XII

[248] Die Reisenden hatten, um nach der Festung *** zu gelangen, mehr als eine Tagereise zurückzulegen und erreichten den Ort ihrer Bestimmung erst den folgenden Morgen. Nachdem sie von der Fahrt ausgeruht und sich in schickliche Kleider geworfen hatten, begaben sie sich nach der Wohnung des Kommandanten. Im Vorzimmer trafen sie verschiedene Personen, die alle vorgelassen sein wollten, wie es dem Grafen schien. Ein Kammerdiener stand an der Thüre, und der Graf näherte sich ihm und bat, indem er seinen Namen nannte, ihn zu melden. Der Kammerdiener neigte sich höflich, indem er nach einem jungen Manne blickte, der in einer Fenstervertiefung eifrig mit Jemandem sprach. Des Grafen Augen folgten dem Blicke und er erkannte ohne Mühe den schwarz gekleideten jungen Mann, den er schreibend bei dem[248] groben Verwalter angetroffen hatte, als er den Obristen Thalheim aus unwürdigen Verhältnissen erlöste. Ohne Verlegenheit näherte sich der durch den Wink des Kammerdieners Herbeigerufene, und des Arztes blitzende Augen begegneten den kaltblickenden dunkeln Sternen des jungen Lorenz. Ein Ausruf der Verachtung wurde nur mit Mühe unterdrückt, denn zur rechten Zeit fielen dem feurigen Arzte die Warnungen des Predigers ein, und er beschloß nun mit philosophischer Standhaftigkeit und männlicher Würde die Nähe eines Schurken zu ertragen. Der junge Lorenz näherte sich, ohne den Arzt weiter zu beachten, mit ruhiger, kalter Höflichkeit dem Grafen und fragte, ob ein dringendes Geschäft ihn zum Kommandanten führe, da er nur in diesem Falle gemeldet werden dürfe, weil seine Excellenz sehr beschäftigt sei.

Es lag ein so vollkommenes Vergessen aller Verhältnisse in der mit unverschämter Höflichkeit gestellten Frage, daß der Graf so gut wie der Arzt gezwungen war, sich zu beherrschen, um sich nicht durch einen Menschen verletzt zu zeigen, der dessen unwerth schien. Jener antwortete also mit Kälte, daß er darum ersuchen müsse, ihn gleich zu melden, weil es allerdings dringend nöthig sei, daß er seine Excellenz, den Herrn Kommandanten, spräche. Der junge Lorenz verließ ihn, wie es dem Grafen schien, mit einer spöttischen Verbeugung,[249] die sehr kalt erwiedert wurde, und verschwand durch die Thüre, die zu dem Kommandanten zu führen schien.

Wenn die Thüre geöffnet wurde, erwartete der Graf jedes Mal eingelassen zu werden, aber so oft einer, der Gehör gefunden hatte, das Kabinet des Kommandanten verließ, wurde ein anderer der Harrenden eingeführt, und den Grafen und seine Begleiter schien Niemand zu beachten. Der junge Lorenz erschien wie der im Vorsaale und ging an dem Grafen vorüber, ohne ihn anzureden, und dieser konnte sich nicht überwinden, seine Verwendung noch ein Mal zu fordern. Er erstaunte über sich selbst, sich geduldig harrend in dem Vorsaal eines französischen Generals zu finden, und nur die Liebe, welche er für St. Julien empfand, konnte ihn bestimmen, das Ende des sonderbaren Auftrittes ruhig zu erwarten.

St. Julien hatte ungeduldig umher gesehen, um einen Offizier zu erblicken, an den man sich wenden könne, aber nur Personen, die wie Kaufleute und Handwerker aussahen, waren als Bittende im Vorsaale, und der Kammerdiener an der Thür, dessen Augen immer fragend auf den auf und ab gehenden Lorenz gerichtet waren, so oft ein neuer Bittender in das Heiligthum drang.

Endlich blieb der junge Lorenz vor dem Arzte stehen[250] und sagte mit großer Geringschätzung: Wenn Sie bei seiner Excellenz etwas zu suchen haben, so thun Sie am Besten, mir Ihre Mittheilung zu machen, denn der Herr General wird sich schwerlich mit Ihnen einlassen, und auch gegen mich, bitte ich, sich kurz zu fassen, denn lange Auseinandersetzungen habe auch ich nicht Zeit zu hören.

Wer sind Sie denn eigentlich hier, fragte der Arzt mit unterdrücktem Grimme, daß Sie sich in die Geschäfte des Herrn Generals mischen wollen? Es gehört eine große Beschränktheit des Geistes dazu, sagte Lorenz mit großer Ruhe, es nicht ohne Frage einzusehen, daß ich hier angestellt bin; aber Sie werden doch nicht in so hohem Grade geistig kurzsichtig sein, um es nun nicht zu begreifen, daß ich Sie die ungezogene Frage kann bereuen machen.

