Zwölftes Kapitel

[257] Das war ein Leben am andern Tag! Fanny und die Gräfin standen im Mittelpunkt desselben. Liebe und Verehrung kam von allen Seiten, in hundertfältigen Beweisen auf beide eingestürmt. Es war natürlich, daß die Gräfin als Gutsherrin und Schloßfrau auch mannigfachen Pflichten zu genügen hatte, Deputationen aus dem Dorfe, die Schulkinder, die Dienstboten und dergleichen zu empfangen verpflichtet war, während Fanny auch einige stillere Stunden hatte, wo sie sich in ihrem Zimmer der eingehenden Betrachtung ihrer Geschenke widmen konnte.

Ihr Gemach glich einem Blumengarten. Die Gäste des Schlosses hatten zum Teil aus Berlin ungeheure Blumengebäude kommen lassen. Von Mittelbach war ein Schlitten angelangt, der dort schon in der Nacht weggefahren sein mußte; er brachte Briefe, Grüße und Blumen von daheim. Lucy von Grävenitz hatte Fanny ein Gedicht gemacht; die Gräfin gab Fanny jedes Jahr eine größere Geldsumme zu dem[257] »Feierabendhaus«, das Fanny auf Mittelbach für alte Tagelöhner bauen wollte; Fanny erwiderte dies Geschenk stets mit einem Gemälde irgend eines modernen Meisters für die Galerie des gräflichen Schlosses. Lanzenau brachte Fanny immer ein förmliches Magazin von kleinen Luxusgegenständen für ihre Person und ihre Zimmer dar. Auch diesmal war er vorher in Berlin gewesen, dergleichen zu besorgen.

Er reichte Fanny zum Glückwunsch still bewegt die Hand, und sie, ergriffen von seinem gealterten Gesicht, sagte mit thränenden Augen:

»Unter allen Umständen – in allen Lebenslagen – ich bin und bleibe Ihre schwesterliche Freundin!«

Lanzenau schwieg. Aber sein heftiger Händedruck war Antwort genug.

Nein, heute nicht – heute nicht ihr den Dolch in das freudige, glückvertrauende Herz stoßen. Er konnte es nicht, obgleich er sich in der langen, bangen Nacht vorgenommen, ihr zu sagen, daß der, den sie liebe, nicht mehr frei sei.

Vielleicht gab es sogar noch einen Weg, ihr jeden heftigen Stoß zu ersparen. Wenn er mit Joachim spräche, wenn es noch gar nicht zu Erklärungen gekommen wäre? Würde sie den Verlust eines Mannes nicht leichter ertragen, den sie nur erst in ihren Hoffnungen, nicht in Wirklichkeit besessen? Gewiß – Lanzenau wollte mit Joachim reden.

Da begegnete er ihm im Korridor, er wollte ohne[258] Zweifel auch Fanny gratuliren gehen, denselben Weg, den Lanzenau eben gemacht.

»Auf ein Wort, Herebrecht!«

»Ich bitte,« sagte Joachim, »nachher. Erst will ich Fanny zum Geburtstag Glück wünschen.«

Joachim hatte eben dem Mittelbacher Schlitten den Brief an Severina zur Besorgung gegeben und war ganz froh.

Er sagte »Fanny«; das fiel Lanzenau schmerzlich auf. Aber dann besann er sich; das war schon lange geschehen; sie waren ja sozusagen verwandt durch Adrienne.

»Gut,« antwortete Lanzenau, »ich bin in der Bibliothek und erwarte Sie.«

So legte er Joachim den Zwang auf, nicht zu lange bei Fanny zu bleiben. Das fühlte dieser wohl und von neuem wollte Unruhe durch seine Adern schleichen.

Aber die entfloh wie Nebel vor dem Sturm, als er Fanny sah, wie sie dastand, umgeben von der Blumenpracht, und ihm entgegenlächelte, befangen fast wie ein Mädchen und doch mit dem Glutblitz des Weibes in den Augen.

