961. Die Schlange als Gast

[618] Zu Lauingen haben ein paar arme alte Leute gelebt, denen ging es kümmerlich trotz allen Fleißes, und der Mann mußte selbst in den Wald gehen und allda sein Holz holen. Da er nun einstmals wieder in den Wald kam, hatte der Sturm einer starken Eiche einen mächtigen Ast abgebrochen, des freute sich der Mann und hob den Ast auf, ihn davonzuführen, da kam vom Baume her eine große Schlange auf ihn zu, und er stand ab von seinem Vorhaben und entfloh. Andern Tages aber ging er wieder hin, den Ast zu holen, in Hoffnung, die Schlange werde sich nun an einen andern Ort hinbegeben haben, allein er fand sie jetzt um den Ast geringelt, wie er diesen aufhob, und die Schlange steckte ihr kleines Köpfchen ihm ganz freundlich entgegen. Der Mann aber schauderte vor dem Wurm und ließ den Ast fahren, und hieb sich ein Bündel kleines Holz und trug dies nach Hause, betrübt, daß ihm der schöne Ast entging. Als er daheim das Reisigbündel abwarf, so begann er zu seiner Frau zu sprechen, der er von dem Ast und der Schlange schon oft erzählt hatte: Ich habe den Ast wieder nicht, denn die Schlange hatte ihn umringelt! Indem so tat die Frau einen lauten Schrei, und aus dem Reisigbündel glitt die Schlange heraus und schlüpfte in das Haus und schloß Freundschaft mit der Katze und spielte mit ihr. Da meinten die beiden Alten, es möge wohl etwan ein Mensch wegen einer Untat in die Schlange verzaubert sein, und duldeten sie und gaben ihr Nahrung. Und die Schlange war nicht so undankbar wie jene im Märchen, die ihren Wirten heimlich Gift in die Suppe spie, sondern sie brachte eitel Glück und Segen in das kleine Haus; die Arbeit lohnte sich und nährte besser, der Erlös an Waldbeeren, welche die Alte sammelte, wurde ergiebiger, und alles, was die beiden Leute begannen, das mißriet ihnen nicht, und so lebten sie mit der Schlange in stetem guten Frieden und wurden so alt wie Philemon und Baucis und starben auch miteinander nach ihrem beiderseitigen Wunsche zu gleicher Zeit. Und als sie gestorben waren, wurde die Schlange von keinem Auge mehr gesehen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 618.
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