III.

[44] Und da war er, eine Stunde seitdem, müßig, einsam auf dem heißen Sofa, der Diener schaffte das Dejeuner. Aber er konnte nicht essen, und er konnte nicht lesen, und er konnte nichts. Kraft und Wille waren ihm weggeschöpft. Und er haderte nur mit sich selbst.

Und er bäumte sich wehrhaft gegen den Hader und stopfte die Ohren und verhärtete und verstockte sich mit Fleiß und trotzte der Reue. Möglich, daß es dumm und läppisch gehandelt war und häßlich noch obendrein an dem Freunde. Aber nun war es geschehen und es hatte ihm einmal beliebt.

Er würde sich hüten, wieder umständlich Reue und Leid zu erwecken zur eigenen Qual und niemandem zu Nutz. Dieser Wahnsinn war heillos. Er hatte Proben.

Und nein – und nein – es war kein Wahnsinn. Die Gerechtigkeit schuldete er sich selbst, daß es Grund und Vernunft hatte, deren er sich nicht zu schämen brauchte. Nur freilich die Wirkung war dumm.[45]

Von seiner besten Tugend gerade, ja, das war deutlich, kam's her, von seinem freien Stolze, ohne den er nimmermehr dieser verwegene Künstler geworden, von seiner einsamen Kühnheit, welche die Art des Pöbels verschmähte, vom freudigen Bewußtsein seiner sicheren Kraft, die außer sich nichts brauchte und darum nichts dulden wollte außer sich.

Nein, er hatte sich nicht zu schämen, ob es den anderen auch Narrheit galt, dem Urteile nach dem Scheine. Stolz konnte er sein, vielmehr, und sich loben, und wenn er sich nur recht deutlich wurde und den Zusammenhang erkannte, das war bei weitem vernünftiger, als sich vor sich selber zu verheimlichen und über sich selbst zu belügen aus Gehorsam, bloß gegen das Beispiel der anderen. Er hatte es nicht nötig.

Ja, es verlor ihm manchen Freund und oft, viele Stunden schon hatte es ihm verbittert. Immerzu! So war er einmal beschaffen, so war er es von Geburt, daß er den Zwang nicht vertrug und sich auflehnte gegen das fremde Gebot, fanatisch zugethan der Freiheit.

Er war immer so gewesen, so lange er sich erinnerte, unwandelbar; es war ihm die Freiheit – anders ließ es sich nicht sagen – ein körperliches Bedürfnis, und als körperlichen Schmerz geradezu, als brännte ihn heißes Eisen, empfand er es, fremdem Willen zu begegnen, daß noch etwas da war außer ihm, anders als er und etwa gar feindselig gegen ihn, was er, wenn er es recht überlegte, nimmermehr[46] zu fassen vermochte. Das Fremde, das Andere, was nicht er selbst war, – wie vor einem tödlich Schaurigen und Gespenstigen entsetzte er sich davor, das über die Vernunft und widernatürlich war, und es gab ihm Fieber und Krämpfe. Er konnte es nicht verwinden, mit allen Entschlüssen und Vorsätzen nicht.

Einen Trotzkopf deshalb nannten sie schon den Knaben, der Eltern und Lehrern, später manchem Freunde, aber sich selbst immer am meisten, Leid damit anthat, und schalten, daß er eigensinnig sei bis zur Narrheit. Aber nein, sein Wille war gar nicht trotzig, wie sie ihn beschuldigten, unbändig und überwachsen, sondern oft umgekehrt, wenn er sich besann, hatte er sich vielmehr der Schwäche angeklagt, und sichere Kraft seiner Entschlüsse vermißt. Vorsätze auszuführen mißlang ihm häufig, und manche Absicht entbehrte der inneren Gewalt zum Dienste. Erst wenn er einem anderen begegnete, der ihn beugen wollte oder auch nur sich dessen verdächtig machte, dann erst, wie von plötzlichem Stoß und Erschütterung, erwachte sein Wille auf einmal aus so langer Ohnmacht, mit hastiger Begierde nachzuholen, was er in der Lähmung versäumt, und zu ersetzen. Das freilich wuchs dann ohne Maß.