»Fanny,« sagte er tief bewegt, »ich bringe Dir nichts als meinen heißen Wunsch, daß ...«

Er stockte. Er ihr Glück wünschen, er, um den sie weinen und leiden würde, wenn sie wüßte ...

Fanny ergriff seine Hände.[259]

»Du hast Dich mir gegeben, Deinen ganzen Menschen,« sprach sie feierlich, ihn mit leuchtenden Augen ansehend, »das ist das Gnadengeschenk, welches das Schicksal mir noch schuldete.«

»Geliebte!« sagte er mit zitternder Stimme und küßte ihren Scheitel.

»Ja,« fuhr sie mit dem Pathos höchster Leidenschaft fort, »ja, es war mir das schuldig. Die Welt glaubte, ich sei glücklich, weil alle meine Kräfte froh und mit Segen sich bethätigen konnten. Die Welt glaubte, nur mein Verstand, nicht mein Herz brauche Beschäftigung. Aber ich fühlte tief innen immer, daß mir die Krone des Weibes fehlte. Ich hatte noch niemals geliebt. In meiner Ehe mit Förster hat die erschöpfende, die alles duldende Liebe gefehlt, was sonst wie ein Traum an Sehnsucht durch mein Herz zog und sich äußerte, war Selbstbetrug. Du bist meine Wahrheit, mein Leben, mein Glück.«

»Fanny,« sagte Joachim – seine Augen waren naß und er drückte ihre Hand dagegen – »Fanny, und doch war Deine Wahl eine Verirrung.«

»Nein,« rief sie flammend, »tausendmal nein! Ich habe nicht gewählt, Du bist mir gegeben. Es gibt keine Wahl, wo ein gewaltiges Naturereignis alles in uns und um uns erschüttert. Ich mußte Dich lieben! Da gibt es keine Fragen nach Alter, nach Stand, nach Gaben, nach Vermögen – selbst nicht nach Güte, nach Herz. Man liebt – und wenn es sein muß,[260] erhebt die Liebe den Geliebten aus dem Staub und lehrt ihn, würdig und groß zu sein. Dafür ist sie die Gottheit, welche die Welt beherrscht.«

Joachim war außer sich. Er sank vor ihr nieder und barg sein Gesicht in den Falten ihres Kleides, während seine Arme ihre Hüften umschlangen.

Heiße Dankbarkeit hatte ihn überwältigt, und die Erkenntnis, daß dieses große Herz ihn auch geliebt haben würde, wenn es alles gewußt hätte, ihn noch lieben würde, wenn es die Wahrheit erführe.

»Ich aber,« fuhr Fanny fort, während ihre triumphirende Sprache sich zu liebevollem Flüstern senkte, »ich aber brauche Dich nicht zu mir zu erheben. Du bist jung und rein und gut.«

Sie legte ihre Hände zärtlich auf sein blondes Haar. So blieben sie lange, und so klang die hohe Erregung in sanften Schwingungen aus.

Ein frommes, schönes Gefühl im Herzen, ging Joachim dann in die Bibliothek hinab. Was auch immer der Baron ihm sagen wollte, nach dieser Stunde hatte er den Mut, alles zu verteidigen, was er gethan.

Lanzenau saß in einem der tiefen grünen Polsterstühle am Zeitungstisch und schien in der »Revue des deux mondes« zu lesen. Sonst war niemand in dem viereckigen, ganz von Bücherregalen umschrankten Raum anwesend. Durch das einzige gardinenlose Fenster sahen die kahlen Aeste der Parkbäume herein.

Lanzenau deutete schweigend auf den Stuhl ihm[261] gegenüber. Joachim setzte sich und faltete die Hände auf den Zeitungen vor ihm.

