II.

[165] Rother's Nachforschungen in Hamburg wurden ungemein vom Glück begünstigt. Da es Wolffert natürlich nicht für nöthig befunden, seilten Namen zu wechseln, wurde das Hotel, wo er gewohnt, bald ausgefunden. »Ja, war hier mit weiblicher Begleitung. Eine Dame – Cousine wahrscheinlich,« ein verschmitztes Lächeln begleitete diese Verwandtschaft-Bestimmung des Hotelportiers. »Sind vor einer Woche nach Christiana mit ›Kong Biörn‹ abgesegelt.« – Der Dampfer »König Sigurd« stach gerade in dieser Nacht in See. Ohne sich zu besinnen, bestellte Rother einen Kajütenplatz. Bei seiner tiefen Mißstimmung (er hatte zudem keine Paßkarte gelöst und einen alten Paß aus alle Gefahr hin mitgenommen, was ihn in Peinliche Unruhe versetzte, falls ein Beamter in Kuxhaven an Bord käme), gerieth er die ganze Nacht hindurch in aphroditische Spelunken zu einer alten Freundin, die einen Wein-Salon hielt und alle Jahre lebensmüder, anständiger und dicker wurde. Sie gab ihm im Morgengrauen das Geleit zum Hafen. Eine heitere Symbolik.

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Schon stampfte die Maschine gefährlich – das ist die offene See. Eine scharfe »Kühlung« peitschte die Wogen zu einer schäumenden Wasserhölle auf.

In Rother erwachte der Berufstrieb. Er blieb an Deck. Grün schwamm es ihm vor den Augen, doch gefaßten Muthes studirte er landschaftlich die Wuth der Elemente,[166] indem er sich krampfhaft an den Mast klammerte. Unten im Zwischendeck stand schon alles unter Wasser, kein Passagier wagte sich die schnurgrad steile Eisentreppe an Deck hinaus. Ein regelrechter Sturm brach los. Nur der Kapitän in einem weiten Regenmantel saß oben vor seiner Karte und suchte nach dem Kurs. Sogar der Steward deckte plötzlich winselnd die Bank – selbst sein seefester Magen vermochte dem wundersamen Gast nicht zu widerstehen, der sich erst höflich meldet und die Visitenkarte abgiebt, bis er auf einmal unverschämt poltert und dem Magen-Wirth alle Habe zum Fenster hinausschmeißt.

Rother stand so lange oben, wie es anging. Alles Leben schien sonst im Weltenraum erstorben. Sein Plaid flatterte um ihn her, als wolle es ihn wie der Mantel des Faustus in die Lüfte entführen. Sein Mund erbleichte, sein Auge stierte verglast und das Blut erstarrte ihm in den Adern. Doch als Odysseus lauschte er den Sirenen, die ihn mit salzigen Seufzern besprühten.

Land endlich, Land! Dröbak's Kanönchen grüßen. Die werden einst Deutschlands Flotte in Grund und Boden schießen, falls es den nimmersatten Vettern, sobald sie Jütland verschluckt, belieben sollte, mal das gute Küstenland Norge's wie zur Zeit der Hansa in Besitz zu nehmen. Jaja, der »Tysk« genießt hier ein schlechtes Renommee als ein Alles-Annektirer und Jeden-Chikanirer.

Wenn auch am Stadtthor Bergen's nicht mehr das hanseatische Wappen prunkt, so haben die abscheulichen deutschen Räuber doch dort für immer ihr Blut hinterlassen,[167] wie der Unterschied der lebhaften Bergenser zu den übrigen Vikingssöhnen ergiebt.

In Christiana darf man aber nicht an die Vikinger, die alten Nordmänner, denken. Der gleiche Wind weht noch vom Berge, aber der gleiche Himmel sah ein anderes Volk sich hier im Fyord stärkefroh ergehen, hier wo das Nest der Drachenschiffe lag – Seekönigsburg statt Deiner, Oskarshall!

Rother begab sich ins Hotel Victoria, wo Altengland sein touristisches Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Hier lungern manche Briten Wochen lang und ihr Reisegeld bleibt hier. Denn im Hochland soll man Hunger leiden und das mißfällt diesen Alpensteigern, denen nur Lawinen von Eierschaum im Alpdruck erscheinen.

Es konnte nicht schwer fallen, nach der Passagierliste des »König Biörn« und den Fremdenbüchern des Hotels das gesuchte Pärchen aufzugabeln. Sie hatten »Hotel Skandinavie« gewohnt, waren vor einigen Tagen auf der Route über Eidsvold nordwärts gegangen. Ob sie via Trondjem fahren wollten oder den Mjösensee entlang durch Gudbrandsdalen nach Romsdal reisen, das blieb ungewiß. Rother besann sich keinen Augenblick. Er rollte sofort auf den Rädern der Nordbahn gen Hamar.