Launisch nannten sie ihn. Ja, warum ließen sie ihn denn nicht und mischten sich immer in ihn und kneteten jeder an ihm, und jeder wollte ihn verwandeln und jeder ihn nach seiner Vorschrift zwingen und keinem war er recht! Da freilich verlor er alle[47] Besinnung zuletzt, von so viel Feindschaft gehetzt, und schlug mit den Flügeln gegen Decke und Boden, wirr im Kreise flatternd mit hastigen Stößen, taumelnd vor Todesangst, wenn ohne Unterlaß so immerfort an allen Stäben des Käfigs getrommelt und gehämmert ward, ein höllisches Toben. Warum ließen sie ihn denn nicht frei? Das hatte ihn verdorben, dieses allein, ohne seine Schuld, daß der Zwang, nichts als ewig der Zwang, der dumme, rohe, herrische Zwang überall auf ihn lauerte, aus tausend Fallen, bald räuberisch mit offener Gewaltthat, bald tückisch, in schmeichelnden Rat vermummt und mit Güte und Freundschaft geschmückt, aber unnachgiebig in täglichen Fehden; da war denn am Ende dieser Verfolgungswahn über ihn gekommen, in dem er sich peinigte und die anderen, rastlos, mißtrauisch, argwöhnisch gegen die ganze Welt.

Ja, es war ein Wahn, krankhaft und wider die Vernunft, er leugnete es gar nicht. Eben dieses wieder mit dem Bildhauer – das neueste Beispiel; doch war er um Beispiele nicht verlegen, die alle Tage vorkamen. Übrigens, der würde sich trösten, rasch, es war ihm nicht bange; der hatte darin schon manche Erfahrung.

Immer die nämliche Geschichte, immer dieselbe. Er hatte ja aufs Land gewollt, er selber und er zuerst, und darum allein war er hinüber. Aber da ihm der andere zuvorkam mit diesem nämlichen Vorschlage, mit seinem eigenen Vorschlage, da er seinem Willen in dem anderen begegnete, in diesem Augenblicke –[48] ja, da ... ja, erklären ließ sich das nicht, erklären ließ es sich nicht; es war ohne Zweifel Wahnsinn, nichts weiter.

Aber nur immer: dieses sollte er thun und jenes sollte er lassen, die gleiche Litanei seit der ersten Kindheit, und immer nur »sollte« und »sollte«, und was er wollte, das einzig wurde er niemals gefragt, und so, in dieser entsetzlichen Knechtschaft, war der ungeheure Drang über ihn gekommen, einmal er selbst zu sein, endlich, und die ungeheure Angst, immer ein anderer zu sein, ewig. Nun mochten sie's tragen, wenn sie davon litten. Ihre Schuld, ihre Schuld allein, ganz allein, der Verschworenen gegen seinen Willen, wenn er kopfscheu und toll geworden, am Ende.

Was ließ ihn der Bildhauer nicht seinen Vorschlag thun, geduldig, bis er seinen Willen entfaltete? Nun wären sie draußen im duftenden und singenden Frühling längst, nach dem er so glühende Sehnsucht trug, unter Blüten und in Scherzen – statt dieser einödigen Pein mit häßlichen und unnützen Gedanken in dem verfluchten Marterloch! Konnte er nicht warten? Mußte er ihn gleich mit seiner Absicht überfallen, feindlich über ihn her, daß er verschüchtert, geängstigt, überrumpelt, in dieser großen Not alle Besinnung verlor?

Er wollte aufs Land – ja, er selber, genau wie es der andere vorschlug, gewiß. Aber er wollte aufs Land aus freiem Entschlusse, weil es sein Wille war, und nicht auf fremden Vorschlag, dem anderen zu[49] Liebe und zu Gefallen. Und eher, bevor er fremdem Willen sich beugte, eher verzichtete er noch auf den eigenen lieber; und übrigens, seit es der andere wollte, da war es ihm verdorben, es selber zu wollen..

Eine Dummheit sicher in diesem Falle; denn dem Bildhauer fehlte die feindliche Absicht. Eine Dummheit, und verdarb ihm den ganzen Tag mit Verdruß, denn morgen würde es schwer sein, sich gegen Marius zu betragen. Aber er konnte sich einmal nicht, konnte sich nicht erniedrigen, nicht vor dem liebsten Freunde, um keinen Preis, und bevor er sich vergewaltigen ließ – jeden anderen Schimpf wollte er lieber ertragen.

