort:[16]

Dieser Mensch scheint vom Schicksal bestimmt, mir überall, wo ich ihn finde, hindernd den Weg zu versperren, meine liebsten Wünsche zu vernichten. Zuerst trat er mir in Straßburg entgegen. Jenes Mädchen, es war nicht von hohem Adel, wie Sie sagten, aber ein Engel an Liebreiz und Unschuld – jenes Mädchen, das, nachdem sie den schändlichsten Verführungsversuchen und den niederträchtigsten Verläumdungen, welche auf meine Rechnung geschmiedet wurden, widerstanden, endlich durch eine teuflische List dem fürstlichen Wüstling in die Arme geführt wurde, war – meine Geliebte, und der Nichtswürdige, welcher das Bubenstück dem Fürsten ausführen half, war jener Gilbert, den wir bei der Gräfin Bedford unter der Maske des Chevalier St. Just kennen gelernt haben.

Herrn v. M. entfuhr ein Ausdruck des Erstaunens.

– Wo waren meine Augen – fuhr der Prinz in verbissener Wuth fort – daß ich den Elenden nicht gleich erkannte! Aber eine geheime Stimme[17] sagte mir, daß ich ihn hassen müsse. Ich glaubte aber den Grund dieses Hasses in meiner Eifersucht rücksichtlich der Gräfin suchen zu müssen.

– Vortrefflich – sagte nach einer Pause Herr v. M. – der Vogel ist so gut wie gefangen. – Lassen Sie mich dafür sorgen.

Inzwischen waren sie bei den »Zelten« angelangt, wo bereits um die fast in der Mitte des Platzes stehende Tribüne eine große Menge Volks versammelt war. Die an den Pfeilern der Tribüne angebrachten Oellampen warfen ein trübes Licht über die Menge und auf die düstern Rumpfe der blattlosen Bäume des Thiergartens.

Das unheimliche Colorit der ganzen Scene wurde durch den herabrieselnden feinen Nebelregen noch mehr verdüstert.

Auf der Balustrade der Tribüne, den linken Arm um den Pfeiler geschlungen, stand ein junger Mann, welcher mit lauter, fast schreiender Stimme die an den König gerichtete Adresse verlas, welche nun, da der König die zur Ueberbringung derselben gewählte Deputation nicht empfangen wollte,[18] auf anderm Wege an ihn abgesandt werden sollte. Man hatte die Stadtverordneten, welche ebenfalls eine Adresse vorbereitet hatten, ersucht, die von der Volksversammlung beschlossene der ihrigen beizulegen. Dies war abgeschlagen worden. Es traten Redner auf, welche für Wiederholung des Gesuchs um eine Audienz sprachen. Andere erklärten offen, man müsse für die Deputation eine Audienz erzwingen, und schlugen daher eine Ministerpetition vor. Wie gewöhnlich bei solchen Versammlungen ernteten auch hier die extremsten Redner den meisten Beifall.

Diese psychologische merkwürdige Thatsache läßt sich aus demselben Grunde erklären, der uns den Aufenthalt in warmen Zimmern desto angenehmer macht, je drohender draußen der Sturm tobt und der Regen die Fensterladen peitscht. Der Wanderer draußen hat natürlich einen andern Begriff davon. Es beruht dies nur auf »Ansichten.« Die Petition wurde also beschlossen. Gegen 12 Uhr trennte sich die Menge, und zog in großen Trupps singend und disputirend dem Thore zu.[19]

– Welches Prognostikon stellen Sie dieser Bewegung? – fragte Herr v. M... den Prinzen, indem sie sich von dem Strome des Volks mitforttragen ließen.

– Ich muß gestehen, daß trotz des vielen Unpolitischen, Uebertriebenen und Abenteuerlichen in ihrer Begeisterung die Menge dennoch ein – wenn auch nur halbbewußtes – Bedürfniß ihrer politischen Rechte fühlt. Und dann liegt in der Macht, welche ein Gedanke, wie absurd er auch sonst sein mag, auf eine große Menge ausübt, sie wie ein Mann zu fühlen und zu denken zwingt, immer etwas Imposantes, selbst Ehrfurchtgebietendes für mich. Und Sie?