In Norwegen erinnern die Einrichtungen, Verkehrsmittel, offiziellen Uniformen weit mehr an England-Amerika, als an Deutschland. Auch die Eisenbahn, mit der er dem Mjösensee ins Innere des Landes entgegenflog. In Hamar endet dieses Bahngeleise und zweigt sich von da nach Drontheim ab. Während die Anderen umsteigen, überlegte[168] er, ob er bis morgen auf Ankunft des Dampfers, an den er Anschluß versäumt hatte, hier warten solle. Einen Tag Zeit verlieren? Nein, er wird den Mjösensee entlang mit Skyds, den zweirädrigen Carriolen, nach Lillehammer fahren. Ein freundlicher Norweger, hülfsbereit wie sie alle, führt ihn zu einem Wagenbesitzer. Dieser rothhaarige sommersprossige Bauer mit echtnordischem hartlistigem Ausdruck verlangt einen ziemlich hohen Preis, aber es scheint wirklich eine endlose Strecke. Um 5 Uhr Nachmittag starten sie und erst um 2 Uhr Nachts sollen sie in Lillehammer anlangen. Das Pferd sieht kräftig aus und hat gut gefuttert. Sie preschen los.

Hier und da grüßt zu Seiten des Weges eine Hütte, karmoisinroth angestrichen, wie alle Blockhäuser im nordischen Hochland. Das Gehölz wird spärlicher. Manchmal reckt sich nur eine hohe Tanne an steiler Felswand aus wildem Geröll, wie ein großer Gedanke, alle Trümmer überlebend, sich in verwüsteter Seele erhebt. Die letzten Strahlen der Sonne spielen durchs hohe Riedgras und, von goldigen Lichtern überzittert, schaukeln sich die Halme im leisen Wind.

Ja, der Fjord begleitet die endlose Fahrt. Unablässig sieht man durchs struppige Ufergebüsch sein glänzendes Auge. Rother hemmte etwas die allzu scharfe Gangart des Rosses. Es wird immer stiller, immer dunkler. Nur weiße Wölkchen darüber und silberne Sterne.

Um 11 Uhr Nachts hielten sie vor einer Skydsstation, um noch etwas Abendbrot aufzutreiben. Es gab uralten Schinken, der wie steinharter Bärenschinken, also[169] wie getrocknete Schuhsohle, schmeckte: Eier von zweifelhafter Frische, für die man eilten verbogenen Kupferlöffel mit einer Rinde voll vorsündfluthlichem Schmutz erhielt; vorzügliche Milch und ranzigen Käse von röthlicher Farbe und süßlichem Geschmack, wie man ihn mir im Norwegischen Hochland findet. Der Skydsvorsteher und der Führer unterhielten sich über die Verrücktheit des Engländers, der mit Skyds das ganze Mjösen-Ufer abrase. Sie wunderten sich baß, als er in das Stationsbuch seine deutsche Herkunft einschrieb. Aber nur weiter, weiter! Immer hinein in die ahnungsvoll dämmerige Nacht!

Tausend Erinnerungen quirlten durch sein Hirn, während sein Auge das Mähnenflattern des rüstigen Rosses verfolgte.

Um halb zwei Uhr Nachts – es wurde schudderig kalt – hielt der Wagenlenker plötzlich die Zügel an und erklärte, daß sie unmöglich bis zum Morgen nach Lillehammer gelangen könnten; das Pferd sei zu erschöpft. Sie machten also zu Gjövik vor der nächsten Skydsstation Halt und klopften die Leute aus dem Schlaf. Er erhielt wirklich ein uraltes Himmelbett und versank in unruhigen Schlaf. Frühmorgens hockte er wieder auf der Carriole. Diesmal aber führte das Söhnchen des Wirths als Skydsbub die Zügel und plauderte unverdrossen in den lichten Morgen hinein, selbst eilt kleiner Morgenelf mit rosigen Bäckchen lind wasserblauen Augen. Sie führen fröhlich hindann.

Um Mitttag langten sie wirklich in Lillehammer an,[170] mit einem Hunger erster Güte. Dort aus der Plattform des Hotels hoch oben die Thäler des Mjösenfjords überschauend, genoß er die letzten Stunden des Tages mit unsäglichem Wohlgefühl.

