VI

[112] Doch nicht nur der künstlerische, der kontemplative Mensch, zeigt diesen Konflikt. Denselben Anblick bietet der ›Normale‹ und zwar in dem Maße, in dem die Romantik zu einer Angelegenheit des Bürgertums überhaupt geworden ist. Die Symptome davon begegnen immer häufiger; ja sie treten im Alltag naiver, direkter, flagranter auf. Ein allgemeines Ideal scheint in Scherben gegangen zu sein; ein hohes, selbstloses, zärtliches Ideal. Je weniger dies empfunden und bewußt wird, desto schwerer gestaltet sich die Neurose. Jeder gehe seinen Bekanntenkreis durch und staune über die Fülle von unerklärlichen[112] Gereiztheiten und Bindungen; über die Zerwürfnisse in Ehen und Geschäften; über alle die Ausbrüche, Selbstmorde, Melancholien und Tränen.

Im einzelnen spielt sich dasselbe Erlebnis ab wie im Künstler. Dieser ist als Medium nur früher und komplizierter davon betroffen. Auf die strengere Beobachtung seiner selbst und der Umwelt verwiesen, ist er empfindsamer und rascher bereit, die Dinge auf sich zu beziehen. Aber es ist ihm ein Palliativ geblieben: er verfügt über die Kraft, seine Erlebnisse abzustoßen. Er scheint die Richtung zu geben, Modekrankheiten einzuführen, und ist doch nur sensibelster und darum erster Empfänger und Künder von Schicksalen, deren Lenkung durchaus nicht bei ihm liegt.

Die Neurose einer ganzen Epoche läßt sich kaum mehr verhehlen. Da der Begriff der Realität erschüttert ist, sucht die vertriebene Anpassung in den seltsamsten und zufälligsten Bindungen nach Ersatz. Was vor kurzem noch das Problem einzelner Exponenten war, ist heute das Problem ganzer Gesellschaftskreise. Zwischen scheu verschwiegenen, weltfremden Erwartungen und einem rücksichtslos und erschreckend vorhandenen Trieb, der sich trotz aller Verdrängung zur Geltung bringt, zwischen diesen beiden Extremen schwankt das Leben. Einer erhofft vom andern Stütze, Klarheit, Beruhigung, und jeder muß doch die Erfahrung machen, daß er selber der Hilfe und Sorgfalt dringend bedürftig ist. Man hat die häufige Beichte als Korrektiv genannt. Man hätte, für akute Fälle, auf den Exorzismus verweisen können. Es hat aber mit beiden Institutionen in diesem besonderen Falle seine eigene Bewandtnis. Gerade in Rom versicherten mir Priester, Beichtkinder zu haben, mit denen sie, ›einfach nichts anfangen‹ könnten; deren Zuständen und Konflikten sie auskunftslos gegenüberstünden. Was nützt der beste Wille, zu bekennen, wenn das erregende Moment sich dem Bewußtsein entzieht? Wenn die Verstrickung bereits zu Zwangsideen oder zur Hysterie gediehen ist? Der Beichtende wird sich vieler Dinge anklagen, aber das wesentliche Erlebnis, dessen Vortrag ihn befreien könnte, entzieht sich der Erfassung. Dazu kommt, daß nur auf dem Lande und in kleineren Städten noch jene vollkommene Bindung an die Kirche zu finden ist, die von[113] Anfang an einer Verstrickung des einzelnen und der Gesamtheit vorbeugt.

Der Exorzismus aber, den die Aufklärung lächerlich zu machen versuchte, und der bei einer weitgehenden Rationalisierung des modernen Klerus auf Schwierigkeiten bei den Priestern selber stößt, der Exorzismus setzt, wenn er wirksam werden soll, eine noch innigere Hingabe an die Kirche voraus als sogar die Beichte. Mit dem Exorzismus sind Exerzitien verbunden, deren Sinn bei den klassischen Theoretikern der ist, die reine Glaubenskraft zu stärken und den Kranken ganz der gebietenden Person des Exorzisten zu unterstellen. Mit anderen Worten: Der Exorzistat setzt die ideelle Herrschaft der Kirche und die absolute Anerkennung dieser Herrschaft voraus. Aus der Frühzeit des Christentums wird zwar berichtet, daß sich der Exorzismus als Gnadengabe oft auch an Heiden wirksam erwies. Es ist aber unentschieden, ob es sich hierbei um Katechumenen handelte, die im Begriffe der Konversion standen, oder um Heilung völlig Ungläubiger, wie sie der Evangelist schon erwähnt.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 112-114.
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