586. Der Jungfernsprung und die Böhlersmännchen

[396] Bei Arnstadt ist eine enge und tiefe Talrinne, das Jonastal; warum es diesen Namen führt, weiß niemand; im Tale aber ist eine senkrechte schroffe Felsenwand, die heißt der Jungfernsprung, dort sprang eine von einem Reiter verfolgte Jungfrau hinunter, indem sie sich den Engeln anbefahl; diese haben sie auch umfangen und sanft zu Boden getragen, der Reiter aber sprengte, da er sein Roß nicht mehr zu zügeln vermochte, ihr nach, und Mann und Roß zerschmetterten im tiefen Abgrund. Am Eingang dieses Tales liegt der Schöne Brunnen, der hat früher der Jungfernbrunnen geheißen. Vor ohngefähr fünfzig Jahren soll einmal ein kleiner Arnstädter Chorschüler hinauf auf den Jungfernsprungfels spazierengegangen sein, da habe ihn aber ein heftiger Sturmwind ergriffen, daß er sich nicht habe halten können, zumal der Wind in seinen Mantel wie ein Segel geblasen, und habe ihn in die Tiefe gerissen, aber im Heruntersinken sei der Chormantel dem Knaben zum Fallschirm geworden und jener ohne Verletzung davongekommen.

In der Tiefe dieses Tales, weiter oben, ist ein Felsloch, das Böhlersloch genannt, darinnen wohnen Zwerge, die Böhlersmännchen genannt, gutartig und boshaft, nach der viel geschilderten Tückebolde Art. Sie gleichen den Nievelmännchen und Ouwelmännchen, von denen man zu Limburg an der Maas erzählt. Es ist in dieser Talrinne, die noch höher hinauf nach Espenfeld zu das Götzental heißt, gar nicht geheuer; nächtlichen Wanderern hocken sich Gespenster auf den Rücken und lassen sich eine gute Strecke huckepack tragen. Das ist schon manchem geschehen, der spät von Schönbrunnen, allwo es gutes Weizenbier zu trinken gibt, jenen Weg ging.

An vielen andern Orten in Thüringen gibt es noch Zwerghöhlen und werden da und dort Wichtleinslöcher und Wichtleinshöhlen genannt, so bei Buffart an der Ilm, bei Salzmünde, bei Meiningen, bei Dillstädt und Wichtshausen, und geht an manchen Orten die Sage, daß zur Zeit der Hunneneinfälle die Menschen sich vor den schrecklichen Heunen gleich als kleine furchtsame Wichtlein in diese Löcher verkrochen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 396.
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