201. Die Schwesterntürme

[157] In Broacker ist die Kirche mit einem Doppelturm geziert, die Schiffer auf der See erblicken diesen Turm zehn Meilen weit und haben an ihm ein Merkzeichen. Auf dem Schlosse dortselbst haben zwei Fräulein gewohnt, die waren Zwillingsschwestern und durch Fügung Gottes im Mutterleibe zusammengewachsen, die haben diesen Turm erbauen lassen.

In Keitum klingt die Glocke, wenn sie geläutet wird, nie anders als: Ing und Dung! Ing und Dung! So hießen zwei Schwestern, die hatten nördlich von der Kirche ein Haus, darin sie klösterlich lebten, und sie waren es, die den Turm erbauen ließen. Zum Gedächtnis dieser Jungfrauen erhielt der Turm zwei Spitzen von Feldsteinen, welche sie selbst vorstellen sollen. Da man den hellen und herrlichen Ton der Keitumer Glocke bei klarem Wetter sogar auf dem festen Lande hören konnte, so gedachten die Bewohner des Fleckens Hoyer sie heimlich zu stehlen; als die Keitumer das merkten, banden sie eine Zeitlang ein Pferdehaar um den Klöpfel, da lautete es, als wenn die Glocke zersprungen wäre, und da ließen die Hoyeringer ab von ihrer List. Eine alte Sage ging, die Glocke werde einstens aus dem Turme herabstürzen und den schönsten Jüngling erschlagen, und nachher werde auch, wiewohl später, der Turm einfallen und die schönste Jungfrau unter seinen Trümmern begraben. Ersteres ist im Jahre 1739 in Erfüllung gegangen, letzteres aber noch nicht, daher kommen die Mädchen auf Sylt nicht gerne dem Kirchturme nah und gehen nicht gerne in die Kirche – geht die Sage.

Auch im Dorfe Altenbruch an der Elbemündung in die Nordsee lebten einst zwei betagte Zwillingsschwestern, freuten sich der Achtung aller Bewohner; die erbauten von ihrem Überfluß an irdischem Gut Turm und Kirche und brachten ihr Leben in einträchtiger Liebe miteinander hin; da wurde der Turm in zwei hohen schlanken Spitzen ausgebaut und jede derselben mit einer schönen Krone geziert, und es bringen diese Spitzen die Namen der frommen Jungfrauen auf die späte Nachwelt.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 157.
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