Dreizehntes Kapitel

[278] Die beiden Frauen auf Mittelbach verlebten unterdes keine freudigen Tage. Beide verschlossen, beide wenig gesprächsbedürftig, wie sie waren, befanden sie sich in einer gewissen Verlegenheit einander gegenüber. Ihr Verkehr war bisher der freundlichste und friedfertigste gewesen, aber ihm hatte die Gelegenheit so zur Vertraulichkeit wie zur Reibung gefehlt. Severina hatte immer einen bescheidenen, entgegenkommenden Ton gegenüber Adrienne, denn diese war ihr beinahe als Arnolds, des älteren Bruders Joachims Frau, eine Respektsperson. Adrienne war dem jungen Mädchen dankbar für all die Mühe und Liebe, die sie an das Kind verwandte; im übrigen fiel es ihr nicht entfernt ein, in Severina mehr zu sehen als einen Schützling von Fannys, nach so vielen Seiten hin wirkender Großmut.

Das fühlte Severina wohl heraus und ihre herbe Seele verschmähte es, sich in dieser Zeit des Alleinseins Adriennen ins Herz zu schmeicheln, gerade weil sie ihr künftig verwandtschaftlich nahe zu treten hoffte.[278]

So gingen sie denn still neben einander her. Höchstens beschäftigte Adrienne sich einmal so weit mit dem Mädchen, daß sie sie gegen die Pastorin in Schutz nahm. Diese benützte Fannys Abwesenheit, um Severina wieder mehr zur Lektüre frommer Bücher anzuhalten, sie mit tausend kleinen Quälereien in ruhelose Bewegung zu bringen.

Und Severina, durch jahrelanges Geduldüben längst gewohnt, mit stoischer Ruhe zuzuhören, Severina ertrug jetzt das Wesen ihrer Pflegemutter nicht.

Ihr Herz zitterte, ihre Nächte waren schlaflos vor Sorge um ihn. Daneben war ihr all der Kleinkram des Lebens unerträglich. Wenn die Pastorin so bei ihnen saß und endlose Beispiele erzählte von üblen Folgen, die Mangel an Demut, die Eitelkeit und Vergnügungssucht bei irgend welcher Trine oder Lise aus dem Pfarrsprengel gehabt, dann quoll in Severinas Herzen eine Ungeduld auf, ein Zorn, eine Raserei beinahe, daß sie sich hätte mit einem Schrei auf die monoton redende Frau werfen können, um ihr den Mund zuzuhalten.

Wenn sie, die Verwaiste, die Einsame doch ein Herz gehabt hätte, sich wild daran auszuweinen.

Und die Eine, die Gute, die ihrer darbenden Seele bisher das Brot der Güte und Teilnahme gereicht, die Eine war vielleicht gerade im Begriff, ihr, der Armen, das einzige Gut zu stehlen. Unbewußt zu stehlen – ganz gewiß, unbewußt.[279]

Wenn Fanny hier wäre! Ohne Besinnen hätte Severina zu ihren Füßen gefleht, ihr den Geliebten nicht zu rauben. Und Fanny war nicht die Frau einem armen Mädchen weh zu thun. Was konnte ihr denn Joachim mehr sein als der Gegenstand flüchtigen Wohlwollens!

Und dann kam Joachims Brief.

Severina erhielt ihn vom Kutscher des Schlittens zugesteckt. Er solle ihn heimlich abliefern, sagte der Mann, der auch von Fanny den mündlichen Bescheid der veränderten Dispositionen mitbrachte. Sie trug ihn zwei Stunden in ihrer Kleidertasche umher, ehe sie die Einsamkeit fand, ihn zu lesen, die Einsamkeit ihrer Schlafstube.

Sie las. Sie verstand nicht. Ihr ganzes Wesen war wie gelähmt.

So lag sie eine lange, furchtbare Nacht unbeweglich, mit starren Augen ins Dunkle schauend, nicht im stande, etwas zu denken. Sie wußte nur, daß sie nicht ohne ihn leben könne.

Als sie am andern Morgen zum Vorschein kam, erschrak das ganze Haus. Severina hatte verzerrte Züge.

