[467] Der deutschen Jugendwelt übergebe ich ein neues Märchenbuch, neu nach der Auswahl der Stoffe, neu und völlig selbständig in der Behandlung.
Über den endlich festgestellten Begriff des Wortes Märchen habe ich schon öfter Anlaß gehabt, mich zu äußern, so in den Vorreden zur ersten und zur zwölften (ersten illustrierten) Ausgabe meines Deutschen Märchenbuches, Leipzig, bei Georg Wigand, 1844 und 1853 – in der Abhandlung »Das Märchen und seine Behandlung in Deutschland«, in der Zeitschrift Germania, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der deutschen Nation Leipzig, Avenarius und Mendelssohn, 1852, Band 2, Lieferung 5, und endlich in meinem Buche »Mythe, Sage, Märe und Fabel im Leben und Bewußtsein des deutschen Volkes«. Leipzig, T.O. Weigel, 1854. 3 Teile. Seitdem habe ich dennoch fortwährend über die Form und die Natur des eigentlichen Märchens weiter nachgedacht, und habe gefunden, daß ein großer Teil der Märchen, selbst in den besten Sammlungen, keine Märchen, sondern häufig nur Fabeln, Anekdoten, oder kleine Erzählungen (Novellen) sind. Das eigenste Element des Märchens ist das Wunderbare, wo dieses fehlt, ist ein wenn noch so gut erzählter und dichterisch bearbeiteter Stoff kein Märchen. Es muß im Märchen etwas geschehen, das im gewöhnlichen Leben nicht geschieht, z.B. daß Tiere reden, daß Menschen und Tiere sich verwandeln oder verwandelt werden, daß Verstorbene wieder erscheinen, daß mythische Wesen oder auch Gespenster, Tode usw. in den Kreis der Handelnden treten, daß der Teufel eine Rolle spielt, daß die Begabungen mit ungeheurer Kraft, mit Unsichtbarkeit und allem, was in das Gebiet der Wunschdinge gehört, vorkommen. Das Märchen leiht gerne vom heidnischen Mythus seinen Schmuck; bisweilen auch vom christlichen, und im letzteren Falle gewinnt es dann legendenartige Färbung, ohne deshalb selbst Legende zu werden.[467]
Hauptsache ist beim Märchen, mindestens nach meiner Ansicht: daß es jede Namhaftmachung einer bestimmten geographischen Örtlichkeit vermeide, es wäre denn eine ganz allgemeine, wie Indien, Welschland, oder eine erdichtete, nicht vorhandene; denn durch diese oder durch Namennennung einer bekannten Persönlichkeit tritt es alsbald in das Gebiet der Sage über. Auch die Sage verwebt sich oft sehr innig mit dem Elemente des Wunderbaren und mit dem Mythus, aber das ist eben der Hauptunterschied zwischen ihr und dem Märchen, daß sie diese Elemente auch missen kann, die Örtlichkeit aber kann die Sage kaum missen. Nennt aber das Märchen, wie deren viele tun, Jesus, Maria und einzelne Apostel, so wird es dadurch nicht zur Sage, denn wenn das Märchen sich dieser Personen aneignend bedient, so benutzt es nur Züge aus dem christlichen Mythus, womit jedoch keineswegs gesagt sein soll, die heiligen Überlieferungen des Christentums seien Mythen. Vielmehr sind diese vom Märchen benutzten Züge aus dem deutschen Volkstum hervorgegangen, und wurden in aller kindlichen Unschuld erzählt, wie anderseits in altüberkommenen magischen Formeln gegen Krankheiten deren hunderte beginnen: Jesus und Maria, oder Jesus und Sankt Petrus, u.a. gingen einmal miteinander in einen Garten, und dergl.
Ich habe indes aus guten Gründen weder in mein erstes Märchenbuch, noch in dieses zweite einen der letzterwähnten mehr parabelartigen Stoffe aufgenommen, ebenso in dieses neue keinen einzigen Stoff der in meiner früheren Sammlung enthaltenen, und endlich verzichtete ich jetzt auf eine nur zu häufig begegnende Richtung im Kindermärchen: auf böse Stiefmütter, und zwar aus einem vielleicht beachtungs- und empfehlenswerten ethischen Grunde. Nichts lesen Kinder lieber als Märchen, und unter den vielen tausend Kindern, in deren Hände alljährlich Märchenbücher gelangen, sind gewiß sehr viele sogenannte Stiefkinder. Fühlt nun ein solches Kind, nachdem es eine Menge Märchen gelesen hat, darin böse Stiefmütter auftreten (die Stiefmütter der Märchen sind durchgängig alle böse), sich irgend von der eigenen Stiefmutter – einerlei, ob verdienter oder unverdienter Weise – verletzt und gekränkt, so setzt sich in der jungen Seele durch Vergleiche die Abneigung gegen seine Pflegerin fest, und diese Abneigung kann so mächtig wachsen, daß sie den Frieden und das Glück der Familie trübt, und die[468] Herzen lebenslänglich einander entfremdet. Es wird also gut sein, dergleichen Ideen durch Märchen nicht zu wecken und zu nähren.
Kein einziges der vorliegenden Märchen habe ich selbst erfunden; ich entnahm die Stoffe teils mündlicher Überlieferung, teils Schriftquellen, bearbeitete sie aber alle selbstständig. Jeder Märchenstoff bedingt seinen eigenen Erzählungston, der bisweilen ernst und traurig, selbst schaurig und erschütternd sein muß, bisweilen heiter, humoristisch, ja ausgelassen lustig werden darf. Dies gut zu treffen ist Sache des Erzählers, des Dichters. Man begegnet auch in den besseren Quellensammlungen nicht selten trefflichen Märchenstoffen, die jedoch matt erzählt sind, und denen es zuletzt noch obendrein an einem rechten Schluß und Ende gebricht. Der innigen Verwandtschaft zu- und miteinander begegnet man überall; häufig klingt ein Märchen aus dem andern heraus, geht eins in das andere über. Das Märchen ist in steter Wandlung begriffen; bald verliert es Einzelzüge oder läßt sie fallen, bald nimmt es neue an, wie auch Ton und Farbe charakteristischer Heimat; so z.B. klingen in echten Volksmärchen Tirols eine Menge derer wieder, die in der Sammlung der »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm stehen, aber sie sind dort selbstständig und tragen den nationalen Typus des Landes zur Schau, dem sie angehören.
Ich nenne im nachfolgenden meine Quellen, denen ich die Stoffe dieser Sammlung entnahm, und will auch in Kürze die Verwandtschaft zu andern nachweisen, wo sie lebhaft hervortritt.[469]
Ausgewählte Ausgaben von
Neues deutsches Märchenbuch
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