[42] Ottilie – Siedler.
SIEDLER aus dem Haus mit ausgebreiteten Armen auf Ottilie zugehend. So – da bin ich, Frau Sephi. Ottilie erkennend, läßt er schnell die Arme sinken. Ah, pardon – ich dachte, unsere liebenswürdige Wirtin ...
OTTILIE kurz. Bitte, bitte.
SIEDLER. Darf ich die Gelegenheit benutzen, um Ihnen einen guten Morgen zu wünschen?
OTTILIE. Guten Morgen ... Wendet sich.
SIEDLER nach einer Verlegenheitspause. Sehr schöner Aufenthalt hier ...
OTTILIE. O ja ... Geht nach hinten.
SIEDLER. Einen Augenblick noch, mein gnädiges Fräulein.
OTTILIE sich umwendend. Sie wünschen?
SIEDLER. Ich habe Ihnen etwas zu geben.
OTTILIE. Sie mir?
SIEDLER. Ja, bei Ihrer eiligen Flucht, die ich leider verschuldet habe, ist im Zimmer oben ein Gegenstand von Wert zurückgeblieben.
OTTILIE. So?
SIEDLER. Ich hätte Ihnen eigentlich den kostbaren Fund schon gestern überbringen müssen, aber ein armer Teufel, wie ich bin, konnte ich mich nicht so schnell davon trennen.
OTTILIE. Was kann denn das sein?
SIEDLER ihr einen Handschuh zeigend. Hier, dieser Handschuh.[42]
OTTILIE. Aber das ist doch kein Gegenstand von Wert?
SIEDLER. Für mich war er's doch! Sie glauben gar nicht, was so ein kleiner, zierlicher Damenhandschuh für eine Zauberkraft hat Ihre ganze Erscheinung hat er mir zurückgerufen – Ihre ganze Anmut und Frische –
OTTILIE abweisend. Bitte, Herr Doktor!
SIEDLER. O, auch Ihre abweisende Strenge war auf den Handschuh übergegangen, und die ganz besonders! Sie hätten ihn nur sehen sollen, wie er auf dem Tische lag und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Türe deutete – wissen Sie, wie die Hand auf dem Wegweiser, als wenn er mir zurufen wollte: »Du bist ein Eindringling in diesem Raume, hinaus mit dir!« Ja, Sie werden mich auslachen, aber ich habe mich nicht einmal getraut, den Koffer auszupacken.
OTTILIE. Alles wegen des Handschuhs?
SIEDLER. Sie haben keine Ahnung, wie er mich gequält hat, und schließlich blieb mir nichts übrig – ich habe ihn vom Tisch genommen und unter mein Kissen gesteckt, nur um endlich Ruhe zu haben!
OTTILIE lachend. Ach, der arme Handschuh!
SIEDLER. Gott sei Dank, nun lachen Sie doch wieder! Also sind Sie mir nicht mehr so böse wie gestern?
OTTILIE. Bitte, daran hat sich nichts geändert.
SIEDLER. Aber hoffentlich zürnen Sie doch nur dem Rechtsanwalt und nicht dem Menschen?
OTTILIE. Wenn ich aufrichtig sein soll, auch dem Menschen! Denn der durfte es dem Rechtsanwalt gar nicht erlauben, meinen armen Papa so zu quälen.
SIEDLER. Nun, was das anbetrifft, mein Fräulein, da kann ich Ihnen einen Beweis meiner aufrichtigen Reue und Besserung geben. Ich habe mir seit unserer ersten Begegnung redlich den Kopf zerbrochen, wie man den leidigen Rechtsstreit auf gütlichem Wege beseitigen kann, und ich will noch heute bei Ihrem Herrn Vater mein Glück versuchen.
OTTILIE. Das ist freilich sehr schön – aber, ob gerade Sie bei meinem Vater der geeignete Fürsprecher sind? Sie werden ja doch bemerkt haben, Papa hat eine leise Antipathie gegen Sie.
SIEDLER. Na, gerade so leise hat sich die Antipathie nicht geäußert – aber das schreckt mich nicht! Und mit demselben Eifer, mit dem ich den Krieg geführt habe, werde ich jetzt auch den Frieden herbeiführen.[43]
OTTILIE. Ja, wenn Sie das zustande brächten ...
SIEDLER. Also, Sie übergeben mir das Mandat?
OTTILIE. Gewiß, mit tausend Freuden.
SIEDLER. Da muß ich Ihnen freilich erst noch eine geschäftliche Mitteilung machen! Wenn wir so eine neue Sache übernehmen, da ist es bei uns Rechtsanwälten üblich, daß wir einen kleinen Kostenvorschuß bekommen.
OTTILIE. Ja, womit könnte ich ...?
SIEDLER. Der Handschuh! Wenn Sie mir den doch schenken wollten!
OTTILIE. Aber mit Vergnügen, ich muß nur erst noch meine Tante fragen ... der Handschuh gehört nämlich ihr ...
SIEDLER entsetzt. Der Tante? Das hätte ich wissen sollen! Zieht den zu weiten Handschuh über seine rechte Hand, die er dann mit komischem Entsetzen emporhebt. Und den Handschuh habe ich unter mein Kopfkissen gelegt. Ihr den Handschuh übergebend. Den Dank, Dame, begehre ich nicht!
OTTILIE. Dann also adieu, Herr Doktor. Streift ihm den Handschuh ab und reicht ihm dann die Hand.
SIEDLER küßt ihr die Hand. Mein Fräulein! ... Sehen Sie, nun habe ich doch meinen kleinen Kostenvorschuß bekommen!
OTTILIE. Auf Wiedersehen! Ab ins Haus.
Ausgewählte Ausgaben von
Im weißen Rößl
|
Buchempfehlung
Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.
98 Seiten, 5.80 Euro