»Ich habe Kopfweh,« sagte sie. »Ich will spazieren gehen.«

Sie lief einige Stunden im Freien umher. Ihr Weg führte sie an der Hütte einer alten Taglöhnerfrau vorbei, die seit Jahren gelähmt war und von[280] Fanny und der Pfarre aus unterhalten wurde. Sie hatte die Frau oft besucht und mit ihrem Leiden Mitleid gefühlt. Nun überkam sie eine seltsame Neugier, wie sich ihre eigene Not mit dem Elend der Alten messen lasse.

Die lag in ihrem sauberen Bett, im sauberen Stübchen, las in der Bibel und trank daneben einen kräftigen Haferschleim, den man ihr schon heute aus der Herrenküche geschickt. Die äußerste Zufriedenheit leuchtete von dem guten Gesicht der Alten.

»Wie geht es, Mutter Holten?«

»Gut, Frölein; immer so gut, wie unser Herrgott es irgend einrichten kann. Wie lieg' ich hier, bei dem tauigen Wetter, so warm und trocken und satt, und manch einer läuft mit bloßen Füßen auf der Landstraße umher.«

»Habt Ihr denn keine Schmerzen?« fragte das Mädchen.

»O ja. Aber das Reißen am Leibe hält man geduldig aus, wenn das Herz man seinen stillen Frieden hat,« sagte die Alte mit beschaulicher Ruhe im Faltengesicht.

Wenn nur das Herz seinen stillen Frieden hat! Am Bett der Alten niederknieend, legte Severina ihr Gesicht in das rotweiß gewürfelte Federbett. Eine seltsame Neidempfindung zog durch ihr Herz. Sie hätte lieber auch da liegen mögen, gelähmt, alt, arm, aber hinausgehoben über jeden heißen Wunsch.[281]

Hinter ihr öffnete sich die Thür – der Pastor kam, um der Alten seinen täglichen Besuch zu machen. Befremdet sah er seine Pflegetochter hier in einer Stellung, die auf den ersten Blick eine vollkommene Fassungslosigkeit verriet.

»Severina,« rief er mit sanfter Mißbilligung. Sie sprang empor und warf sich an seine Brust. Da war doch noch eine treue, stille, liebevolle Seele, die allezeit Mitleid mit ihr gehabt. An dieser Brust war sie nicht bloß geduldet, hielt sie kein heißer Irrtum fest, da war ihr die Heimat.

Aufschluchzend klammerte sie sich dort an.

»Was ist Dir, mein Kind? Mutter Holten, was ist vorgefallen?« fragte der Pastor erschreckt.

»Ich weiß nicht,« sprach die Alte, nicht minder erstaunt, das Fräulein so fassungslos zu sehen, in deren Gesicht sie sonst nur eine gleichsam widerwillige Freundlichkeit oder mürrische Verschlossenheit gekannt.

»Nun, Severina – welchem Vorkommnis gelten Deine Thränen? Hat etwa die Mutter ...«

Severina richtete sich auf und strich die Haare aus dem heißen roten Gesicht.

»Nein,« sagte sie hastig, mit scheu abschweifendem Blick, »nein. Es ist nichts. Zuweilen überkommt es mich, daß ich nirgendwo in der Welt ein Recht zum Dasein habe und daß ich eines Tages auch die Heimat verlieren kann, die eure Güte mir gewährt. Und in solchen Stimmungen denke ich, daß Mutter Holten es[282] besser hat als ich. Das Dach über ihrem Haupte ist ihr eigen, und ihr körperliches Elend klopft so laut an die Herzen der Mitmenschen, daß diese ihr nie Trost und Linderung vorenthalten werden. Das sind die heilbaren Schmerzen, die jeder sieht!«

Der Pastor sah ihr tief in die Augen, indem er mit seiner Hand unter ihr Kinn griff.

»Alle Schmerzen sind heilbar, meine Tochter, außer denen, welche den Nachwirkungen begangener Sünden entspringen, und davor bewahre Dich Gott!« sagte er ernst. »Grundlosen Trauerstimmungen sich hinzugeben, ist eine Schwäche, in die nur ein nicht gesundes Herz verfällt. Woran krankt das Deine?«

Severina faßte sich mit Gewalt.

»An Undankbarkeit,« sprach sie mit einem Versuch zu lächeln, »denn ich konnte vergessen, daß Deine Liebe mein armes Dasein immer gütig ertragen hat.«

Der Pastor drückte ihr die Hand. Er faßte diese Aeußerung als eine Hindeutung auf, daß Severinas »armes Dasein« von der Pastorin bekanntlich nie »gütig ertragen« werde und es war ihm zweifellos, daß seine Frau die Pflegetochter wieder durch irgend eine Bemerkung schwer gedemütigt habe. Natürlich war dann die Sache zu heikel, um dem Grund von Severinas Erregung näher nachzuforschen. Er begnügte sich mit einigen allgemeinen Beruhigungsworten.