Es war klar, daß Lorenz, der verschiedene Male von dem Arzte war schnöde behandelt worden, ohne es rächen zu können, jetzt ihn veranlassen wollte, in der Heftigkeit, die ihm eigen war, sich zu vergessen und ungebührlich laut im Vorsaal des Generals zu werden. Durch ein solches Vergehen hoffte er den Arzt in so ernsthafte Unannehmlichkeiten zu verwickeln, daß er alle empfangenen Beleidigungen auf ein Mal rächen könnte. Der Graf sah den Kunstgriff gelingen und wußte nicht gleich, wie er das beabsichtigte Ungewitter abwenden sollte, denn wenn er sich selbst entschloß,[251] sich in das Gespräch der Beiden zu mischen, so konnte er nicht wissen, ob der Uebermuth des jungen Lorenz nicht so weit gehen würde, auch ihn zu beleidigen, und er fühlte, daß es seiner gleich unwürdig sei, eine Beleidigung dieses Menschen zu rügen, wie zu ertragen. Alle diese Gedanken flogen in einem Augenblicke mit Blitzesschnelle durch den Geist des Grafen und er sah unruhig auf den Arzt, der kampffertig da stand, mit glühenden Wangen und halb zugedrückten blitzenden Augen. Nur eines Wortes hätte es noch bedurft und seine Brust hätte sich ohne Rücksicht des furchtbaren Zornes entladen; da rettete ihn ein Zufall, den er oftmals während des Laufes seines Lebens segnete.

Die Thüre wurde geöffnet, und ein Adjudant trat in den Vorsaal und sagte französisch: Der Herr General kann heute Niemand mehr hören, da andere Geschäfte seine Zeit in Anspruch nehmen, und Wer noch etwas vorzutragen hat, mag morgen um dieselbe Stunde wieder erscheinen. Sagen Sie das deutsch, Herr Sekretair, fuhr er zu Lorenz gewandt fort, für diejenigen, die nicht französisch verstehen.

Mit einem boshaften Blick auf den Arzt, wiederholte Lorenz, nachdrücklich betonend, die Worte des Adjudanten, und die noch im Saale gewartet hatten, verließen ihn mißmüthig, und Lorenz hatte die Unverschämtheit, mit einem Ausdrucke der Verwunderung den Grafen anzusehen, so daß[252] sein Blick zu fragen schien, was ihn nach dieser Erklärung noch bestimmen könne, zu verweilen.

Der Graf, auf's Aeußerste darüber empört, sich auf diese demüthigende Weise abgewiesen zu sehen, wollte eben den Adjudanten anreden, zu dem auch schon St. Julien treten wollte, als die Flügelthüre geöffnet wurde und der Kommandant, von einigen Adjudanten begleitet, heraustrat. Der Graf, mit all der natürlichen Würde, die ihm eigen war, und mit der Höflichkeit der Gebehrden, die durch die Erziehung und das Leben in der großen Welt erworben wird, trat dem Kommandanten entgegen und sagte: Mein Herr General, wenn es Ihre Zeit noch irgend erlaubt, so bitte ich Sie, mir, dem Grafen Hohenthal, und dem Kapitän St. Julien noch einen Augenblick Gehör zu verleihen.

Der General verbeugte sich verbindlich und fragte, zu dem Kammerdiener gewendet: Weßhalb sind die Herren nicht gemeldet? Der Kammerdiener deutete stumm auf Lorenz, und dieser sagte ohne alle Verlegenheit: Da Ew. Excellenz befohlen haben, die Personen nach der Reihefolge, wie sie gekommen sind, vorzulassen, und der Herr Graf mit seinen Begleitern zuletzt kam, so glaubte ich keine Ausnahme machen zu dürfen. Es ist gut, sagte der General kurz; ich hatte Ihnen befohlen, vorläufig die Vorträge derer zu hören, die nicht französisch verstehen, um Zeit zu ersparen.[253] Vergessen Sie nicht, daß dieß Ihr Hauptgeschäft ist. Er lud hierauf den Grafen und St. Julien ein, ihm in sein Kabinet zu folgen, und der Arzt schloß sich uneingeladen an, indem er einen triumphirenden Blick auf seinen Feind Lorenz schoß.

Mit ächt französischer Höflichkeit wurde das Geschäft behandelt. St. Julien fand nicht die Schwierigkeiten, die er befürchtet hatte. Er erhielt als dienender Offizier seines Regiments einen Urlaub auf zwei Monate, um seine Gesundheit zu befestigen, wie seine Mutter es ihm schon gemeldet hatte. Der Graf empfing die für seine Behörde wichtige Bescheinigung, und der General dankte ihm verbindlich, daß seine Menschlichkeit einen hoffnungsvollen Offizier erhalten habe, den er damals, als er sich seiner angenommen, doch als einen Feind hätte betrachten müssen. Der Graf erwiederte, daß er überzeugt sei, ein französischer Krieger würde in ähnlichen Fällen eben so handeln und in dem leidenden Menschen keinen Feind erblicken. Wenn aber die Rettung des Kapitäns, fuhr er fort, als ein Verdienst anerkannt werden muß, so darf ich mir dieß nicht anmaßen, denn mein Beistand würde ihn kaum einige Stunden erhalten haben. Daß er lebt und blühend vor uns steht, haben wir nur der Geschicklichkeit und dem Eifer des Herrn Doktor Lindbrecht zu danken. Der Graf erwähnte aus Mitleid[254] das Verdienst des Arztes, denn dieser stand seitwärts und drückte mit großer Verlegenheit sein ansehnliches Manuskript an die Brust, welches er in der Nacht ausgearbeitet hatte, um dem Kommandanten eine Uebersicht davon zu verschaffen, auf welche Weise die Heilung St. Juliens bewerkstelligt worden sei. Er hatte dieß Manuskript im Busen, um es auf den ersten Wink vorzulegen, und nun richtete Niemand eine Frage an ihn, kein Mensch kümmerte sich um ihn und er hatte alle seine Philosophie nöthig, um diese Vernachläßigung des Verdienstes mit Anstand zu ertragen.