Er hätte nur nicht erst mit langen Lügen und umständlichen Vorwänden sich feige ausflüchten sollen, heuchlerisch wie die anderen. Das nächste Mal, er versprach es sich, wollte er es ihm gleich offen erklären, deutlich und ohne Rest, wie es war. Die Freiheit, die Freiheit – ja, das war notwendig, daß er ihm einmal seine ganze Begierde sagte, wie sehnsüchtig er sie liebte mit diesem herrischen Instinkte.

Das verdroß ihn am meisten, indem er jetzt überlegte, daß er nun erst recht seinen Willen verloren hatte, durch seine Verteidigung gerade. Nun war er erst recht nicht aufs Land. Nun war ihm durch seinen mannhaften Mut gerade erst recht der Wunsch verstümmelt und erwürgt.

Aber so ging's mit Freunden immer. Marius, trotzdem, war noch von den besten, ganz sicher, weil er selber vieles gelitten; und auch er beschäftigte sich[50] um sich selbst zu sehr, als daß er die anderen viel achtete. Aber am Ende, wenn man's verglich, waren sie alle gleich, einer wie der andere, und immer zuletzt, früher oder später, einmal erwachte der Tyrann in jedem.

Ach, es war nicht zu begreifen, das schaurige, tödliche Rätsel! Daß sie nicht nebeneinander wohnen konnten, der hier, der dort, für sich jeder in seinem Bezirke, ohne Räuberei über die Grenze des anderen! Daß jeder nur aus sich heraus in den anderen drängte, rastlos das ganze Leben im anderen sich festzusetzen und über ihn zu herrschen! Daß man niemals man selbst sein sollte und durfte, nicht eine selige Stunde, sondern ewig nur auf sich verzichten, sich verwandeln, sich zerstückeln, zur Wollust des anderen, immer des anderen! Nein, er begriff's nicht.

Knechtschaft und Dienst – das heischten sie alle und von jedem. Die Lust, in einem anderen sich selber wiederzufinden, den fremden Rest zum Eigentum zu unterjochen und in einem zweiten Leibe dem Willen eine neue Heimat zu schaffen, fremdes Fleisch für die eigene Seele – dieser gierig verschlingende Hunger fraß jede andere Begierde und das hieß Freundschaft! Und er, der verging vor dieser namenlosen Sehnsucht nach einem wirklichen Freunde, der, statt nur immer nehmen zu wollen, sich ihm ergeben und seine Seele bereichert hätte, statt nur immer zu sengen und zu plündern in ihr, unersättlich vampyrisch!

Einsam, einsam – warum wollten sie einen nicht einsam lassen? Gab es nicht ohnedem Qual genug,[51] daß einen grausam noch dieses foltern mußte, unbarmherzig das ganze Leben, das blutige Leiden an der Nachbarschaft? Aber es wühlte und zerfleischte und er sah keine Hoffnung und verzweifelte und selbst die Tiere verdarb es ihm oft und selbst die Dinge und überhaupt alles, was nicht gedacht war.

Ja, dazu am Ende hatte es ihn gebracht, alles zu hassen, was nicht seine Vorstellung war. Er konnte es nicht ertragen. Und er erinnerte sich, daß Geringes oft, lächerlich Geringes, Tobsucht und Tollwut in ihm entzäumte, wie ein auf der Straße gepfiffenes Lied, das im Ohre haftete, die eigenen Gedanken verscheuchte und mit allem Vorsatze unvertreiblich nicht wieder hinauszubeuteln war, oder ein erwünschter Brief, der von der Post nicht ankommen wollte, obwohl er in seinem Bewußtsein längst angekommen war, oder wenn an einem Schalter, während sein Geist es schon erledigt hatte, Gewühl ihn aufhielt – alle diese tausendfältigen mörderischen Erinnerungen, jeden Tag, daß er nicht allein, daß er nicht frei war.

Es kam dann manchmal über ihn, daß er alles hätte zertrümmern mögen, ringsherum, mit Feuer und Schwert alles Lebendige verwüsten, mordbrennerisch und vandalisch jede fremde Spur zerstampfen, um nur ein Ende zu machen mit dem ewigen an ihm herum kommandieren von Menschen und Dingen, das nicht länger zu ertragen war, und sich die Wüste zu schaffen, die stille, stumme Wüste.