Severina fühlte sein Mißverständnis heraus. Damit ward es ihrem Bewußtsein wieder lebendig, daß[283] es eine Schranke zwischen ihr und dem guten alten Mann gab, die sie verhinderte, ihr gequältes Herz durch Vertrauen zu erleichtern. Sie konnte ihn nicht zum Mitwisser einer Sorge machen, von der die Pastorin keine Ahnung haben durfte.

Alle ihre Erregung erstarrte in plötzlichem Trotz gegen Gott und die Menschheit. Sie warf den Kopf zurück und ging hinaus, ohne selbst der Alten noch einmal zuzunicken.

Der Pastor seufzte. Ja, dieser jungen Seele war nicht zu helfen. Die Saat der Milde und Geduld, die er immer darin auszustreuen bemüht gewesen, konnte nicht aufgehen, wie ein scharfkantiger Pflug ackerte die Zunge der Pastorin das neubesäte Feld immer wieder um.

Severina aber ging ins Schloß zurück, von einem mechanischen Gedanken beherrscht, dessen selbstverachtende Bitterkeit ihre Lippen fast wie im Spotte hob und allen ihren Zügen einen in diesem Gedanken erstarrten Ausdruck gab.

»Was liegt an mir? Ich bin zum Elend geboren,« dachte sie.

Daß es vielleicht in ihrer Macht sei, durch liebevolle Worte, durch einen beredten Brief, in den sie ihre ganze Gefühlsgewalt hineinlegen könne, mahnend vor Joachim hinzutreten, fiel ihr gar nicht ein. Ihre Betäubung war so groß, daß sie sich nicht einmal wehrte. Ihr einziger Wunsch war, daß man sie ungestört lassen möge.[284]

Aber das schien ihr wenigstens heute nicht beschieden. Kaum betrat sie die Schwelle, als Adrienne aus der nächsten Zimmerthür ihr entgegenstürzte.

»O, wie habe ich auf Sie gewartet! Bitte – der Kleine ist krank – es scheint so – ich bin außer mir. Aber vielleicht täuscht es mich. Sie kennen das.«

Severina fühlte zwei heiße, weiche Hände ihre eisige Rechte umklammern. Sekundenlang ging ihr ein befriedigendes Gefühl lösend durch das Herz. Das Kind krank? Joachims Abgott? Da war es ja, das große Unglück, das diesen dumpfen Zustand der Angst zerriß wie ein Blitzstrahl die Nacht. Willkommen, Krankheit und Tod! – Dann durchzuckte sie jähe Angst um das Kind. Die auflodernde Grausamkeit erlosch vor dem Schreckgedanken einer Gefahr für seinen Liebling.

»Wir wollen sehen,« sagte sie heiser.

Unten im Wohnzimmer saß die Kindsmagd und hatte den Kleinen auf dem Schoß. Schon kniete die vorauf geeilte junge Mutter wieder vor ihm und sah ihm bang in die Augen.

Diese waren groß und glasig, während die Bäckchen purpurn glühten. Das Kind lag ganz teilnahmslos und atmete kurz.

Während Severina über ihm gebeugt stand und es mit scharfen Augen betrachtete, fing es an, den Kopf hin und her zu drehen, die Hände zu ballen, die Beinchen kurz zusammenzuziehen.[285]

»Das Kind hat Krämpfe,« sagte Severina kurz. Adrienne schrie auf.

»Zahnkrämpfe,« setzte die alte Magd hinzu, »da hilft nichts gegen als Sympathie. Vielleicht ist im Dorf jemand, der besprechen kann.«

»Unsinn,« sprach Severina finster, »Zahnkrämpfe gibt es nicht. Dies ist eine Kinderkrankheit wie andere auch. Wir wollen das Kind nach oben tragen. Holen Sie Schnee herein; es muß kalte Umschläge auf den Kopf bekommen.«

»Sollen wir die Pastorin nicht holen?« fragte Adrienne bang.