– Sie sind glücklich, sich so in die objektive Gegenwart vertiefen zu können. Ich habe denselben Eindruck gehabt wie Sie, aber es war kein erfreulicher. Ich denke mit bangem Herzen an die Ströme Blutes, welche dieser Enthusiasmus der Menge für eine politische Idee als Consequenz fordern wird.

– Sie sehen zu schwarz – mein Lieber. –[20]

Herr v. M. lächelte. Ein Vorwurf, der mir in diesem Falle schmeichelhafter ist, als Sie denken. Denn es liegt darin die Anerkennung, daß das Polizeihandwerk mich nicht bornirt hat. Aber im Ernste: ich bin fest überzeugt, daß die Begeisterung des heutigen Abends das Signal zu einem Bürgerkriege sein wird, dessen Ende sehr zweifelhaft sein dürfte. Oder glauben Sie, daß das einmal erwachte Rechts- und Freiheitsbewußtsein des Volks sich eben so leicht wieder in Fesseln schlagen läßt, als es in den Fesseln zu halten war? Nein, nein! Gerade der Glaube an die Möglichkeit, oder doch an die Leichtigkeit einer solchen Wiederfesselung wird den Sieg zweifelhaft machen.

– Wie aber, wenn man an die Wiederfesselung nicht dächte, dem Strome seinen Lauf ließe, wie dann? So hätten wir eine Ueberschwemmung zu fürchten, nicht wahr?

– Nein, oder doch eine, welche nicht verheert, sondern befruchtet. Aber das sind Chimären, an deren Möglichkeit Sie im Ernste nicht denken können.[21]

Der Prinz schwieg.

– Haltet ihn fest! Laßt ihn nicht los! Schlagt ihn todt, den Spion! – tönte es plötzlich im Rücken der beiden Dahinwandelnden. Eine gährende Bewegung fluthete durch die Menge. Man drängte, fluchte, stürzte durch einander, ohne in der Dunkelheit weder Freund noch Feind zu erkennen. Der Prinz trat mit seinem Begleiter aus dem betretenen Wege heraus zwischen die Bäume, um besser beobachten zu können. Das Geschrei und Getose kam näher. –

– Nach der Laterne! nach der Laterne! rief man plötzlich.

– Die Rasenden werden ihn ermorden – rief der Prinz, mitten in den Haufen springend. Kaum vermochte ihm sein Begleiter zu folgen, der ihm zurief, nicht unnütz sein Inkognito abzulegen. Herr v. M. kannte das Berliner Volk besser, er vermuthete ganz richtig, daß man nicht um ein blutiges Exempel zu statuiren, sondern einfach, um den Beschuldigten besser erkennen zu können, nach dem Lichte sich hindränge.[22]

Als man bei einer Laterne angelangt war, die die Hauptgänge des Thiergartens, trotz ihrer enormen Entfernung von einander, die sie als bloße Irrlichter erscheinen läßt, zu erleuchten die Anmaßung haben, erblickte Herr v. M. einen alten Graukopf, welcher mit vor Zorn bebenden Lippen auf einen bleichen Menschen wies, den er mit der linken Hand beim Halstuch gefaßt hielt, während ein junger Mann sich alle erdenkliche Mühe zu geben schien, die Wuth des Alten zu beschwichtigen.

– Ins Dreiteufels Namen, Steiger – hörte Herr v. M., der sich dicht neben Letzterem befand, ihn dem Alten ins Ohr flüstern – wollt' ihr uns denn Alle ins Unglück stürzen? ... Das Weitere war nicht zu vernehmen, doch schienen die Worte ihre Wirkung auf den Zornigen nicht zu verfehlen. Er ließ das Halstuch fahren und packte den Angegriffenen beim Arm.

