Fünfte Szene.

[293] Katharine von Rosen und Ernestine treten bei den letzten Worten im Vordergrunde rechts auf.


KATHARINE.

»Laß mich der neuen Freiheit genießen,

Laß mich ein Kind sein, sei es mit!« –

Nun, Ernestine, wie gefällt dir unsere neue Lebensweise?

ERNESTINE. Nicht zum besten. Wir hätten in der Stadt bleiben sollen.

KATHARINE. Du weißt ja, daß ich hier meine Freundin mit ihrem Gemahl zu finden hoffte.

ERNESTINE. Aber wir haben sie nicht gefunden, und deshalb sollten wir umkehren.

KATHARINE. Warum? Mir behagt es hier. Die großartige Natur, das Hochgebirg', die Wasserfälle, alles sagt meinem Sinne zu. Mein Gemüt findet hier reiche Nahrung, wie mein Talent. Die Zeichnung, die ich gestern nach der Natur entworfen, ist besser als alle meine früheren.

ERNESTINE. Nun, das Bild könnten Sie in der Stadt bequemer ausführen.

KATHARINE. In der Stadt? Ich bin einmal hier. Auch will ich den Präsidenten erwarten.

ERNESTINE. Wer weiß, ob er diese Reise billigt.

KATHARINE. Bin ich doch Herrin über meine Handlungen, seit das Gericht mich großjährig sprach.

ERNESTINE. Ein Mädchen ist niemals großjährig!

KATHARINE. Ein Mädchen? Du vergißt, daß ich eine Frau bin.

ERNESTINE. Eine Frau – ohne Mann.

KATHARINE. Wozu ein Mann? Ich will die Ehre der Frauen herstellen und der Welt zeigen, daß wir auf eigenen Füßen stehen können.

ERNESTINE. Können wir das?

KATHARINE. Wir sollen es können, und deshalb will ich es können. Wir armen Frauen! Warum sind wir die Unterdrückten? Haben wir nicht Verstand, Geist, Gefühl, so gut als die Männer? Besser als die Männer? Sollen sie Gesetze geben für uns und sie brechen gegen uns? Laß sie Gelehrte sein, Staatsleute und Soldaten, aber laß uns nicht ihre Sklavinnen werden. Ich habe keinen Vater, keinen Bruder, keinen Mann. Ich stehe allein in der Welt. Soll ich mich deshalb vor der Welt verbergen? Diese Sonne lacht uns allen, die Vöglein singen, Blumen und Blüten duften für alle. Laß uns die schöne Frühlingszeit harmlos genießen. Ist es ein so großes[294] Verbrechen, ohne männliche Begleitung spazieren zu gehen? Verlang' ich denn mehr? Und kann man weniger verlangen?

ERNESTINE. Nun ja! Das sind Ihre überspannten Ansichten, Ihre romantischen Ideen.

KATHARINE. Überspannt? Romantisch? Es ist bloß vernünftig. – Doch wie kommst du mir vor? Im Hause meiner Tante teiltest du meine Ansichten. Die gute Tante! Denkst du noch an ihre Morgengesänge, ihre drei Bologneser, ihre Kanarienvögel, ihren Stickhusten und ihre Strafpredigten? Erinnerst du dich noch an unsere tägliche, melancholische Promenade um die Stadtmauern, an die Rapuschpartien, an die tausend Romane und Schauspiele, die wir miteinander lasen? Sieh, die Poesie ist ins Leben getreten, der Käfig ist offen, die Vöglein flattern froh und frei in die weite Welt. Ach, mir ist zumut', wie einer von Shakespeares Personen. Ich bin Portia, du Nerissa; ich Rosalinde, du Celia. Oder soll ich mich lieber mit Goethes Lila vergleichen? Ja, dies ist Lilas Park; an bezauberten Ungeheuern fehlt es hier durchaus nicht.

ERNESTINE. Leider! Leider! – Sie wissen nicht – dieser Badeort – man spricht mancherlei über uns.

KATHARINE. Was kann man sprechen? Tun wir doch nichts Übles. Und werden wir nicht geehrt, ja ausgezeichnet? Die Table d'hote wimmelt von meinen Anbetern. Ein jeder bemüht sich, der jungen Witwe zu gefallen. Brachte mir der junge Engländer nicht erst diese Nacht ein Ständchen aus Entzücken über meinen echten Akzent?

ERNESTINE. Aber Sie wissen nicht, was er mir brachte.

KATHARINE. Nun!

ERNESTINE. Erst eine volle Börse –

KATHARINE. Das ist gut!

ERNESTINE. Die ich zurückwies.

KATHARINE. Das ist auch gut.

ERNESTINE. Dann einen Liebesbrief für Sie.

KATHARINE. In der Tat?

ERNESTINE. Den ich nicht annahm.

KATHARINE. Das war recht. Aber willst du ihm ein Verbrechen machen aus seiner Pflicht, die ja eben darin besteht, mich liebenswürdig zu finden? Das finden sie alle. Hast du gesehen, wie sogar der dicke Börsenspekulant im Salon mit mir tanzte? – Du hast es nicht gesehen? – Das muß ich dir zeigen. Sieh, er hielt mich so. Sein linker, gichtischer Arm erstrebte mit Mühe meine Linke, und nun hopste er, indem er Kopf und Nacken zurückbog, mit einer Ruhe und einem Anstand – beiläufig so. Der leibhafte Bär aus Lilas Park! Faites le serviteur, le joli seigneur! – Ist's nicht zum totlachen?


Quelle:
Eduard von Bauernfeld: Ausgewählte Werke in vier Bänden. Band 1, Leipzig [o.J.], S. 293-295.
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