347. Die Frau von Alvensleben

[245] Die Chroniken melden von einer frommen adeligen Witwe aus dem alten Geschlechte derer von Alvensleben, daß sie gar gütig, gottesfürchtig, mildtätig und hülfreich gewesen, absonderlich stand sie den Bürgerfrauen zu Calbe im Werder gern bei in schweren Kindesnöten. Da kam einmal in einer Nacht eine Botin vor das Schloß und rief zu der Edelfrau hinauf, sie wolle doch ja aufstehen und sich ankleiden und ihr folgen[245] zu einer Frau, die in äußerster Not und Gefahr schwebe und wisse ihres Leibes keinen Rat, und wohne die Wöchnerin nahebei draußen vor der Stadt. Darauf erwiderte die Edelfrau, daß es ja mitten in der Nacht sei, wo die Tore geschlossen gehalten würden, wie sie denn hinauskommen sollten? Aber die Botin antwortete, das Tor sei schon geöffnet. Und da ging die Frau von Alvensleben mit. Unterwegs flüsterte die Botin ihr zu, sie solle nicht bange sein, nur aber nichts annehmen von Essen und Trinken, was man ihr auch bieten würde. Das Tor war wirklich für sie geöffnet, und draußen im Felde währte es nicht lange, so kamen sie an einen Berg, der stand auf, und obwohl die Frau von Alvensleben nun sahe, daß dieser Gang keiner von den gewöhnlichen sei, so hatte sie doch keine Furcht und ging getrost weiter. Da kam sie in ein Gemach, darinnen fand sie ein kleines Weiblein liegen, das der Hülfe einer Wehmutter dringend bedurfte. Diese Hülfe leistete nun die Frau von Alvensleben dem kleinen Weiblein, und nachdem sie ihr Geschäft glücklich vollbracht und ein gesundes Kindlein zur Welt befördern helfen, rüstete sie sich wieder zum Hinweggehen und tat nicht, wie die gewöhnlichen Wehmütter tun, die gern und oft und viel essen und trinken und ihren Weck auch noch mitnehmen, sondern sie rührte von allem, was da für sie schon bereitstand, nichts an. Die Botin, welche sie hergeführt, brachte sie auch wieder zurück und leuchtete ihr mit der Laterne, wie sie vorher geleuchtet. Vor dem Tore des Schlosses aber blieb sie stehen, sprach noch einmal den Dank der Wöchnerin aus und gab ihr von dieser einen schönen güldnen Ring, indem sie sagte: Bewahret diesen Ring zum Andenken als ein heiliges Pfand und laßt ihn niemals von Euerm Geschlechte kommen. Solange der Ring in Euerm Geschlechte aufbehalten bleibt, so lange wird es fortblühen, geht er verloren, dann verlöschet Euer ganzer Stamm!

Als hernachmals das Alvenslebensche Geschlecht sich in zwei Linien teilte, bis zu welcher Zeit der Ring sorglich aufbewahrt worden sein soll, da habe man, sagen einige, auch den Ring geteilt, doch damit viel Gutes nicht erzielt. Denn die eine Hälfte des Ringes sei in einem Feuer zerschmolzen, und seitdem sei auch die Linie, die sie besessen, in Verfall und Abnehmen gekommen und ergehe ihr nicht gut. Andere aber sagen, der Ring sei noch unversehrt aufbehalten, und damit er ganz sicher bewahrt bleibe, sei er in Lübeck in einem hohen Hause verwahrlich niedergelegt, wieder andere behaupten, er befinde sich noch bis zur Stunde im Hause zu Calbe und sei von einem gewöhnlichen einfachen Goldreif in nichts unterschieden.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 245-246.
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