– Schlagt ihn todt, den Spion – ertönte es wieder aus der Menge, die um so lauter diesen Ton ertönen ließ, je weniger sie vom Vorgange[23] bemerken konnte, als wolle sie sich dadurch für die Entbehrung des Schauspiels entschädigen.

– Was ist mit Ralph geschehen? – donnerte der alte Steiger. – Sprich Halunke?

– Was weiß ichs? – erwiederte trotzig der Angeredete, in welchem Herr v. M. jetzt den Chevalier erkannte. – Habt Ihr ihn mir zur Aufsicht übergeben?

Herr v. M.. dachte hier an den alten Spruch der Bibel: Soll ich meines Bruders Hüters sein? Aber er schwieg.

– Schon recht, Du willst nicht bekennen, weil ichs Dir nicht beweisen kann. Aber nimm Dich in Acht, Judas, ich werd's schon erfahren und dann werd' ich Dich schon auch zu finden wissen. Jetzt –

Herr v. M..., der den alten Steiger als ehrlichen, obgleich wunderlichen Menschen kannte, trat näher zu ihm heran und flüsterte ihm ins Ohr:

– Nehmt Euch vor unnützen Reden in Acht, Steiger, es könnte Euch schaden. Auch sorgt, daß[24] der Kerl seines Wegs geht. Morgen, wenn Ihr Vormittags zu mir kommt, sollt Ihr Ralph sehen. Und nun macht dem Dinge ein Ende.

Verwundert drehte sich beim Ton dieser Stimme der Alte um, aber während er sprach, stand Herr v. M... im Schatten, und war gleich darauf im Dunkeln verschwunden.

– Schlagt ihn todt! erschallte es wieder aus der ungeduldig werdenden Menge.

– Ruhe, Ihr da hinten – brüllte Steiger. Man konnte jetzt das Fallen der vom Winter übriggelassenen Blätter hören. – Wir wollen ruhig nach Hause gehn, Kinder, so muß's sein. Es ist ein Irrthum gewesen mit dem Spion. Dummes Zeug, weiter nichts. Und nun kommt!

Während noch Steiger sprach, hatte Gilbert die Gelegenheit benutzt, und war still durch die Menge hindurch in den Wald geschlüpft. Erst als er mehrere hundert Schritte vom Schauplatz, der eben erzählten Begebenheit entfernt war, hielt er an und sah sich um. Er hörte noch die letzten[25] Worte des alten Steiger herübertönen. Dann setzte die Menge ihren Weg zum Thore fort.

– Das Verderben über die Canaille – sagte er laut, und erhob drohend die Hand. Aber bald wird der Tag der Vergeltung kommen, und dann wehe Euch!

– Ja, der Tag der Vergeltung wird kommen – tönte eine Stimme hinter ihm.

Der Mond warf in diesem Augenblick einen matten Strahl zwischen den Bäumen hindurch. Gilbert erkannte des Prinzen bleiches Gesicht.

– Königliche Hoheit! Sie! – So spät in dieser Waldeinsamkeit. –

Der Prinz achtete auf den Spott in dem Tone Gilberts nicht, sondern blickte ihn stolz verächtlich an, und sagte, sich zur Ruhe zwingend:

– Was hat Dir Deine Heldenthat in Straßburg eingebracht, Seelenverkäufer! – Nicht von der Stelle, Elender. Mich gelüstet's, den Beichtiger an Dir zu spielen. –[26]

Gilbert fühlte die kalten Läufe eines Doppelterzerols an seinen Schläfen. Er sank in die Kniee. –

– Wo ist sie geblieben? – donnerte der Prinz. – Was habt Ihr mit der Unglücklichen gemacht? sprich!

– Tödten Sie mich nicht, Prinz. Ich werde reden.

– Wo ist sie?

