864. Juditha

[562] Aus dem Böhmerlande zog der junge Herzogsohn Brzetislav durch den Böhmerwald, erkor sich am Regenfluß eine heimliche Stelle in den waldigen Talwinkeln nahe bei Regenstauf und ging mit nur wenig Dienern nach Regensburg hinein. Er hatte von einer überaus schönen Nonne vernommen namens Juditha, welche die Tochter eines Grafen vom Rheine soll gewesen sein, Otto des Weisen. Es gelang ihm, sie zu sehen, und alsbald entbrannte in beiden zueinander heftige Liebe, und der junge Herzogsohn beschloß, die schöne Juditha zu entführen. Diesen Plan führte Brzetislav auch ohne Säumen aus, er bestach die Torwächter, daß sie ihm das Tor, und die Brückenwächter, daß sie ihm die Brücke offen hielten, und die Torwächter drüben in Stadtamhof nicht minder, band sein Roß vor der Klosterpforte an, ging hinein und holte sich seine Erkorene ohne alle Umstände. Mittlerweile war der Weg vor dem Kloster durch eine mächtig große Kette gesperrt worden, die hieb Brzetislav entzwei, hob die Entführte auf sein Roß und sprengte mit ihr von dannen, seine Getreuen folgten, und hinter ihnen rasselten die Tore samt und sonders zu. Ehe sie den Verfolgern wieder aufgetan wurden, verging die längste Zeit, das Regensburger Stadttor, drei Brückentore und zwei Tore von Stadtamhof, alle mit schweren Schlössern und Riegeln; es war offenbar eine wahre Torheit, die Flüchtigen verfolgen zu wollen. Auf der Brücke verlor Juditha einen roten Schuh, wie Katharina von Bora, da sie aus Kloster Nimbschen bei Grimma an der Mulde flüchtete, der wurde samt der zerhauenen Kette lange als ein Denkzeichen aufbewahrt. Der Vater der Entführten klagte nun zwar beim Kaiser über den Jungfrauenraub, und das Kloster klagte nicht minder, aber der Vater Herzog Brzetislav gab seinem Sohne Mähren und erwirkte ihm Verzeihung.

Wundersamerweise, nur mit minderer Wahrscheinlichkeit, wiederholt sich dieselbe Sage zu Schweinfurt, nur heißt die Nonne dort Jutta, wohnt im Kloster auf der Petersstirn. Der Vater ist ein Markgraf von Schweinfurt oder gar – doch heimlich – Kaiser Konrad der Salier selbst, und als der Bote mit der Klage an den Kaiser gesendet ward, behändigte man ihm zur Beglaubigung den verlornen Schuh – da er ihn aber überreichen wollte, verschwand er ihm aus der Hand hinweg.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 562-563.
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