Der General sagte ihm nun noch einige verbindliche Worte, die sein Herz einigermaßen erquickten, und entschuldigte sich gegen den Grafen, daß ihm seine Zeit für jetzt nicht erlaube, das Vergnügen seiner Gesellschaft länger zu genießen, er hoffe aber ihn und St. Julien bei der Mittagstafel zu sehen. Der Graf und sein junger Freund nahmen die Einladung an, und Alle verließen das Kabinet des Generals, und indem sie den Vorsaal betraten, in welchem Lorenz noch auf und ab ging, nahmen alle drei Abschied vom General, der seine Einladung wiederholte und sagte: Ich hoffe, mein Herr Doktor, daß Sie den Herrn Grafen begleiten werden. Ein Sonnenschein triumphirender Genugthuung verbreitete sich über des Arztes Gesicht, und nachdem er sich tief vor dem Generale gebückt hatte, sah er seitwärts[255] nach Lorenz, ohne ihn zu grüßen, und ging wie ein siegender Held hinweg.

Mit sehr verschiedenen Empfindungen nahmen die drei Freunde das Mittagsmahl bei dem Kommandanten ein. Der Graf sowohl, als der General fühlten, daß eine freundschaftliche Annäherung unmöglich sei, denn obgleich der Friede geschlossen war und die Franzosen nun als Freunde in Preußen zu stehen behaupteten, so konnte es doch einem einsichtsvollen Manne nicht entgehen, daß der Druck, den sie fort während auf das Land ausübten, sie den Preußen nicht als solche zeigen konnte. Auch das eigne ritterliche Gefühl sagte den bessern Franzosen, daß die Preußen, nach den großen Demüthigungen, die sie erlitten, sich nicht eher aufrichtig mit ihnen versöhnen könnten, bis die Schmach wieder getilgt wäre. Es war also natürlich, daß der Graf und der General nur über sehr allgemeine Gegenstände sprachen, und sich nur so weit näherten, wie es Männern von Welt die Sitte gebietet. Der Arzt war Anfangs scheu in dieser ihm durchaus fremden Gesellschaft und sein schroffes, seltsames Betragen wurde hier noch auffallender, als unter schonenden Freunden; auch tadelte er sich innerlich, daß er, ohne daß die Pflicht es gebot, an einer Gesellschaft Antheil nahm, deren Dasein schon sein patriotisches Gefühl verletzte, und er würde vielleicht den Grafen gar nicht begleitet haben, wenn[256] er nicht seinen Feind Lorenz hätte demüthigen wollen, der am Ende der Tafel saß, wohin der Arzt nun von Zeit zu Zeit übermüthige Blicke richtete. Eine andere Furcht beunruhigte ihn noch. Er besorgte nämlich, St. Julien werde, wie er es sich unter Freunden erlaubte, ihn auch hier zum Gegenstande des Scherzes machen, und er wußte nicht, wie er dann seine Fassung behaupten sollte; doch sah er zu seiner großen Freude bald, wie ungegründet diese Besorgniß war. St. Julien behandelte ihn hier unter Fremden mit der ernsthaftesten Achtung und sprach gegen die jungen bei der Tafel gegenwärtigen Offiziere mit lebhafter Dankbarkeit darüber, wie er dem Eifer, der Geschicklichkeit und der unermüdlichen, uneigennützigen Sorgfalt seines Arztes und Freundes sein Dasein verdanke. Dies war genug, um die lebhaften Franzosen seine seltsamen Manieren vergessen zu machen, und sie überschütteten den Arzt mit lebhaften und aufrichtigen Danksagungen dafür, daß er ihnen einen braven Kameraden erhalten habe. Der überglückliche Arzt bewegte sich heftig hin und her auf seinem Stuhle, um nach allen Richtungen hin, über seine erfüllte Pflicht sprechend, für das ihm bezeigte Wohlwollen zu danken. Erstaunt war er aber, daß die Franzosen sein Französisch größtentheils nicht verstanden, und daß es ihnen St. Julien oft wie eine fremde Sprache übersetzen mußte, und zum ersten Male kam er auf[257] die Vermuthung, daß es nicht Anmaßung und Eigensinn sein möchte, wie er früher glaubte, wenn ihm Dübois Winke über seine Aussprache des Französischen gegeben und zuletzt, da er sie nicht beachtet, nur immer Deutsch mit ihm geredet hatte.

St. Julien schien bei dem Anblick französischer Uniformen und Feldzeichen alle andern Verhältnisse vergessen zu haben. Mit Begeisterung erfüllten ihn die Berichte von Schlachten und Siegen, an denen seine Tischgenossen Theil genommen hatten, und er seufzte über die Unthätigkeit, zu der er selbst indeß durch seine gefährliche Verwundung war gezwungen worden. Er fragte nach manchen von seinen Bekannten und Kameraden, und wenn er auch von vielen hörte, daß sie in den Schlachten geblieben waren, in denen er nicht mitgefochten zu haben beklagte, so hatten doch auch andere militärischen Rang und Ehren erkämpft, während sein eigener Ehrgeiz unbefriedigt blieb, und er betrachtete mit einer Art von Neid ihr Loos.

Als das Gespräch schon eine Zeit lang mit Lebhaftigkeit über alle diese Gegenstände geführt worden war, sagte einer der Adjudanten zu St. Julien: Da Sie doch nach so vielen von Ihren Bekannten und Kameraden sich mit Theilnahme erkundigen, so wundert es mich, daß Sie gar nicht an die[258] drei Brüder Lambertis denken, die doch beinah Ihr Geschick getheilt hätten.