Lanzenau suchte erst mit einiger Umständlichkeit aus seiner Brusttasche ein Papier heraus. Als er es hatte, legte er es sorgsam vor sich auf die Revue, klemmte sein Augenglas wieder ein, das ihm bei Joachims Eintritt entfallen, und begann hüstelnd:

»Sie werden sich erinnern, lieber Herebrecht, daß ich Ihnen versprach, für Sie nach einer auskömmlichen Stellung Umschau zu halten, damit Sie Ihr kleines Bräutchen baldigst vor der Welt als solches verkündigen und heimführen könnten.«

»Allerdings,« sagte Joachim sehr ruhig und mit sehr festem Blick, »allein ich weiß nicht, ob Fräulein Severina zur Stunde noch gestatten würde, daß Sie sie meine ›Braut‹ nennen.«

Lanzenau wußte nicht recht, was er aus der Antwort machen sollte.

»Hm,« sprach er mit erkünstelter Scherzhaftigkeit, »kleine Zwistigkeiten zwischen Liebenden, das kommt vor. Das gleicht sich aus. Jedenfalls wollte ich Ihnen sagen, daß meine Bemühungen nicht erfolglos waren; ich bekam heute die Nachricht, daß Ihnen hier,« dabei überreichte er Joachim das Papier, »hier die Administration der Itzelburgischen Güter angetragen wird. Sie ersehen aus der Zuschrift, daß die pekuniären Vorteile für Sie außerordentlich sind und die Thätigkeit Ihren Ehrgeiz befriedigen muß. Man erwartet[262] in vierzehn Tagen Ihren Entschluß und dann so bald als möglich Ihren Antritt. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß es für Sie hier kein Besinnen gibt und daß Sie nicht zögern werden, der Gesellschaft, sowie insbesondere Frau Förster Ihre neue Stellung und Ihre Verlobung zu verkündigen.«

Da war Fannys Name heraus und der Zweck der langen Rede verraten.

Joachim verneigte sich artig gegen Lanzenau.

»Nehmen Sie meinen Dank, Herr Baron. Dieses Resultat Ihrer Bemühungen für mich ist wahrhaft überraschend. Aber in einem Punkt irren Sie sich. Ich bin keineswegs in der Lage, sogleich meine Entscheidung zu treffen, und also auch nicht im stande, mich schon der Gesellschaft als Administrator des Itzelburgischen Güterkomplexes vorzustellen.«

Lanzenau tupfte sich mit seinem weißseidenen Taschentuch die Stirn.

»Nun denn, wenn auch nicht der Gesellschaft, so doch Frau Förster,« sagte er mit beginnender Ungeduld.

»Gerade Frau Förster braucht am wenigsten von einer Sache zu erfahren, die ihr Veränderungen in der eigenen Oekonomie in Aussicht stellen. Hier soll sie ihre Gedanken von Wirtschaftssorgen frei halten,« sprach Joachim mit einer Unbefangenheit, über die er sich selbst wunderte.

»Nun denn,« sagte Lanzenau und erhob sich steif, »wenn Sie mich durchaus nicht verstehen wollen, sei[263] es gerade herausgesagt: Ich finde, daß es Ihre Pflicht ist, Frau Förster von Severina zu sprechen.«

Auch Joachim stand auf. Eine Minute lang sah er nachdenklich vor sich nieder. Es ging ihm durch den Kopf, daß der Mann da Fanny liebte und ein Recht zu haben glaubte, über ihr Glück zu wachen, daß er ihr viele Jahre mehr wie ein Vater oder ein Bruder gewesen. Und wieder dachte er, daß es für sie alle vielleicht am besten sein würde, wenn er jetzt sein Herz vor Lanzenau ausschütte. Zur Selbstlosigkeit des alternden Mannes hatte der junge Sieger alles Vertrauen. Aber diese Erwägungen, die aus seinem kindlich-ehrlichen Herzen kamen, wichen einem verderblich aufwallenden Trotz. Er that das Verkehrteste und sagte mit erhobenem Haupt:

»Bei allem Dank, welchen ich Ihnen schulde, Herr Baron, kann ich nicht umhin, zu finden, daß Ihre Teilnahme an meinem Geschick den Charakter der Zudringlichkeit annimmt.«

Lanzenau schrak zurück, als habe er eine Ohrfeige bekommen.