Es war die Stimmung des »großen Reinemachens«,[52] wie er es nannte. Nämlich mit seinen Freunden, die ihm zunächst waren, räumte sein Grimm dann auf und die Absagebriefe schwirrten an diesen Tagen, Kündigungen der Freundschaft, mit zornigen Anklagen. Das erleichterte ihn etwas, wenn er so manchen Genossen verbannte, der ihn getäuscht hatte und auch nur ein Mensch war.

Allein, allein – hoch oben irgendwo im Eise oder tief auf dem Grunde des schnaubenden Meeres, wohin kein geller Lärm des täglichen Lebens dränge, und verborgen vor den rauhen, kralligen Griffen des anderen! Die gewöhnlichen und gemeinen – ja, die vielleicht mochten es ertragen, daß ihnen das Ich gestohlen und das Fremde eingeschoben ward: denn sie brauchten das Ich nicht. Aber der Künstler – wie denn, ohne sein Handwerkszeug, wie konnte er denn leben?

Es war der Künstler offenbar, der Künstler in ihm, von dem das Leid kam. Dieses tröstete ihn und erweckte ihm eine beinahe behagliche Vorstellung, in die er sich müde einwickelte, auf dem schweren, breiten, üppigen Divan, über welchem die wilden japanischen Masken höhnisch grinsten, mit ihren struppigen Roßbärten und zerrissenen Maules. Es tröstete ihn, weil es ja gar nicht ein Leid heißen konnte, wenn es ein Zeichen von der Kunst war.

Ja, offenbar der Künstler, der Künstler ... er ward nicht müde, es sich durch Wiederholung oftmals zu bekräftigen. Natürlich, die andern hatten nicht dieses Gefühl des Ich, so überschwenglich und[53] maßlos, und diesen grimmigen Trotz, wie ihm was nahen wollte, und nicht atemlos und fieberisch diese Todesangst, es zu verlieren. Ihnen lag nichts daran, ob sie es besaßen, weil sie sich seiner ja doch niemals bedienten, und ohne es zu merken, entbehrten sie es leicht. Sie konnten glücklich sein. Aber der Künstler!

Freilich, ein Trost war es schon, weil es den Stolz befriedigte, aber diese Folge konnte er sich nicht verhehlen, daß deshalb sein Leid unabänderlich war, ohne Hilfe, hoffnungslos, nicht ein Zufall bloß, der wechseln mochte, sondern ein notwendiges, unwandelbares Schicksal, wenn es nicht an der Welt und ihrer Tücke lag, sondern an ihm selbst vielmehr und seiner Kunst. Und das wieder verdroß ihn gewaltig, nicht daß es so war, aber daß er es begriff. Das nahm ihm nur unnütz erst den Mut und alle Kraft zum Wunsche und selbst den fröhlichen Haß der Menschen und der Welt, der doch, mit Klage und Hoffnung gemischt, immerhin wenigstens eine angenehme Bewegung der Seele gewährte. Er konnte, so lange er sich über die Wahrheit betrog, das Glück beschuldigen und der Zukunft trauen. Jetzt umnachtete es sich völlig.

Aber das war auch von seinen unseligen Gewohnheiten eine, der er durch keinen beschworenen Entschluß sich jemals entwand, tagelang so auf dem Sofa sich in Gedanken unablässig zu schaukeln, eiliger immer und immer höher bis in reißenden Schwindel, und unnachgiebig sich im Gehirn zu stochern, tiefer[54] und tiefer, an die letzten Wurzeln. Er hatte es von Jugend auf, das neugierige Denken über sich, und es war natürlich auch wieder der Künstler, immer der Künstler, der also sich alle Tage die Beichte abzunehmen und alle Winkel des Gewissens zu erforschen nimmermehr ermüden wollte. Wie anders auch durfte er sonst hoffen, am Ende doch einmal das große Geheimnis zu entdecken, irgendwo tief unten am Grunde der Seele, das schlummerte und nicht erwachte?

