[119] Doch es ist an der Zeit, die therapeutische Ästhetik selbst ein wenig näher ins Auge zu fassen. Wenn Otto Rank in einer eindringlichen Studie ›Der Künstler‹ (Wien und Leipzig 1918) Recht behielte, würde der Künstler demnächst entbehrlich werden, weil, seine nur ärztliche Funktion vorausgesetzt, jeder sein eigener Künstler und Therapeut zu werden vermag. Das aber hieße annehmen, daß der entrollte Konflikt nicht eine Zeitkrankheit, sondern ein chronisches Leiden der Menschheit sei; hieße die Meinung verwerfen, daß es sich nur um ein Durchgangsstadium handeln kann.
Massenerkrankungen hat jedes Zeitalter gekannt. Der Begriff der Krankheit aber setzt doch wohl voraus, daß es eine Gesundheit, eine Norm gebe, an der die Erkrankung meßbar wird, oder daß eine solche Norm zum wenigsten denkbar ist und von einem unberührt gebliebenen, gesunden Punkte des erkrankten Organismus aus behauptet und erwirkt wird. Wie immer es sich damit verhalten mag: heute ist eine solche Norm und Gesundheit nicht sichtbar, oder zum wenigsten nicht glaubhaft zu machen. Der Normbegriff ganzer Jahrhunderte ist erschüttert und eine neue Stabilisierung erst im Werden.
Es könnte sich eines Tages jedoch ergeben, daß sich der Schwerpunkt unserer Interessen verschiebt; daß wir den Blick,[119] statt nach unten, nach oben richten und dadurch den höllischen Qualen entgehen. Der Zwiespalt zwischen den rohen libidinösen und den heftig widerstreitenden religiösen Trieben, als dessen Folge wir die Erkrankung kennenlernten, könnte seine Glut in dem Augenblick verlieren, in dem die transzendente Schicht nach dem Vorbilde der Exorzisten eine Stärkung, statt nach dem Vorbilde der Psychoanalytiker eine Schwächung erfährt. Es könnte sich ergeben, daß es sich bei der Erkrankung unserer Zeit um einen Einbruch dämonologisch begreifbarer Mächte handelt; um einen Zustand also, für den rigorosere Zeiten den Ausdruck der Besessenheit verwandten. Eine gewisse Willkür in der Deutung der Konflikte und schon in der therapeutischen Theorie, der Mangel eines jenseitigen Standpunktes, wie er aller ›rein psychologischen‹ Betrachtungsweise eignet, all dies läßt auf Widersprüche innerhalb der heutigen Ansichten und darum auf Vorläufigkeit schließen. Die Kunst der Ärzte selber entbehrt jener Einheit und Eindeutigkeit, die sie erzielen will und ohne die keine Heilung von Dauer bestehen kann.
Prinzhorn zum Beispiel vergißt, uns zu sagen, was er unter einem ›Geisteskranken‹ versteht. Vielleicht ist ein großer Teil der anonymen Künstler, die er vorführt, zwar krank und Insasse des Irrenhauses, aber durchaus nicht geisteskrank. Die Psychoanalytiker ihrerseits unterlassen, eine klärliche Definition der ›Psyche‹ zu geben, nach der sie sich doch nennen; sie geben gemeinhin nur Definitionen der Libido und der Triebe, des Ich und des Über-Ich, und auch hierin widersprechen sie sich untereinander und in sich selbst. Geist und Seele werden in fast der gesamten modernen Psychiatrie ununterbrochen willkürlich vertauscht. Zwei verschiedenen Namen müssen aber zwei verschiedene Sachverhalte zugrunde liegen. Der Konflikt zwischen Soma und Psyche steht im Vordergrund der Debatte; wie der Geist indessen zu definieren und gegen Soma und Psyche abzugrenzen sei, bleibt unklar.
Es muß befremden, daß die moderne Therapie die religiösen Fakten und die kirchliche Welt noch immer nur kausal und nach Gesichtspunkten der Psychophysik betrachtet; daß ihr der Mensch, und meist sogar nur der sexuelle, das Maß aller Dinge ist. Dem Arzte, der den Körper behandelt, ist das erlaubt; dem[120] Seelenarzte sollte es verboten sein. Ähnliches läßt sich von den Theorien der Künstler und Ästheten sagen. Sie sprechen von Intuition und Inspiration und unterlassen doch die Frage, wer oder was inspiriert und in welche Gebiete des Lebens ihre Intuition reicht, welch andere Gebiete ihrem Formgewissen aber verschlossen bleiben.
Bedenklich muß schließlich stimmen, daß beispielsweise die führende Zeitschrift der Analytiker ›Imago‹ und nicht etwa ›Logos‹ heißt, und daß man zwar ein Werk vorlegen konnte, das die bildnerische, die imaginative Kraft der Schizophrenen erweist, nicht aber eines, das gleicherweise ihre sprachliche, philosophische oder gar theologische Kunstbefähigung zu belegen vermöchte. Gibt es verschieden zu bewertende Gestaltungsvermögen? In welchem Rangverhältnis steht die Malerei zur Dichtkunst und das Bild zum Worte? All dies sind Fragen, zu deren Beantwortung es einer oder sogar mehrerer Generationen bedürfen wird. Der einzelne kann nur versuchen, die Problematik aufzuzeigen und zu ihrer Bewältigung einzuladen.
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