Tausend Sonnenpünktchen flimmerten über der spiegelglatten binnen Fläche des Sees. Doch die Schatten stiegen von den Bergen tiefer und tiefer, bis sie den Wasserspiegel berührten. Das schäumende Wehr glitzerte wie flüssiges Silber, Wiesen und Haferfelder in grellem Grün und Gelb. Meilenweit schlangen sich die Höfe, so schmuck und zierlich, als wären sie buntlackirte Papphäuschen aus einer Spielzeugschachtel. Und dann überlief den See plötzlich eine tiefgrüne Färbung, aus der sich nur in lichtem Grunde die abgespiegelten Waldwipfel abhoben. Die Berge in der Ferne tauchten sich in Violett und Dunkelblau. Ununterbrochen brauste das Wehr durch die schweigende Waldesnacht. Der spitze grellschwarze Schieferthurm der alten Kirche, der in der Abendröthe silbergrau geschillert, ragte jetzt mit kalter Schärfe in die durchsichtige Dämmerluft, während das stumpfe Ziegelroth des Kirchenrumpfes sich zu blassem Rosa abtönte.

Aber indem Rother sich so dem Genuß des Augenblicks hingab, durchzuckte ihn plötzlich ein eigenthümlicher Schrecken. Er empfand einen heftigen tickenden Schmerz, er griff nach der Brust – was war das?

Der Schmerz ließ sofort nach. Rother saß athemlos mit klopfendem Herzen da – aha, da kam er wieder. Und weiter, ab und zu, in regelmäßigen Zwischenräumen[171] meldete sich der eigenthümliche stechende Tick an der Stelle, wo die Lungelflügel sich dehnen.

Rother versuchte mehrere Proben. Er holte tief Athem, er bückte sich – immer derselbe Schmerz. Dann holte er einen kleinen Handspiegel hervor, den er bei sich trug, und besah in der Nähe seine Hautfarbe. Kein Zweifel – runde gezirkelte Rothflecke zeichneten sich auf den Backen ab, unter den Augen wich das Fleisch wie ausgehölt und zusammengeschrumpft zurück. Kein Zweifel – das war die Schwindsucht.

Er untersuchte seine Brust. Sie schien so mager und eng, daß er unterm Halsknochen mit der ausgespreitzten Hand umspannen konnte. Schon als Knabe war er so schmalbrüstig gewesen, daß ein Arzt nach untersuchendem Klopfen bei einem Katarrh ihn angelegentlich fragte, ob er beim Treppensteigen keine Beschwerden empfinde. Beim Militär rangirte man ihn zur Ersatzreserve wegen allgemeiner Schwächlichkeit. Die Anlage lag also schon lange in ihm – die namenlose Aufregung der letzten Ereignisse hatte den Ausbruch nur beschleunigt. Schon früher hatte er den Stich gespürt; in der Nacht vorm Schlafengehen nach erregten Tagen hatte derselbe ihn heimgesucht. Aber er achtete damals nicht darauf. Nun war das Unglück da.

Was sollte er thun! Was suchte er eigentlich hier oben! Ein Grab? Besser, er kehrte gleich zurück, um in Ruhe zu sterben.

Seine Nachforschungen hatten ergeben, daß ein Pärchen wie das gesuchte hier nicht vorübergekommen[172] war. Es fiel leicht das festzustellen, weil verschwindend wenige Touristen um diese Jahreszeit, ehe die Mitternachtssonne beginnt, Norwegen bereisen. Ob sie gleich nach Trondjem durchgefahren? Eine so anstrengende große Tour im Liebesfrühling einer »wilden« Hochzeitsreise? Kaum. Wahrscheinlich waren sie westlich, statt wie Rother nordöstlich, ins Hochland aufgebrochen – mit der vielgerühmten Drammenbahn über Krokleven und Hönevoß zum Randsfjord gereist.

Nun, er wollte wenigstens auch dies noch versuchen. Denn wozu war er sonst planlos, ziellos, in seinem wahnwitzigen erotischen Instinkt, wie der Hund dem Geruch nachschnüffelt, hinter ihrem Unterrock hergeschnobert? Das Lächerliche, Tollwüthige seiner ganzen Reise ging ihm aus. Was wollte er denn eigentlich! Diese romantische Pilgerfahrt einer Minnesiechheit mußte er selbst ironisch belächeln. Und doch! Was hatte er denn zu versäumen gehabt! Freilich, er hätte sich männlich überwinden sollen. Doch – die Vernunft redet und die Leidenschaft handelt. Machens Andre anders?

Was er wollte? Sie noch einmal wiedersehen. In das öde nüchterne Alltagsleben diese tragische Episode einsprengen. Wenn er sie überraschte, welch ein Moment!

Er sprang auf. Brustschmerzen oder nicht – auf zum Randsfjord! Skyds nach Odnäs und von da die Route zurück nach Christiana absuchen!

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888, S. 165-173.
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