Das ihm! Das seinem Herzen voll banger Sorge! Während er nach einem Worte rang, das Joachim treffen sollte, ohne dies Gespräch in einen peinlichen Streit ausarten zu lassen – denn Lanzenau verlor auch in diesem Augenblick seine Besonnenheit nicht – fuhr Joachim fort:

»Sie haben mir damals Ihr Wort gegeben, Herr[264] Baron, nicht eher über die Sache zu sprechen, als bis ich selbst es Ihnen gestatte. Ich erwarte, daß Sie Ihr Wort halten, das Wort eines Edelmannes.«

»Sie scheinen dem Prinzip zu huldigen, daß das Worthalten immer für andere bindend ist und nicht für Sie selbst. Denn Sie, so scheint es mir, sind auf dem Weg oder des Willens, Fräulein Severina Ihr Wort zu brechen,« sprach Lanzenau mit bitterem Lächeln.

Einer unglücklichen Eingebung folgend, die ihre Rettung in einer erbärmlichen Wortklauberei vorspiegelte, sagte Joachim schnell:

»Sie irren, Severina hat mein Wort nicht; ich habe ihr im Gegenteil einmal ausdrücklich gesagt, daß ich noch nicht um sie werben könne.«

Lanzenau sah ihn stumm, geradezu entsetzt an.

»Ah,« begann er dann, tief aufatmend, »ich sehe, Herr von Herebrecht, Sie sind aus einer andern Generation wie ich. Zu meinen Zeiten bedurfte es in solchen Dingen nicht solcher Hinterthüren. Nicht allein das Wort, auch das Thun und Lassen band uns. Wenn Sie nur einen feierlichen Ringwechsel und ein Eheversprechen vor Zeugen als bindend für Ihre Ehre und Ihr Herz betrachten, dann allerdings haben Sie einen so weiten Spielraum für Ihre Tändeleien, daß ich darauf verzichten muß, mich für den Verlauf derselben zu interessiren. Eins aber, eins hören Sie: Wenn Sie es sich sollten beikommen lassen,[265] eine Frau in das Bereich dieser Ihrer Tändeleien zu ziehen, eine Frau, welche ich verehre – nicht wie eine Heilige, nein höher, wie den Inbegriff von aller menschlichen Frauengüte und Frauengröße, dann, mein Herr, würde ich Sie aus dem Weg dieser Frau zu entfernen wissen, und sollte ich Sie niederschießen wie ein fremdes Wild, das meinen Garten verwüstet.«

Mit einer Würde, die fern von jeder äußerlichen Leidenschaft war, aber dennoch in ihrer eisernen Festigkeit verriet, daß der Mann im stande sei, zu vollführen, was er drohte, kamen diese Worte von Lanzenaus Lippen. Und als er sie gesprochen, ging er hinaus, langsam, etwas steifbeinig, wie er immer ging.

Wie vom Donner gerührt blieb Joachim zurück. Sekundenlang stand er starr. Dann warf er sich in einen Lehnsessel und legte den Kopf auf seine Arme vor sich auf den Tisch.

Welcher Dämon hatte ihm denn all die abweisenden und frivolen Worte auf die Zunge gebracht? Was mußte Lanzenau von ihm denken, für welchen Schurken ihn halten?

Tausend Pläne durchjagten sein Gehirn. Wenn er Lanzenau forderte? Welch ein theatralischer Zug! Nein, vor seine unfehlbare Pistole durfte er Fannys Freund nicht stellen. Wenn er Lanzenau nacheilte und ihn zum Vertrauten machte? Jetzt, nach dieser Scene konnte der nur solches Vertrauen kalt zurückweisen[266] und würde denken, die Angst habe es Joachim abgerungen.

O Fanny, Fanny! Seine Liebe stieg in all dieser Not!

Wenn Lanzenau doch trotz des gegebenen Wortes mit ihr spräche? Dann blieb Joachim nur eins übrig: eine Kugel in die Schläfen.