Dann forschte er denn und forschte in sich und ging sich mit der Laterne ab, als wäre er's gar nicht selbst, sondern irgend ein merkwürdiges Ungetüm, über welches ihm Wache befohlen. So horchte er, hielt den Atem an und beugte sich lauschend, ob es sich noch immer nicht regen wollte, jenes Wunder. Und einstweilen wenigstens verzeichnete er eifrig Zug um Zug, was er fand, damit er sich dann vergewissern könnte, daß er wirklich ein besonderer für sich war, superiore Natur und homme d'élite.

So stellte er seine Seele vor den Spiegel, kämmte sie durch und scheitelte sie. Er dürstete nach der Wahrheit über sich und mit besonderem Eifer vor allem sammelte er aus allen Verstecken das Seltsame gerade, welches ihn von den Gewöhnlichen schied. Er bestimmte es und betrachtete es lange, wie es ihm stünde, und immer wieder versicherte er sich, daß es noch da wäre in seinem Winkel, indem er jeden Augenblick besorgt danach griff. So bewahrte er ängstlich vor allem Wandel seinen Charakter und[55] bekräftigte ihn auf diese Weise, indem Flüchtiges und Vergängliches allmählich unauslöschlich und beharrlich ward durch diese so häufige Wiederholung. So stärkte und festigte er künstlich seine Natur und vielleicht bereicherte er sie sogar.

Diese unablässige Gewohnheit war am Ende dahin gelangt, ihn mitten auseinander zu spalten, in zwei, einen der wahrnahm, empfand und schuf, eben jenen Extramenschen höherer Ordnung, und einen, der alle Empfindung und Schöpfung des anderen mit seiner Neugier begleitete und sich gar nicht genug verwundern konnte, einen Durchschnittsverstand mittlerer Güte – in einen Schauspieler und einen Zuschauer. Ja, wirklich, es war das reine Theater: der andere folgte nur müßig in seinem Stuhle den Schicksalen des Darstellers, manchmal bewegt, von Mitgefühlen ergriffen, hingerissen, als wäre er es selbst und geschähe es in ihm, mit Thränen und Rührung, manchmal auch wieder kritisch, ärgerlich, geschüttelten Kopfes, mit Zischen und Oho. Oft selbst verlor er jedes Bewußtsein, daß es im Grunde zuletzt doch nur er selbst war, den er betrachtete, und so fremd und völlig unverträglich mit der eigenen Weise erschien er ihm, daß solche Menschenart ihm völlig unbegreiflich wurde. Es war zwischen dem vor ihm Handelnden und dem über ihn Denkenden keine Gemeinschaft mehr. Wenn er sich mit zwei Leibern gefunden hätte eines Tages, es hätte ihn keineswegs überrascht, weil es das Natürliche gewesen wäre.

Darum wußte er über sich, was drin geschah[56] wie kaum jemals einer Bescheid und konnte sich Rechnung legen jeden Tag über die geheimsten Finten, die eiligsten Anwandlungen, und wie das alles zusammenhing, eines aus dem anderen stammte und auf das andere wirkte, erfahrener Maschinenmeister seiner Seele. Aber er hatte von dieser Wissenschaft nichts als nur desto schlimmeres Herzeleid, ewig. Er konnte sich keiner Freude mehr freuen, weil er in jeder das Trügerische und das Vergängliche gleich und die Keime des Schmerzes aufsuchte, der schon wieder sich vorbereitete, und geflissentlich beschwerte er jeden Kummer, indem er sich ihn als notwendig und ewig bewies, unabhängig von dem äußeren Ereignis und unzertrennlich von seiner Natur. So empfand er in jedem augenblicklichen Verdruß, in welchem wie in einer Probe er die ganze Gattung kostete, seine ewige Verdrießlichkeit nur, und in langer Freude empfand er nur einen flüchtigen Betrug, von dem er sich nicht äffen ließ, und dieses einzige bloß, was er nicht begriff, war wunderbar und völlig über den Verstand, woher er denn überhaupt bei alledem nur noch den Mut zum Leben nahm.

Das Denken, ja, das Denken über sich selbst – hundertmal sagte er sich's vor: das Denken war der Anker des Verderbs. Ja, wenn er es vermocht hätte, sich von dem Drange des Gefühles tragen zu lassen, blind der Laune zu gehorchen und mit der Bosheit des Augenblicks zu hadern, der ihm das Glück versagte, wenn er es vermocht hätte, sich gegen den Bildhauer zu erzürnen, seine Tücke anzuklagen, seine[57] Freundschaft zu verdächtigen! Aber auf ihn selbst, auf den eigenen Stolz, auf die eigene Willkür, auf die eigene Herrschsucht wendeten Überlegung, Prüfung und Vergleich mit Erinnerungen immer zuletzt den Groll auf seine Künstlerschaft allein, und alle Hoffnung zerstörten sie ihm so, sich jemals vom Unglück zu befreien, welches aus seinem einzigen Glück kam.

