96. Sankt Goars Wunder

[82] Aus dem Lande Aquitanien kam ein frommer Mönch in die Rhein- und Mosellande. Auch an der Lahn nahm er eine Zeitlang den Aufenthalt, predigte, breitete das Christentum aus und übte manches Wunder. Ein Fels unterhalb der Lurlei zeugt noch von ihm; man erblickt in diesem Felsen eine ausgehauene viereckige Vertiefung und nennt dieselbe St. Goars Kanzel oder auch St. Goars Bett. Dort soll der heilige Mann lange Zeit gelebt und gewohnt haben, das Evangelium zu verkünden und verunglückenden Schiffern beizustehen. Noch ist, und für alle Zeiten, des Heiligen Name fortlebend in den einander gegenüberliegenden Ortschaften St. Goarshausen und St. Goar am Rhein, und zu Pfalzfeld in der Nähe hinter St. Goar soll ihm eine Denksäule errichtet worden sein. In seiner Zelle zu St. Goar soll der Heilige verstorben sein, worauf die Andacht ihm eine Kapelle dort errichtete, die schon zu Kaiser Karl des Großen Zeiten stand und berühmt war als ein Haus freigebiger Milde und Gastlichkeit gegen Reisende, Schiffer, Pilger und Wallfahrer. In der Gruft der von einem Grafen von Katzenellenbogen, denen diese Landschaft gehörte, erbauten Kirche steht die Bildsäule des Heiligen lebensgroß, und waren auch sonst viele Heiligtümer dort aufbewahrt, sind aber hinweggekommen. Manche nennen St. Goar den Apostel von Trier. Dorthin beschied ihn einst der Bischof Rusticus durch Sendboten; dieser hatte von des Heiligen Wundern gehört und konnte sie nicht glauben. St. Goar folgte den Boten, aber der Weg war völlig wüst und unwirtbar, es gebrach an Zehrung, und die Sendboten sprachen: Wenn kein Wunder hilft, so verschmachten wir. Da übte St. Goar gleich ein Wunder. Er rief in den Wald hinein, und es kamen drei milchende Hirschkühe, ließen sich melken, und ihre Milch rettete die Botschafter. Als der heilige Mann zu Trier vor den Bischof Rusticus geführt wurde, war ihm warm vom Gange, denn es war heiße Sommerzeit, und er sah sich[82] im Versammlungssaale nach einem Ort oder Nagel um, seinen Mantel dahin zu hängen, gewahrte aber keinen solchen, und da hing er den Mantel auf einen Sonnenstrahl, der schrägwärts herein in den Saal fiel. Alle erstaunten, der Bischof aber zweifelte noch immer, und da ward ein Säugling hereingetragen, welcher am selben Tage gefunden worden war. Lasse uns, o heiliger Mann, so du es vermagst, aus dieses armen Säuglings Munde vernehmen, wer sein Vater ist! sprach der Bischof. Da rührte St. Goar mit dem Finger des Säuglings Lippen an, und die Versammlung vernahm deutlich aus des Kindes Munde die Worte:


Pater meus:

Rusticus,

Episcopus!


Da glaubte der Bischof ganz still an die Wundergabe St. Goars und versuchte ihn nicht weiter, wünschte auch nicht, daß der Säugling ferner spreche. –

Einst fuhr Kaiser Karl der Große von seinem Palast in Ingelheim gen Koblenz, an St. Goars Zelle vorüber, ohne dort vorzusprechen, das nahm der Heilige übel und schuf einen so dichten Nebel, daß Karl landen und auf freiem Felde eine Nacht zubringen mußte. Seinen Söhnen hingegen, Karl und Pipin, welche einen Haß gegeneinander trugen und zufällig in St. Goars Zelle zusammentrafen, goß der Heilige Versöhnung in das Herz. Auch heilte er mildiglich auf ihr Anrufen des großen Kaisers Gemahlin Fastrada von heftigem Zahnweh. Karl der Große schenkte dankbar dem gastlichen Kapellenhause ein Faß guten Weines. Dieses segnete der Heilige mit der Kraft des Nimmerversiegens. Einst vergaß, vermutlich, weil er diese Kraft allzusehr erprobt, ein Pater Kellermeister den Hahn richtig zu schließen, so daß er stark tropfte, da kam eine Spinne daher, die webte so eifrig unter der Hahnöffnung fort und fort, bis sie das Gewebe so dicht gemacht, daß auch kein Tropfen mehr herauslief. Das alles wirkte noch lange nach seinem Ableben St. Goar durch seine fortdauernde Wunderkraft.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 82-83.
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