Schauer durchrannen ihn. Sein Arnold stand vor ihm. Der würde um ihn weinen. O, das schöne, das junge Leben lassen? Warum? Weil sein Herz, sein unverständliches, geteiltes Herz Fannys Liebe erwidern mußte wie vorher Severinas?

Welche Rätsel ein Menschenleben! Wenn einem Mann sein Weib wegstarb und er wählte sich die zweite Frau, die er vielleicht schon gesehen oder gekannt, da die erste noch lebte, dann war das ganz in der Ordnung. Und auch der hatte doch beide geliebt, wenn er ehrlich war, ein Gatte nach dem Gesetz und der Moral.

Entschuldigte, ja billigte denn bloß der zeitliche Zwischenraum die zwiefache Liebe? War das nicht im Grunde doch dasselbe?

Sein junger Kopf und sein gärendes Gemüt konnten nichts begreifen, nichts beurteilen. Dumpf fühlte er nur, daß aus den für ihn hergebrachten Ehrbegriffen heraus ihm nichts blieb als freiwilliger Tod. Er stöhnte laut und vergrub sein Gesicht tiefer.

Eine leichte Hand berührte seine Schulter. Er[267] erschrak wie ein nervöses Frauenzimmer und wandte sein bleiches, hohläugiges Gesicht. Die kleine Meerheim stand hinter ihm, das magere, graziöse Figürchen vorgebeugt, wie jemand, der heimlich und wichtig etwas mitteilen will. Aber auch sie erschrak vor seinem Aussehen.

»Um Gottes willen, wie sehen Sie aus! Na, ich kann mir schon denken – gestern abend noch auf Heinis Stube spät getrunken – heute morgen gräßlichen ›Drehwurm‹. Ja, Heini muß heiraten. Ich werde mich noch aus reiner Nächstenliebe bequemen müssen.«

Joachim bemühte sich, zu lächeln, und fragte, was sie hergeführt.

»Lächeln Sie nicht,« sagte das zartgewachsene, aber sehr starksinnige Soldatenkind, »ein Lächeln auf einem so seekranken Gesicht erweckt in mir eine furchtbare Ideenverbindung mit der Milchpflaumensuppe in meiner Pension. Also, ich habe Sie gesucht, um Ihnen zu sagen, daß ich mich heute morgen mit Heini gestritten habe, was Sie wohl schon wissen.«

Nein, er wußte nichts.

»Das ganze Schloß spricht ja davon; ich bin mit Papa und ihm ausgeritten und allein wiedergekommen, weil Papa ihm beistand. Sie müssen mir heute furchtbar die Cour machen – ja, wollen Sie? Heini fordert Sie dann vielleicht, aber das schadet nichts, das ist sehr interessant, und ihr könnt an einander vorbeischießen.«[268]

Nun mußte Joachim doch lachen. Aber es hatte einen eigenen, spöttischen Klang.

Was für eine Narrheit! Also der kleinen, schwarzhaarigen Person sollte er zum Schein die Cour machen, während in seinem Herzen Tod und Leben rangen? Und diese und ein Dutzend anderer thörichter Anforderungen konnten die nächsten Tage noch an ihn stellen. Mit Heini trinken, mit dem Rittmeister Skat spielen, der Tochter hofiren, der Gräfin höflich ergeben sein, Lucys vertrauliche Andeutungen ertragen, mit dem Grafen über Obstkulturen sprechen und bei alledem Lanzenaus Augen auf sich fühlen – zu viel, zu viel! Unmenschlich!

Fort von hier – in die Welt hinaus!

Er versprach mit heißem Gesicht dem übermütigen Fräulein, ihr so zu huldigen, daß Heini ihn noch vor Mitternacht mit allen möglichen Todesarten bedrohe. Dann lief er davon und pochte an Fannys Thür. Er wollte ihr gleich sagen, daß er fort müsse.

Die Jungfer kam und bedauerte, ihre Gnädige mache eben zum Diner Toilette.

Dadurch ward Joachim erst wieder daran erinnert, daß ja heute Fannys Geburtstag und ein großes Fest im Schlosse sei. Heute konnte er nicht fort, das war gewiß.