Und so, durch das Denken gerade, das gepriesene Denken, war er zur ewigen Qual verdammt, wie – ja, da stockte er feige, aber warum sich denn täuschen und betrügen? – wie jedes Genie!

Er konnte wählen. Möglich vielleicht, daß er durch beharrlich verfolgten Entschluß das Leid überwand, aber dann, in der nämlichen Zeit, überwand er zugleich sein Talent und glücklich konnte er schon werden wie die anderen, die Furcht vor dem Schmerze brauchte ihn dann nicht mehr zu quälen: aber er mußte freilich auch der Hoffnung entsagen, der Hoffnung auf sein Werk. Dazwischen lag die Entscheidung; er war frei, nur durfte er sich dann nimmer beklagen.

Deshalb, jedesmal, sobald er sich nur besann, nahm er eilig die Absicht, sich zu bessern, des Grübelns zu entwöhnen und glücklich zu werden, mit Reue zurück und verharrte in der Gewohnheit. Schmerz, Ekel, Verzweiflung – was lag daran, wenn es für seine Kunst war? Litten die anderen von ihm und litt er selbst, das war einmal das ewige Martyrium der Künstler, und »korrekte Charaktere«, mit sich selbst zufrieden und geachtet von der Welt, mochten die Philister sein, die nichts anderes zu thun haben.[58]

Ja, wer wie Marius schaffen konnte, mit vollem Dampf drauf los und nicht rechts und nicht links geschaut und immer zufrieden, wohin ihn die tolle Fahrt auch brachte! Wer schaffen konnte, wie er es fand, ohne zu suchen – Maschine, Maschine der augenblicklichen Stimmung, läuft jetzt fünf Stunden und dann darf's rasten und wird mit Wein und Lustbarkeit geschmiert! Ja, diese Künstler – aber das waren ja gar keine Künstler. Gutes und erfreuliches Gelingen mochte ihnen schon begegnen, aber das Große, das Ewige, die hohen Weihen der Kunst blieben ihnen verschlossen. Man mochte sie manchmal in Anfällen der Entmutigung beneiden um ihre gefaßte, heiter wirkende Geduld, weil sie es wenigstens wachsen sahen um sich, gering, in Stücken, erbärmlich – aber es wuchs, es wuchs doch und gedieh. Aber die heißen Schauer dafür, die wollüstigen Taumel der Kunst, wenn's plötzlich kommt, nach so viel schmachtender Not, in brausenden Verkündigungen, dieses Göttliche empfanden sie nie. Und was ohne sie, was war denn sonst das Leben?

Freilich, wenn man Marius hörte, der schimpfte sie gerade das allerverderblichste Gift, diese schaurigen Wonnen, welches das Mark zerfraß und die Adern verpestete. »Die ganz Großen« – er predigte es alle Tage – »die ganz Großen, vielleicht, mag sein, ich weiß es nicht, daß es denen glückt, aus ihnen zu gestalten. Uns höhlt's nur aus, entkräftet und macht stumpf. Im Rausche, so lange der Schwindel währt, ist nicht zu schaffen, und nachher, im Kater, erst recht[59] nicht. Sie werden's schon selber erfahren. Raten hilft nichts.«

»Sie werden's schon selber erfahren.« Ja, weil sie ihn alle für Ihresgleichen hielten, ohnmächtig und gering wie sie und zu Niedrigem geboren! Aber wie denn, wenn er am Ende, trotz alledem, wenn er doch von den Großen wäre, von diesen ganz Großen gerade, der eine Auserwählte für die Gnade unter den tausend unselig Verschmachtenden? Wenn er es war! Und nein, was mit so glühender Verheißung die Seele schwoll, das war nimmer Lüge und Trug.