Was ist aus ihnen geworden? fragte St. Julien mit großer Bewegung. Der älteste, erwiederte der Adjudant, ist in der Schlacht bei Friedland geblieben, der zweite ist mit seinem Regimente nach Italien gegangen, und den jüngsten, der bei Friedland einen Arm verloren hat, habe ich vor einigen Monaten in Berlin gesprochen; er hatte die Absicht nach Paris zu gehen. Mit seiner Gesundheit aber stand es in Folge seiner gefährlichen Verwundung noch so schlecht, daß er bei meiner Abreise noch in Berlin bleiben mußte, um sich einigermaßen zu erholen, ehe er die weite Reise unternehmen konnte. Er theilte mir auch Ihr unglückliches Ende mit, denn er hielt Sie für todt.

Und was sagte er darüber, fragte St. Julien mit großer Spannung. Er erzählte mir, sagte der Adjudant, daß Sie beim Marsche Ihres Regiments einen Abend in heiterer Gesellschaft mit den Lambertis zugebracht, darauf des andern Morgens etwas spät mit ihnen ausgeritten wären, und um an dem gegebenen Sammelplatze wieder mit Ihrem Regiment zur rechten Zeit zusammentreffen zu können, hätten Sie einen Führer angenommen, der Sie auf kürzeren Wegen durch das Gebirge zu führen versprochen habe. Dieser aber sei ein Verräther gewesen, denn er habe Sie gänzlich[259] vom Wege abgeleitet, und endlich wären Sie in der Einöde eines sich weit ausdehnenden Waldes auf ein kleines Detachement preußischer Truppen gestoßen, bei deren Anblick Ihr Wegweiser sogleich entflohen sei. Von den Preußen angegriffen, hätten Sie, theurer St. Julien, nach der tapfersten Gegenwehr Ihrem Schicksale erliegen müssen, und auch Ihre Freunde, die Lambertis, wären nahe daran gewesen, Ihr Loos zu theilen, weil sie sich, aus mehreren Wunden blutend, schon ermattet gefühlt hätten, als Hörnertöne aus der Ferne das feindliche Detachement vermuthlich zu seinem Regimente riefen, denn ohne sich um den Todten zu bekümmern und ohne die Lebenden weiter zu bekämpfen, wären die Feinde so eilig als möglich davon gesprengt, und den Lambertis blieb nichts übrig, als ihren gefallenen Freund zu beweinen. Der jüngste Lamberti hatte Ihre Uhr, Ihren Ring und Ihr Taschentuch zu sich genommen, um bei seiner Rückkehr nach Frankreich Ihrer Mutter diese traurigen Zeichen von dem unglücklichen Ende eines geliebten Sohnes zu überreichen.

Es ist ein Glück, sagte St. Julien mit sehr bewegter Stimme, daß meine Muter anders unterrichtet ist und also, wenn der theilnehmende Bote die Zeichen meines Todes überreicht, nicht so heftig erschüttert werden kann, wie er vermuthlich erwartet.[260]

Und verhält es sich so mit der Geschichte Ihres Unglücks, wie eben erzählt wurde? fragte der General.

Alles verhält sich so, erwiederte St. Julien, der mit großer Anstrengung seine Fassung zu behaupten strebte. Der Graf hatte während dieses Gesprächs St. Julien aufmerksam beobachtet, und ihm entging es nicht, wie gewaltsam dieser sein Gefühl niederkämpfte. Bei der letzten Antwort begegneten die Blicke des junges Mannes denen des Grafen, und eine dunkle Röthe bedeckte augenblicklich sein Gesicht, wodurch der Letztere überzeugt wurde, die Sache verhalte sich anders.

Sie lebten in großer Vertraulichkeit mit den Lambertis, begann der Adjudant von Neuem. Ich glaube, Sie sind sogar verwandt.

Weitläuftig, sehr entfernt, erwiederte St. Julien kurz, um das Gespräch zu endigen.

Die Lambertis sind aber Italiener, sagte der Adjudant.

Die Mutter meines Vaters war eine Italienerin, erwiederte der junge Mann, und ich hoffe diesen Freunden und Verwandten noch als wieder erstandener Todter den gebührenden Dank für ihre Theilnahme an meinem unglücklichen Ende abzustatten.

Dem Grafen entging die Zweideutigkeit dieser Antwort nicht und er fing an zu glauben, daß St. Julien über seine[261] beinah tödtliche Verwundung darum ein hartnäckiges Stillschweigen beobachtet hatte, um nicht Gräuel und Verbrechen seiner eigenen Familie zu enthüllen. Er suchte ihn also auch jetzt von der unangenehmen Nothwendigkeit zu erlösen, noch mehr über diesen Gegenstand zu sprechen, und gab der Unterhaltung durch einige zweckmäßige Fragen eine andere Richtung.