Nun galt es, sich sammeln und fassen. Vielleicht konnte er Fanny im Gewühl des Balles doch ein Wort sagen, daß er gern einige Tage nach Berlin wolle.[269]

Das Schloß füllte sich mit Gästen. Wagen von den Nachbargütern und aus der nächsten Garnison kamen angefahren. Beim Diner, wo die Bestimmung der Gräfin ihm eine Comtesse Sieburg gesellt, sah er eine der glänzendsten und vornehmsten Gesellschaften, in die er je getreten war. Und, o Erstaunen, auch die »kleine Elly«, die Tochter seines vormaligen Chefs, war mit ihrem neuvermählten Gatten, dem »Krautjunker«, zugegen. Das Ehepaar war, wie er später erfuhr, auf einem Nachbargut bei Verwandten zum Besuch. Das hatte gerade noch gefehlt! Damals, als er bei ihrem Vater als Volontär lebte, hatten sie sehr für einander geschwärmt. Das konnte er vor sich nicht ableugnen.

Heute, als sie ihn von weitem erkannte, erglühte ihr Gesicht, aber er streifte sie mit kühlem Blick und bemerkte zum erstenmal, daß sie recht unbedeutend gewachsen sei. Wie anspruchslos, wie jung mußte er doch damals gewesen sein!

Oben am Tisch saß seine – seine Fanny! Die erste in dieser glänzenden Versammlung! Die am meisten Gefeierte! Ein Freund des Grafen hielt eine Rede auf die Gräfin; es war das landläufige Maß von Lob darin und mit dem landläufigen Maß von Begeisterung ward sie aufgenommen. Und dann hielt ein anderer eine Rede auf Fanny Förster, voll Entthusiasmus und voll Heiterkeit. Es ward von ihrem humanen Wirken gesprochen, von all den Gaben, die[270] die Natur über sie ausgeschüttet, und von der weisen Klugheit, mit der sie selbst sich ihre Grenzen ziehe. Die »Wahlrede«, die sie damals gehalten, ward in ihrem offenen Eingeständnis von Frauenbescheidenheit als Muster für manchen klugredenden Parlamentarier aufgestellt. Frohes Lachen ging dazu um den Tisch, und nun stimmte alles jubelnd in Fannys Wohl ein.

Joachims Herz schwoll an. Und sie liebte ihn allein!

Nachher beim Tanze gelang es ihm, sie an seinen Arm zu bekommen. Er ließ sie nicht los, als der Tanz zu Ende war – ein Walzer, den sie weltvergessen getanzt. Er ging mit ihr durch den Saal und durchwandelte alle Räume. Einmal gab ein großer Spiegel ihnen ihre Gestalten zurück. Joachim sah die schöne Frauengestalt im Glase, wie sie, von silberschimmernder weißer Seide umflossen, das Haupt schmucklos, aber um den herrlichen Nacken eine Schnur funkelnder Steine, sich leicht an seinen Arm schmiegte.

»Wie Du schön bist!« flüsterte er; »und das alles ist ganz und schrankenlos mein.«

»Ich habe mich beinahe geschämt,« sagte sie, ihm in die Augen sehend, »all dies Gewoge von Spitzen und Atlas, zugestutzt nach den neuesten Modekünsten, um mich zu hängen. Aber ich war so kindisch – ich wollte sehr schön sein. Das ist nun die Frau, die sie vorhin so großartig anredeten.«

Es gibt Schwächen, welche einem Weibe besser[271] stehen als starre Tugend. Von der eben eingestandenen fühlte Joachim sich fast zu Thränen gerührt.

»Fanny,« sagte er, »o Fanny, wie hab' ich Dich lieb!«

Es war der Laut eines unaussprechlichen, wahren Gefühls. Fanny sah ihn an; sie schwiegen.

In diesem Augenblick ging Lanzenau mit dem Rittmeister an ihnen vorüber und sah sie an. Joachim lief ein Frösteln über den Rücken.