Vier Uhr! Sein Spleen war wahrhaftig die beste Gesellschaft, mit keinem vertrieb sich behaglicher die Zeit, und so lehrreich! Antworten freilich gab er keine, aber verschwenderisch versorgte er einen mit Fragen.

Es war ja zu blöde. Andere, wenn sie faullenzten, vergnügten sich wenigstens, oder wenn sie litten, so war es, daß ihr Werk gedieh. Aber zu faullenzen und zu leiden zugleich und Wohlsein und Arbeit gleichermaßen zu verderben – darauf, das mußte man ihm lassen, hatte er das ausschließliche Patent.

Er geriet in Lustigkeit über sich selber. Er verhöhnte sich mit derbem Spotte: seine Don-Quixoterei, seinen geckischen Größenwahn, die ganze would-be-hamletische Komödie. So entschädigte sich oft der andere in ihm für die Ausschweifungen des einen im Pathetischen.

Es war zu spät, vor dem Diner noch etwas zu beginnen.[60]

Lesen. Zoten und Betisen. Kannte er auswendig.

Auf und ab, hin und her. Rauchen, rauchen. Der Tabak wenigstens hielt sein Versprechen, der war noch rechtschaffen und treu – rauchen, rauchen.

Und wieder von vorne anfangen, die schnaufende Wanderung der Gedanken?

Aber mußte, mußte denn immer gedacht sein? Da draußen, die Rosenknospen dachten nichts. Darum konnten sie duften und würden blühen.

Ein Weib, ein Weib! Was auch Marius sagen mochte. Er hatte gut Cocotten predigen, jede Nacht eine andere, keine zweimal – ja, wenn man erst einmal so weit war wie er! Aber er war noch nicht so weit. Gott sei Dank ... leider. Ein Weib, ein Weib!

Das wäre Friede, das wäre Rast. Das wäre das Glück, das Glück!

Arbeit, so lange die Stimmung floß. Wenn's stockte, flugs den Kasten zugeklappt und mit dem Weibchen hinaus, hinaus, heute ins Grün, morgen zu Tanz, immer ins Vergessen.

Er war manchmal so müde der ewigen Kämpfe und so satt der ewigen Begierden. Er sehnte sich nach einem stillen, freundlichen, bescheidenen Glücke. Auch waren seine Strümpfe meist zerrissen.

Das Glück, das Glück!

Nur das Anfangen, bis es im Geleise rollt; suchen, herumlaufen, Umstände machen, schwanken, sich entscheiden und wieder anders entschließen.

Es war auch zu dumm, daß sie nicht mitgekommen war. Aber acht Tage zu warten, um zu dem Wiedersehen[61] zu rennen, das vielleicht sie heute schon vergessen hatte – ja freilich, einen Narren!

Aber schreiben – das überfiel ihn – schreiben wollte er ihr, wie er es versprochen. Einen langen und ausführlichen Brief, der die Stunde bis zum Absynth erschlüge. Einen verrückten Liebesbrief. Ob er's noch konnte? Aber man verlernt das Lügen nicht so leicht.

Es machte ihm Spaß. Er suchte die köstlichsten Beteuerungen und wählte die edelsten Steine der Sprache. Aus diesen setzte er ein so flehentliches Gebet an die Schutzheilige zusammen, von solcher Demut und Inbrunst, daß ihn, als er es überlas, das Weinen ankam vor Rührung und Erbarmen mit sich selber. Das sollte ihm einer nachmachen von den Romanschreibern, die doch dafür bezahlt wurden. Er hatte es großartig los, freilich nur auf dem Papier. Ins Gesicht war er linkisch und verlegen, weil es ihn störte, daß sie nicht stille hielten und ihn nicht in den richtigen Schwung ließen, langsam, allmählich, von einem Satz in den anderen hinüber.

Es war in diesem Briefe viel Schmeichelei und Leidenschaft. Er schilderte, wie sie ihm jetzt erschien, in der Sehnsucht seiner Einsamkeit, das erste freundliche und lockende Bild an diesem mürrischen, verdrießlichen Tage, wie eine himmlische Fee. Und er war, als er sich die Worte noch einmal vorsagte, langsam ihren Feingeschmack kostend, ganz verwundert, daß sie so schön war und er sie so gern hatte, was er jetzt erst bemerkte.

Quelle:
Hermann Bahr: Die gute Schule. Berlin 21898., S. 44-62.
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