Endlich wurde die Tafel aufgehoben und die Gesellschaft trennte sich. Es war leicht zu bemerken, daß St. Juliens natürliche Heiterkeit ihn verlassen und einem trüben, ernsten Nachdenken Platz gemacht hatte. Der Graf fühlte sich erleichtert, als er, im Gasthofe angekommen, die nöthigen Befehle geben konnte, um die Rückreise nach Schloß Hohenthal anzutreten, denn der Aufenthalt unter französischen Kriegern, umringt von ihren Fahnen und Feldzeichen, beklemmte seine Brust, und ihn verwundete tief, was St. Julien in Entzücken versetzt hatte. Beide gaben sich also aus verschiedenen Gründen einem schwermüthigen Sinnen hin. Nur der Arzt war vollkommen heiter; er hatte den vollständigsten Sieg über seinen Feind Lorenz davon getragen, der an der Tafel des Kommandanten wenig war beachtet worden, während er selbst, nach seiner Meinung, die größten Auszeichnungen genossen hatte. Er war auch der erste, der Neigung zeigte, ein Gespräch anzufangen, als sie die Festung[262] hinter sich hatten. Ich hätte nicht gedacht, begann der Arzt seine Rede, daß die Franzosen so höflich und liebenswürdig sein könnten, wie ich sie heute gefunden habe, und wenn sie den Uebermuth aufgeben wollten, alle anderen Völker zu beherrschen, so würde ich mich nicht weigern, sie als Kinder der civilisirten Welt, als Brüder in der großen europäischen Familie zu betrachten.

Der Graf mußte bemerken, daß die letzte Unterhaltung an der Tafel des Kommandanten der Festung *** einen tiefen Schatten in St. Juliens Seele gesenkt hatte, da selbst diese Aeußerung des Arztes seine Laune nicht erregte und er es dem Grafen überließ, eine Antwort darauf zu geben, dessen Stimmung ebenfalls nicht heiter genug war, um in alle Ansichten des Arztes einzugehen. Es wurden also ziemlich stumm die ersten Meilen zurückgelegt. Je mehr sie sich aber Schloß Hohenthal näherten, um so lebhafter fühlte St. Julien das Glück, noch zwei Monate in dem Kreise seiner Freunde verweilen zu dürfen, und die Lebhaftigkeit des Geistes, der Frohsinn der Jugend waren zurückgekehrt, noch ehe der Wagen durch das Thor des Schlosses rollte.

Der Graf Robert eilte den Ankommenden entgegen, und wie einen neu gewonnenen Freund schloß er mit großer Freude St. Julien in die Arme, denn er hatte innerlich gefürchtet, der Kommandant der Festung *** würde Schwierigkeiten[263] machen, die Rückkehr zu erlauben, und vielleicht darauf bestehen, daß St. Julien sogleich zu seinem Regiment abreisen solle. Die Gräfin bewillkommnete ihn mit sichtbarer Rührung, und Emilie, die halb hinter derselben verborgen stand, sendete einen Blick zärtlicher, seliger Freude zu ihm hinüber, der ihm das Herz in seinen Tiefen bewegte, und ihm schien es, als ob er jetzt es zum ersten Male wahrhaft und mit ungemessener Dankbarkeit empfände, wie wahr und innig er in diesem Hause geliebt sei, wo ihn die zartesten Bande umschlossen.

Als die ersten freudigen Begrüßungen vorüber waren, wollte der Graf den Frauen erzählen, wie bereitwillig der Kommandant ihren Wunsch erfüllt habe, aber ehe er noch seinen Bericht begann, er schien der Prediger, der es wußte, daß die Freunde diesen Abend zurück erwartet würden, um so bald als möglich zu hören, wie es bei dem feindlichen General gelungen, und zu sehen, ob St. Julien wirklich wieder zurückgekehrt sei, woran auch er, wie der Graf Robert, gezweifelt hatte. Die Freude und die Glückwünsche wurden bei seinem Eintritte erneuert, aber er selbst kürzte sie gern ab, um zu erfahren, was der Graf über seinen kurzen Aufenthalt in der Festung *** mittheilen würde. Dieser konnte natürlich nur die Höflichkeit und Gefälligkeit des Kommandanten rühmen, der ihnen ohne alle Schwierigkeiten die Freude[264] gewährt hatte, St. Julien noch zwei Monate bei sich zu sehen, und zwar ohne Nachtheil für den jungen Mann. Zwei Monate schienen den jungen Leuten eine beträchtliche Zeit, und ein unbewußt schnell gewechselter Blick zwischen Emilie und St. Julien sprach ohne ihren Willen diese Meinung aus, und erregte in jedem ein tröstliches Gefühl. Der Graf erzählte dem Prediger die merkwürdige Ungezogenheit des jungen Lorenz, und dieser rief höchst entrüstet: So werden Sie doch dem Vater dieses übermüthigen Menschen die Pension nicht länger zahlen, die er von Ihnen zieht?

Und wie hinge das, was ich dem Vater versprochen habe, mit dem Betragen des Sohnes zusammen? fragte der Graf.

Glauben Sie denn, daß er weniger schlecht und undankbar ist, als der Sohn, erwiederte der Prediger; glauben Sie, daß er Ihre Unterstützung im Mindesten verdient oder auch jetzt nur bedarf?

Sie haben gewiß Recht, antwortete der Graf, und ich bin ganz Ihrer Meinung. Auch gestehe ich Ihnen, hätte ich diese unwürdige Familie bei meiner Ankunft gekannt, so wie ich sie jetzt kenne, daß dann meine Unterstützung wenigstens nicht so bedeutend ausgefallen sein würde, trotz der langen Dienstjahre, die der Alte geltend macht. Da ich aber aus Mangel an richtiger Kenntniß mein Wort einmal gegeben habe, so kann ich mich nicht wieder zurückziehen, obwohl ich[265] einsehe, daß der alte Lorenz nicht sowohl so viele Jahre gedient hat, wie er sich rühmt, als vielmehr sich und seine Familie verschwenderisch hat erhalten lassen, ohne Nutzen zu stiften, und gewiß hätte er dafür keine Belohnung verdient; aber, wie gesagt, die Sache läßt sich nun nicht mehr ändern und wir müssen uns darein ergeben.