»Liebe,« sagte er, Fanny weiter führend, »ich muß fort von hier. Laß mich, ich bitte Dich.«

»Fort? Wohin? Weshalb?«

Auf die hastig hervorgestoßenen Fragen erwiderte er:

»Ich ertrage es nicht, jetzt, wo mir das Herz von dem unaussprechlichsten Glück erfüllt ist, mit so vielen gleichgiltigen Menschen zusammen zu sein, vor ihnen meine Liebe zu verbergen.«

»So wollen wir sie verkünden.«

»O nein,« sagte er erschrocken, »nur das nicht! Laß uns in der Stille Deines Hauses sehen, wie wir Lanzenau vorbereiten. Und dort auch, Geliebte, habe ich Dir eine Beichte abzulegen, die vielleicht meinen Wert in Deinen Augen sehr herabmindert.«

Sie sah forschend, doch keineswegs beunruhigt in sein Gesicht, auf dem sich deutlich eine große, innere Unruhe widerspiegelte. Es war der kluge, überlegene und im voraus verzeihende Blick, mit dem eine Mutter das Schuldbekenntnis ihres Sohnes erwartet.[272]

»Du Kind,« sprach sie, »als ob ich mir nicht denken könnte, welcher Art Deine Beichte sein wird. Ein junger Mann wird selten fünfundzwanzig Jahre alt, ohne einige Herzenstäuschungen durchgemacht zu haben. Wenn Du willst, so beichte, aber meinetwegen kannst Du auch schweigen. Ich habe erst Rechte an Dein Leben, seit Du mich geküßt. Aber sprich, wo willst Du denn hin?«

Sie waren bei ihrem Rundgang durch die Zimmer gekommen, wo die Kartenspieler saßen, und betraten nun wieder den Saal. Hier setzte Fanny sich auf einen Diwan zwischen zwei Thüren, um, wenn auch nicht ungesehen, so doch ungehört ihr Gespräch mit Joachim fortzuführen. Joachim blieb vor ihr stehen.

»Also, wohin?«

»Lanzenau hat mir die Administration der Itzelburgischen Güter verschaffen wollen. Er gab mir heute einen bezüglichen Antrag der Vormundschaft. Zum Schein ging ich auf die Offerte ein, da vierzehntägige Frist zum Entscheid vorbehalten ist. Ich könnte hinreisen, an Ort und Stelle alles einzusehen. Es wäre unter anderen Umständen ja wie der Gewinn des großen Loses gewesen, eine glänzende Existenzsicherung auf zehn Jahre.«

»Lanzenau war ja sehr besorgt, Dich von mir zu entfernen,« sagte Fanny traurig. »Reise – das wird ihm zunächst als Dank für seine Bemühungen[273] wohlthun. Und dann kehre nach Mittelbach zurück, wenn auch wir dort eintreffen, also in fünf oder sechs Tagen. Aber ich werde zu jedermann davon sprechen; Du bist ja im Besitz dieser Stellung eine großartige Partie für die jungen Damen.«

Sie lachte. Aber er hatte das Gefühl, daß es ihr unbewußt doch lieb sei, ihn dergestalt als einen Mann hinstellen zu können, der auch ohne ihren Reichtum einer Frau wie Fanny eine würdige und auskömmliche Lebensstellung zu schaffen vermöge. Ein feines Rot stieg langsam in sein Gesicht.

»Wie Du meinst!« sprach er leise.

»Morgen früh kannst Du reisen. Heute bist Du noch mein,« flüsterte sie und sah ihn mit tief verheißendem Blick an.

»Fanny!«

Hier erscholl die Musik zu einem neuen Tanz, und von allen Seiten kehrten die Herren und Damen in den fast leer gewesenen Saal zurück.

Mit ihrem Alleinsein inmitten der Menge war es aus.

Noch bevor man auseinander ging, wurde Lanzenau von mehreren Seiten darauf angeredet, daß dem jungen Herebrecht die vielumworbene Administratorenstellung angeboten sei. Er hörte auch Fanny darüber sprechen, ruhig und voll freundlicher Anteilnahme an den Aussichten des jungen Mannes.