»Nein, nur die nicht,« sagte Severina hart. »Sie wird Ihnen vorrechnen, daß Sie kürzlich irgendwelche Sünde begangen haben müßten und daß dies die Strafe dafür sei. Sie wird auch die kalten Kompressen für ein unerlaubtes Eingreifen in das Strafgericht Gottes halten.«

Adrienne folgte zitternd, mit gesenktem Haupte dem Mädchen, welches auf starken Armen vorsichtig das zuckende Kind trug.

Und nach dem hastigen Hinundher der ersten Hilfsmaßnahmen, nachdem ein Knecht mit dem Jagdwagen zum Arzt gefahren war und ein Kübel mit Eisstücken und Schneewasser neben dem Kinderbett stand, saßen die beiden Frauen in totenhaftem Schweigen neben dem kleinen Kranken.

Severina brütete darüber, wie das Wiedersehen[286] mit Joachim sein werde, wenn das Kind da in seiner stummen Qual vorher stirbt, und ob sein Herz dann lernen werde, wie schmerzlich es sei, zu verlieren, was man liebt.

Adrienne aber sah unverwandt auf ihr Kind. Der Anfall war vorüber, die sonst so weichen Züge des Kleinen trugen in scharfen Linien die Spuren der Erschütterung und machten es ganz alt. So hatte es eine merkwürdige Aehnlichkeit mit seinem Vater, und diese Aehnlichkeit steigerte die Angstgefühle im Herzen des jungen Weibes.

Wenn nur jemand da wäre, der aus tiefster Seele mit ihr sorgte, mit ihr bangte! Ach – so ganz, so mit allen Fibern konnte das nur einer, der Eine, der fern, weltfern war. Aber doch mußte es eine Wohlthat sein, Fannys kluges Auge mit an dem Bette wachen zu sehen, in Joachims Gesicht die große Sorge um den von ihm so geliebten Knaben zu lesen. Das Mädchen da an der andern Seite des Lagers saß wie ein Bild von Stein; auf ihren erstarrten Zügen war nichts zu lesen, weder Sorge noch Mitleid.

Eingeschüchtert, Adrienne wußte selbst nicht wo durch, wagte sie lange nicht, die Bitte an Severina zu richten: »Schreibe an Fanny.« Als sie es endlich doch gethan, erhob das Mädchen sich augenblicklich und ging in das Wohnzimmer nebenan.

Hier saß sie lange über einem Briefbogen brütend, die Feder verkehrt in der Hand.[287]

Fanny rufen, das hieß Joachim rufen, die tödlichste Entscheidung herbeirufen.

Sie stand wieder auf, ging lange hin und her und sagte zuletzt, mit dem Auge scheu Adrienne vermeidend:

»Der Kleine wird gewiß morgen besser sein. Was sollen wir Fanny die Ferien stören, die sie sich so selten gönnt?«

Die junge Frau atmete auf. Ja, wenn Severina glaubte, daß er morgen besser sei ... sie konnte es beurteilen, sie war seit früher Jugend mit der Krankenpflege vertraut.

In der That kehrten die Anfälle nicht wieder. Der Arzt kam und zeigte sich ganz unbesorgt und mit den von Severina getroffenen Maßregeln einverstanden. Den ganzen folgenden und die nächsten beiden Tage schien es, als sei jede Angst thörichte Uebertreibung. Daß der Kleine nicht aß und so schnell abmagerte, wie nur so kleine Kinder pflegen, war wohl die natürlichste Folge der überstandenen Leiden.

Zuweilen ward Adrienne von jäher Unruhe ergriffen. »Wir wollen es doch Fanny schreiben,« meinte sie dann. Aber Severina wußte es ihr immer auszureden und endlich konnte man schon Tag und Stunde von Fannys Wiederkehr ausrechnen, da, so meinte selbst der Pastor, da wäre es ja doppelt alarmirend für Fanny gewesen, wenn man sie kurz vor ihrer ohnehin erfolgenden Heimkehr beriefe.[288]