Es ist aber ärgerlich, sagte der Pfarrer, dem noch Wohlthaten zuwenden zu sehen, der jetzt wieder mit Uebermuth wie ein reicher Mann unter uns auftritt. Er hat das kleine Gut Schönthal gepachtet und lebt dort ganz wie ein Edelmann. Ich war neugierig, seine Einrichtung zu sehen, und brachte ihm deßhalb selbst die vierteljährige Pension hin, die Sie ihm zukommen lassen. Ich erstaunte, wie außerordentlich gut er das Haus meublirt hat, und er hatte die Unverschämtheit, mir mit seinem widrigen Lächeln zu sagen: Da jetzt so viele Edelleute in der schweren Kriegszeit, die Gott über uns verhängt hat, zu Grunde gehen, so kommt man wohlfeil an alle diese Dinge, Herr Prediger, und ich kann nach Gottes gnädigem Willen in meinem Alter doch noch fühlen, daß ich ein Mensch bin, so gut wie alle die Herren. Das Geld, welches ich ihm brachte, warf er so gleichgültig in seinen Schreibtisch, als wäre es für ihn eine ganz geringe Summe und keineswegs eine Unterstützung, die er der Großmuth verdankt, sondern die Bezahlung einer unbedeutenden[266] Schuld. Mein Schreiber soll die Quittung aufsetzen, sagte er vornehm, ich werde sie unterzeichnen, denn meine Augen werden schwach und erlauben mir nicht mehr viel zu schreiben. Ich ärgerte mich so sehr über sein übermüthiges Betragen, daß ich ihn etwas zu demüthigen beschloß und daher sagte: So würden Sie wohl jetzt keine Urkunden mehr abschreiben können, wenn sich die Gelegenheit darböte? Nein, das würde mir nicht mehr möglich sein, antwortete er sehr freundlich ohne alle Verlegenheit, auch habe ich es Gottlob nicht mehr nöthig, solche Arbeiten zu machen, und bin durch Gottes Gnade so eingerichtet, bester Herr Prediger, daß ich in meinem Hause nur über Dinge zu sprechen brauche, die mir angenehm sind. Ich wollte den alten Sünder verlassen, aber er bestand darauf, ich mußte den Abend bei ihm bleiben, und ich fand seinen Tisch außerordentlich gut besetzt. Man hat die Gottesgabe, bemerkte er, weit billiger, als die vornehmen Herren, denn die Kenntnisse, die ich mir in der Jugend erwarb, schützen mich besser vor Betrug. Das kann ich begreifen, erwiederte ich ihm, so daß er die Beziehung verstehen mußte. Freilich, freilich, antwortete der Schelm ohne alle Verlegenheit, es begreift sich leicht. Wer so lange, wie ich, in herrschaftlichen Häusern lebt, macht auch seine Studien, nur anders wie die Gelehrten, Herr Pfarrer. Bei Tische wurden sehr gute Weine angeboten, und der Alte sagte[267] mit unerträglicher Heuchelei: Gott hat mir gute Kinder geschenkt, die für ihren alten Vater sorgen. Mein lieber Sohn hat mir einige Kisten Wein gesendet. Lieber Gott, er ist in einer Lage, wo er das alles mit Leichtigkeit erwirbt, und er will nicht, daß das schwache Licht meines Lebens erlöschen soll, und sucht deßhalb die Flamme zu nähren; nun, der Herr wird es ihm vergelten. Er sagte mir hierauf, daß in der nächsten Woche seine beiden Kinder ihn auf einige Tage besuchen würden, um seinen siebzigsten Geburtstag festlich zu begehen, und er lud mich so dringend dazu ein, daß ich zusagen mußte. Als er mein Versprechen hatte, fing er an, wie er sagte, aus Freude darüber, unmäßig zu trinken, und ich verließ ihn im Zustande thierischer Betrunkenheit und schämte mich, daß ich ein solches Mahl mit einem solchen Menschen hatte theilen können. Auch war ich natürlich entschlossen, sein Haus nicht wieder zu betreten, obgleich ich gern sehen möchte, wie sich die saubere Familie an diesem Feste gebehrden wird. Auch möchte ich wissen, wo sich seine Tochter aufhält, nachdem sie den französischen General verlassen hat, der Alte gab darüber nur ausweichende Antworten. Ist es denn nun, schloß der Prediger, nach allem diesem nicht unerträglich, daß dieser übermüthige Mensch noch Wohlthaten empfangen soll, deren Werth er so wenig erkennt?

Sie haben Recht, erwiederte der Graf, und nur ein[268] gegebenes Wort bestimmt mich, eine Unterstützung fortzusetzen, die allerdings, wie ich selbst einsehe, besser angewendet werden könnte.

Der Geistliche konnte hierauf nichts weiter erwiedern, und wurde von der Unterredung mit dem Grafen durch einen lebhaften Streit zwischen dem Arzte und St. Julien abgezogen, an dem nach und nach die ganze Gesellschaft Theil nahm. Der Arzt behauptete nämlich mit größtem Eifer, da die Franzosen in Deutschland wären, so wäre es ihre Schuldigkeit, deutsch zu lernen, und sie müßten es wie eine höfliche Gefälligkeit betrachten, wenn man sich dazu verstände, französisch mit ihnen zu reden, und hätten gar kein Recht, weder über schlechte Aussprache noch sonstige Mängel dabei zu lachen. St. Julien scherzte über den Gedanken und fand die Vorstellung ungemein belustigend, daß also, wenn ein Feldzug eröffnet werden sollte, die erste Vorbereitung dazu durch die Sprachmeister in verschiedenen Zungen gemacht werden müßte.