So hatte seine Mahnung doch genützt? Hatte[274] Joachim doch gesprochen? Und Fanny war so ruhig? War denn alles, was Lanzenau beobachtet zu haben glaubte, eine Täuschung gewesen?

Jedenfalls konnte er wieder Hoffnung fassen und sah sich durch nichts gezwungen, sein Wort gegen Joachim zu brechen.

Joachim reiste ab, um die Gesellschaft erst in Mittelbach wieder zu treffen; Fanny war auch in seiner Abwesenheit ungemein heiter, doch konnte Lanzenau nicht verkennen, daß sie jedem längeren Gespräch mit ihm auswich. Auch beobachtete er, daß sie mit besonderer Ungeduld den täglichen Postboten erwartete, und sich aus der Halle mit einer leisen Enttäuschung, die sie jedoch zu verhehlen bestrebt war, aus dem Kreise der anderen Briefempfänger zurückzog; für sie war kein Brief gekommen. Joachim schrieb nicht.

Aber das war natürlich: Fanny getröstete sich dessen, indem sie sich sagte, daß sie keine Korrespondenz verabredet hatten.

Endlich – am letzten Tag! Ihre zitternden Finger erbrachen den Brief. Lanzenau beobachtete sie, es war ihr alles einerlei. Sie lehnte an einer der Karyatiden, welche den Sims des riesigen Kamins in der Halle trugen.

Was war das – schrieb so Joachim? In ihren Ohren brauste es. Kein Wort von Liebe, von Sehnsucht? Fremd alles, wie der erste Brief, den sie empfing, ehe sie ihn kannte?[275]

»Was schreibt Herebrecht?« fragte Lanzenau etwas heiser neben ihr.

Sie reichte ihm den Brief. Lanzenau las zu seiner tiefinnersten Befriedigung:

»Hochzuverehrende, gnädige Frau! Das Reisen, allein, durch eine tauschmutzige norddeutsche Gegend, ist nicht inspirirend genug, um einen zur Berichterstattung anzufeuern. Meine Stimmung war melancholisch genug, als ich so, zwischen wildfremde, nach Pelz und Feuchtigkeit riechende Menschen eingepfercht, im Eisenbahnwagen saß. Die Lendemain-Stimmung nach dem unvergeßlichen Ball, werden Sie sagen. Mag sein, der Kontrast war gar groß. Ueber das, was ich in Itzelburg vorgefunden, berichte ich Ihnen und dem Herrn Baron von Lanzenau besser mündlich. Alles stellt sich sehr verlockend dar. Ich wollte nur heute pflichtschuldigst melden, daß ich am bestimmten Tag zurückkehre und es höchst wahrscheinlich so einrichten werde, Sie und die ganze Gesellschaft, die mit Ihnen fährt, unterwegs zu treffen. Auf Wiedersehen! Ihr treuergebener J. von Herebrecht.«

Während Lanzenau las, fand Fanny ihr Lächeln und ihre Glücksstimmung wieder.

»Er hat die Nachfrage Lanzenaus vorausgesehen,« dachte sie, »und deshalb so fremd geschrieben. Das war sehr klug.«

Ihre gläubige Seele ahnte nicht, daß Joachim hundertmal versucht hatte, »geliebte Fanny« zu schreiben,[276] daß aber die Buchstaben ihn wie Gespenster, wie Lügen, wie etwas, das nicht von ihm kam, anstarrten und daß er endlich, trotzdem vom rasenden Wunsch erfüllt, zu ihr zu sprechen, in der kühlen Form der Verehrung einige banale Redensarten aufs Papier geworfen.

Und weiter irrte ihr Herz sich, wenn es freudig über seine Verheißung schlug, sie unterwegs zu treffen. »Er will zugleich mit mir wieder in mein Haus einziehen,« dachte sie.

Joachim aber bebte davor zurück, Severina allein wiederzusehen. Deshalb wollte er mit allen anderen ankommen.[277]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 257-278.
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