262. Der Remterpfeiler

[192] Ein großes Wunderzeichen begab sich zur Marienburg, als dieselbe von den Polen belagert wurde. Die Polen hatten einen Troßbuben gefangen und fragten ihn aus nach des Baues Gelegenheit, wo seine größte Schwäche und wo das Geschütz den meisten Schaden bringen könne; sie versprachen ihm nicht nur die Freiheit, sondern auch hohen Lohn, und der Bube, der zumal einen Haß gegen den Hochmeister hatte, beschrieb dem Feind, wie das ganze weite und kühne Bogengewölbe des Remters auf einem einzigen gewaltigen Pfeiler mitten im Remter laste. Bräche eine Kugel den Pfeiler, so müsse das ganze Gewölbe zusammenstürzen. Das dünkte den Polen eine gute Kunde und eine leichte Sache, den ganzen Rest des Ordens mit einem Schlage zu vernichten. Es ward daher mit dem verräterischen Knecht ein Zeichen verabredet, das er geben sollte, wann der Ordenskonvent im Remter beim Mahle sitze, und das größte und stärkste Geschütz wurde nach dem Pfeiler gerichtet, der Bube aber freigelassen. Bald darauf, als dieser die Zeit ersah, daß alle Ritter im Remter versammelt waren, hing er einen roten Hut an einem Fenster aus, wie verabredet war, und der Arkebusier im Polenlager brannte sein großes Stück los, und im Remter geschah ein Donnergeprassel, aber der Pfeiler stand ruhig – die Kugel hatte ihn gar nicht getroffen, sie war oben durch die Mauer gefahren und hatte über dem Kamin ein Loch geschlagen, allwo sie noch heute eingemauert zu sehen ist.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 192.
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