Der Graf, der sich in das Gespräch mischte, sagte: Sie würden Recht haben, lieber Doktor, wenn die Franzosen zu uns als Bittende, Hülfesuchende kämen; da sie aber leider als Sieger hier sind, so können sie wohl erwarten, daß wir unsere Gesuche in ihrer Sprache vortragen, denn es möchte zu unserm eigenen Nachtheil gereichen, wenn wir dieß nicht[269] verständen, und so schafft eine Gewohnheit selbst, die mir immer so außerordentlich albern erschienen ist, doch auch ihren Nutzen, freilich bei einer unerfreulichen Gelegenheit.

Welche Gewohnheit? fragte der Prediger neugierig.

Der seltsame Gebrauch, erwiederte der Graf, der seit Jahrhunderten immer weiter um sich gegriffen hat, in den gebildeten Familien statt der Landessprache die französische zu reden, und nicht etwa gegen Franzosen oder überhaupt gegen Fremde, nein, unter sich, so daß recht in ihrem Herzen eine jede Familie ihrer Nationalität entäußert und fremd, französisch, zu werden sucht.

Tadeln Sie die Kenntniß und den Gebrauch fremder Sprachen, fragte St. Julien verwundert, da Sie selbst mehrere gründlich kennen und lieben?

Der Graf antwortete lächelnd: Kaiser Karl der Fünfte sagte, ein kluger Mann, der vier Sprachen redet, ist so viel werth, als vier kluge Männer, und der Meinung bin ich auch. Aber würden Sie sich nicht wundern, wenn in den französischen Salons auf ein Mal deutsch oder englisch von allen Menschen geredet würde, die darauf Anspruch machen, zu den Leuten von gutem Tone zu gehören, und Jeder dieß für vornehmer hielte, als wenn er an seinem eigenen Heerde sich der Sprache seines Landes bediente? Würden nicht alle wahren Franzosen ein solches antinationales Beginnen auf[270] das Heftigste und zwar mit Recht tadeln? Und liegt nicht der Gedanke ganz nahe, wenn ich mich immer eines fremden Idioms bediene, um meine besten Gefühle, sinnreichsten Gedanken und witzigsten Einfälle darin auszudrücken, daß die Sprache des Landes vernachlässigt werden, roh und ungebildet bleiben muß? In Deutschland hat ein gebildeter Mittelstand die Sprache lebendig ausgebildet, und gewiß dadurch viel zu dem Glanze und der Anmuth beigetragen, die wir neben der Tiefe und Innigkeit bei den vorzüglichsten Schriftstellern unserer Nation bewundern. Die Vornehmen haben seit lange besser verstanden, sich französisch als deutsch auszudrücken.

Es ist wahr, sagte St. Julien, auch die Italiener erwarten, daß man in ihrem Lande ihre Sprache mit ihnen redet, aber ich habe dieß immer für Unwissenheit gehalten.

Zum Theil, sagte der Graf, mag es so sein. Aber noch weiter gehen in dieser Forderung die Engländer, und gewiß nicht aus Unwissenheit, sondern aus sehr zu lobendem Nationalstolze; denn ich wenigstens begreife nicht, worauf sich die Vaterlandsliebe am Ende stützen kann, wenn eine Nation alles Eigenthümliche, bis auf ihre Sprache selbst, bei sich zu vertilgen strebt. Ein Bequemlichkeit ist indeß, wie nicht zu läugnen ist, aus dieser lächerlichen Gewohnheit entstanden, daß nämlich die französische Sprache die geistige[271] Scheidemünze des Lebens geworden ist und man nur diese eine zu erlernen braucht, um sich vom Tajo bis zur Newa und noch weiter hinaus verständlich zu machen.

Und das ist doch ein großer Vortheil, rief St. Julien.

Für die Franzosen, erwiederte der Graf; sie gewinnen dabei am Meisten, selbst an Bequemlichkeit, denn sie brauchen sich nicht mit dem Studium einer einzigen fremden Sprache zu bemühen, selbst nicht für ihre diplomatischen Unterhandlungen, denn auch diese werden in der Regel in französischer Sprache geführt, und ich weiß nicht, ob Jemand daran gedacht hat, welch ein großer Vortheil den Franzosen schon allein dadurch zugestanden ist, daß mit ihnen in ihrer Landessprache unterhandelt wird, die ein geistreicher Mann immer besser zu benutzen verstehen wird, wie eine fremde, wenn er sie sich auch noch so sehr zu eigen gemacht hat.

Aber eine Sprache muß doch bei diesen Verhandlungen angewendet werden, sagte der Prediger, und so würde es nicht zu vermeiden sein, daß eine Nation in dieser Rücksicht begünstigt wird.

Ehedem, bemerkte der Graf, wurden alle Staatsgeschäfte verschiedener Nationen lateinisch verhandelt, und ich begreife nicht, weßhalb dieß jetzt lächerlich und pedantisch gefunden wird. Es war wenigstens Gerechtigkeit darin, eine[272] Sprache, die keine lebende Sprache eines Volkes mehr ist, und die folglich alle Parteien erlernen mußten, in Fällen anzuwenden, wo es so sehr darauf ankommt, kein Uebergewicht zu gestatten.

Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen, daß Dübois eintrat und nach einem leisen Gespräch mit dem Grafen Robert das Zimmer mit demselben verließ. Alle, selbst der Graf nicht ausgenommen, waren verwundert über das Geheimnißvolle in der Art, wie der Haushofmeister den jungen Grafen abgerufen hatte, und erwarteten mit einiger Unruhe seine Rückkehr. Nach einigen Minuten erschien er wieder im Saale, und Ernst und Unruhe hatten sich auf seiner Stirn gelagert. Zwei ehemalige Regimentskameraden, sagte er zu seinem Oheim, bitten mich für diese Nacht um Gastfreundschaft, die natürlich ich nicht ohne Ihre Erlaubniß gewähren kann, und ich komme deßhalb – –

Lieber Vetter, unterbrach ihn der Graf mit leichtem Unwillen, bedarf es noch einer Frage, ob mir Ihre Freunde willkommen sein werden.

So erlauben Sie mir, erwiederte sein Verwandter mit einiger Verlegenheit, mich für heute mit ihnen zurückzuziehen und für die Bequemlichkeit meiner Gäste in Ihrem Hause zu sorgen, denn der eine ist nicht wohl; doch, hoffe[273] ich, wird er sich nach der Ruhe der Nacht erholen, und ich werde Ihnen, ehe sie weiter reisen, Beide vorstellen können.

Er verließ nach diesen Worten von Neuem den Saal, der Graf blickte ihm verwundert nach. Der Prediger war so lebhaft aufgeregt von diesem Vorfalle und versenkte sich in so tiefes Nachdenken darüber, was dieser geheimnißvolle Besuch zu bedeuten haben könne, daß er die sehr merklichen Winke des Arztes übersah, der sich ebenfalls mit ihm zu entfernen und ihm etwas anzuvertrauen wünschte. Der Graf konnte sich einer leichten Unruhe nicht erwehren; er vermuthete, daß dieser Besuch mit Verbindungen im Zusammenhange stehe, in die sich sein Verwandter, wie er wußte, eingelassen hatte, und er fürchtete, daß vielleicht eine Unbedachtsamkeit den jungen Mann in Verantwortung bringen und ihn selbst mit hinein ziehen könne. Er wurde also nachdenkend und still, und es gelang endlich dem Arzte, den Prediger auf sein Zimmer zu führen, um ein wichtiges Geheimniß in dessen Busen niederzulegen. Endlich, fing er triumphirend an, bester Herr Prediger, kann ich Ihren lang gehegten Wunsch befriedigen und Ihnen den vollständigsten Aufschluß über eine Sache geben, die Sie sich so oft vergeblich bemüht haben zu erfahren.

Und über welche Sache wäre Ihnen dieß möglich? fragte der Geistliche mit Spannung. Ueber die wunderbare[274] Verwundung unseres guten Herrn St. Julien, erwiederte der Arzt mit selbstgefälligem Lächeln.

Was haben Sie darüber erfahren, fragte mit Eifer der Pfarrer, und bei welcher Gelegenheit? Sie wissen, antwortete der Arzt, ich kümmere mich nicht sonderlich um die Angelegenheiten der Menschen, wenn sie nicht mit meiner Kunst zusammenhängen, und ich würde auch dieß Mal um meinet Willen nicht so aufmerksam darauf gewesen sein, denn für mich ist es die Hauptsache, daß ich den jungen Mann hergestellt habe. Wie er zu seinen Wunden gekommen, ist mir eigentlich gleichgültig, aber die Freundschaft hat ihre Rechte. Also um Ihret Willen, bester Freund, hörte ich genau hin und prägte mir die ganze Unterredung an der Tafel des Kommandanten so genau ein, daß ich sie Ihnen Wort für Wort wiederholen kann. Er that dieß hierauf mit großer Umständlichkeit und fragte mit selbstzufriedenem Lächeln, als er geendigt hatte, seinen aufmerksamen Zuhörer: Was sagen Sie nun, habe ich nun nicht den Zusammenhang der ganzen Sache zu Ihrer Kenntniß gebracht, und bin ich gänzlich unfähig, wie Sie so oft behauptet haben, einer Sache meine Aufmerksamkeit zu schenken, die nicht mit meiner Wissenschaft zusammenhängt?

Und halten Sie denn diese Erklärung für die aufrichtige, wahre? fragte der Geistliche etwas verächtlich. Die[275] geringste Ueberlegung hätte Ihnen ja sagen müssen, daß, wenn sich die Sache so verhielte, St. Julien keine Ursache gehabt hätte, sie uns allen so ängstlich zu verschweigen, und daß er uns, wenn dieß der richtige Zusammenhang der Sache wäre, diese Mittheilung denselben Tag gemacht haben würde, an welchem Sie ihm zu sprechen erlaubten.

Mann, Sie haben Recht! rief der Arzt, von seinem Sitze aufspringend, Sie sind ein wahrer Macchiavell an Scharfsinn.

Bedeutend ist in Ihrem Berichte, erwiederte der Prediger, daß die erwähnten Italiener des jungen Mannes Verwandte sind. Nun, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, ich gebe es noch nicht auf, der Sache auf den Grund zu kommen, so wie manchem Geheimnißvollen in diesem Hause. Sagen Sie mir doch morgen, wenn Sie nach dem Dorfe reiten, um Ihre Kranken zu besuchen, ob die heut angekommenen Gäste auf dem Schlosse geblieben sind. Auf den Fall würde ich doch morgen wieder herkommen, um sie mir anzusehen. Der Arzt gab das verlangte Versprechen, und der Pfarrer trennte sich von ihm in wohlwollender Stimmung.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 2, Breslau 1836, S. 248-276.
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