– Als die Herzogin hinter den Streich des Fürsten kam, verlangte sie ihre Auslieferung, als Geißel, wie sie sich ausdrückte. – Der Fürst gehorchte, wahrscheinlich war er auch schon ihrer überdrüßig.

– Und die Herzogin?

– Darüber weiß ich nichts Bestimmtes. Der Fürst sprach nicht gern davon. Doch habe ich zufällig gehört, daß –

– Nun?

– Daß die Herzogin den Ausdruck »Geißel« wörtlich genommen, das arme Mädchen, auf einer[27] ihrer »Herrschaften« eingesperrt, und mit Ruthen gegeißelt habe, um sie für ihren künftigen Beruf vorzubereiten.

– O Himmel! – rief der Fürst aus, indem er das Gesicht mit den Händen bedeckte. – Weiter!

– Nachher soll sie sie in ein böhmisches Kloster geschickt haben.

– Genug! – Und Elend, Schmach, Verzweiflung haben die Aermste nicht getödtet?

Gilbert schwieg.

– Geh' von mir! Ich will meine Hände nicht mit Deinem Schurkenblut besudeln. –

– Zum Danke – sagte höhnisch Gilbert – will ich Ihnen eine Nachricht geben, die Sie erfreuen wird: Morgen kommt der Fürst Lichninsky nach Berlin.

Mit diesen Worten war er verschwunden.

Der Prinz aber setzte sich auf einen verdorrten Baumstamm – und weinte.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[28]

Als der alte Steiger am Arm seines Freundes Hartwig das Brandenburger Thor passirte, erblickten sie zu ihrem nicht geringen Erstaunen den »Pariser Platz« mit Dragonern besetzt. Verrath fürchtend, wollten sie wieder zurück, da traten ihnen zwei Jäger mit vorgestreckten Karabinern entgegen. Auf den Pistons blitzten wie Johanniswürmchen die rothen Zündhütchen im Mondenschein.

– Zurück hier! – herrschte man den harmlosen Arbeitern entgegen. Die Hähne knackten. Steiger und Hartwig traten verdutzt einen Schritt zurück und wußten nicht, nach welcher Seite sie sich wenden sollten. Hatte man ihnen eine Mausfalle gestellt? – Eine Droschke fuhr eben zum Thore herein und hielt in ihrer Nähe.

– Geht nach Hause, Kinder, und fürchtet nichts – tönte aus der Droschke eine Stimme, welche Steiger heute schon einmal gehört. Rasch trat er an den Schlag, um Aufklärung über diese drohende Maßregel zu gewinnen. Aber er erblickte[29] nichts, als einen Herrn mit einer Dame; im nächsten Augenblicke wollte der Wagen schon fort.

Es war Herr von M. und seine Freundin Lucie.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– Wir erleben noch was in der andern Woche – sagte bedenklich der alte Steiger, als er mit seinem Freunde Hartwig die vier Treppen zu ihrem gemeinschaftlichen Schlafgemach hinanstieg. – Was sollte das heute mit den Weiß- und Grauröcken bedeuten? – –

– Gut; sie fangen an, uns zu fürchten. Wißt Ihr wohl, Steiger, daß ich mich heute mit einem Gefühl – na, wie soll ich sagen, mit 'nem Gefühl von Stolz auf's Stroh lege.

– Narrheiten sind's, mein Junge, damit holla! Aber denk daran heute über 8 Tage, wenn Du noch daran denken kannst, es wird blutige Köpfe setzen, passe auf! Damit legten sie sich zu Bett. Der alte Steiger war ein Prophet. 8 Tage später um diese Zeit hatte der »stolz gewordene«[30] Hartwig die Worte des »alten Vaters« Steiger bereits vergessen. – Eine Kartätschenkugel hatte ihm den Kopf und damit auch das Gedächtniß weg gerissen. –[31]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 2, Mannheim 1849, S. 1-32.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Revolution und Contrerevolution
Revolution Und Contrerevolution
Revolution und Contrerevolution

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon