360. Die weiße Frau

[252] Es ist eine allgemeine Sage, daß, gleich wie in andern Fürstenschlössern, auch im Königsschlosse zu Berlin eine weiße Frau umwandle, welche sich sichtbar zeige bei bevorstehenden wichtigen Ereignissen, namentlich bei Sterbefällen. Zahllos sind die Anführungen solcher Fälle, vor denen sie erschienen sein soll, aber schwankend und ungewiß sind die Angaben und Annahmen, wen auf Erden dieser ruhelose Geist beseelt, wer in solcher Tracht, altväterisch, grabsteinähnlich, das Haupt mit einem Matronenschleier bedeckt, starren, steifen Gewandes, im Leben umgewandelt. Spinnwebfarben ist ihr Gesicht, Moderduft ist ihr Parfüm, Grauen weht eisig vor ihr her, und Odemstocken folgt ihrem Verschwinden. Gar viele hohe Personen nennt die Sage, denen sie soll erschienen sein, bald in Zimmern, bald auf den Gängen, bald am hellen Tage, bald im Zwielicht, bald in tiefer Nacht. Einige nennen sie die Ahnfrau des königlichen Hauses, aber welche der Ahnfrauen soll es sein? Die erste Zollerin aus der Zeiten Frühe oder die erste Burggräfin von Nürnberg, Sophia? Elisabeth von Meran oder Margaretha von Kärnten? Die Hennebergerin Elisabeth, Johann II. Burggrafen von Nürnberg, des Reichsfürsten, oder die Sachsin Elisabeth, Friedrich V. Burggrafen von Nürnberg, Markgrafen zu Brandenburg erlauchte Gemahlin, oder die bayrische Elisabeth, Friedrich, des ersten Kurfürsten, hohe Vermählte? Niemand weiß es. Einige sagten und schrieben, daß jene Gräfin von Orlamünde es sei, die Albrecht der Schöne, Burggraf zu Nürnberg, geliebt haben soll, allein deren Geist ist gebannt an das alte Haus Plassenburg und kann nicht wohl im Schlosse zu Berlin umgehend gedacht werden. Wer sie auch sei und gewesen sei, so sei ihr Erscheinen stets das eines guten Geistes.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 252.
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