Während man sich im Hause rüstete für die zahlreichen Gäste, die nun folgenden Tags mit der Herrin einziehen sollten, wachte Adrienne, blaß und hohläugig, am Bett ihres Knaben, der an diesem Nachmittag einen schwachen erneuten Krampfanfall bestanden hatte. Alle mit Gewalt zurückgedrängte Angst kehrte, bis zu wahnsinniger Unruhe gesteigert, in ihr Herz zurück. Und niemand war bei ihr, diese Not zu teilen. Selbst Severina ging im Hause unermüdlich treppauf, treppab, mechanisch ihr Teil Pflichten an den Festvorbereitungen erledigend. Welch eine Vorstellung – morgen sollten alle Räume dieses Hauses von frohem Lärm widerhallen und hier rang ihr Kind zwischen Leben und Tod? Nein, das konnte Fannys Wille nicht sein. Und plötzlich erschien es Adrienne, als seien Severinas Weigerungen, zu schreiben, geflissentlich und von geheimen Gründen bestimmt gewesen. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich ihrer, und in derselben wurde sie plötzlich wie hellsehend – von jener Art Hellseherei, welche wohl die Wahrheit, aber diese in falscher Beleuchtung sieht. Severina liebte Joachim, und sie wollte nicht, daß er kommen solle, um seinen Liebling sterben zu sehen, um an seinem Lager mit zu leiden – für Männer ist ein jäher Schlag immer erträglicher als langsames Hinquälen. So war es.

Wie eine Irre entfloh das junge Weib dem Zimmer und ließ das Kind allein. Sie lief zum Hause[289] hinaus und über den abenddunklen Hof in die Ställe. Dort beschwor sie den Kutscher, noch heute, jetzt in dieser Minute einen Reitknecht nach der Taißburg zu schicken. – Das ginge nicht, der würde erst um zehn Uhr ankommen. – Nun, so möge er dort nächtigen. Nein, es ginge durchaus nicht, denn morgen früh um fünf müßten die Wagen hinüber, um die Frau und ihr Gepäck zu holen.

»So schicken Sie die Schlitten jetzt fort. Dann kann Frau Förster am frühen Morgen hier sein, sonst wird es Nachmittag. Und sagen Sie, daß mein Sohn so krank sei – so krank, daß er sterben könne.«

Der Kutscher versprach, daß er thun wolle, was möglich sei, bloß um die junge Frau zu beruhigen, denn für ihn war es oder schien es doch unmöglich, die Pferde noch anzuspannen, die heute schon Stroh nach der nächsten Garnisonstadt gefahren hatten.

Adrienne kehrte etwas gefaßter in ihre Zimmer zurück. Wann auch immer Fanny kam, Gäste würde sie nun keine mitbringen. Als sie wieder an das Bett trat, lag der Kleine in heftigen Zuckungen. Ihr Schreckensschrei gellte durch das Haus. Severina und die Dienstboten kamen herzugelaufen.

Alles umstand in schweigender Sorge das Bett, vor dem die Mutter auf den Knieen lag. Adrienne winkte heftig – sie wollte allein bleiben.

Sie wußte, daß ihres Kindes letzte Lebensstunden begonnen hatten. Man ließ ihr den Willen und[290] entfernte sich, der Diener lief von selbst zum Pastor, Severina blieb im Wohnzimmer sitzen.

Eine bange Viertelstunde verstrich. Der Pastor und seine Frau traten ein. Der alte Mann streichelte mit seiner weichen Hand Adriennens Haar und sagte nichts; sie legte ihr Haupt an ihn, als sei sie müde, und verharrte knieend. Die Pastorin setzte sich an das Bett, nahm ihre Brille hervor und schlug das Gesangbuch auf, das sie aus der Tasche zog.

Mit ihrer harten, lauten Stimme begann sie zu lesen:


»So komm, geliebte Todesstund',

Komm, Ausgang meiner Leiden!

Ich seufze recht von Herzensgrund

Nach jenen Himmelsfreuden.

So komm, o Tod, nur bald heran,

Ich warte mit Verlangen,

Im weißen Kleide angethan,

Vor Gottes Thron zu prangen.«


Adrienne stand langsam auf. Ihre starren Augen waren mit einem Blick des Grauens auf die gleichmütig lesende Frau gerichtet. Sie hob die Hand gegen die Thür mit deutender Geberde.

»Ich – ich will das – nicht hören,« lallte sie.

Die Pastorin sah mit fassungslosem Entsetzen auf die junge Frau. Nach einer Weile sagte sie bestimmt:

»Wenn Sie sich der tröstlichen Spendung des Wortes unseres Herrn – Herrn entziehen wollen, ist[291] es meine Pflicht, sie Ihnen aufzudrängen.« Und ohne weiteres fuhr sie fort:


»Herr Jesu, deine Liebe macht ...«


»Hinaus!« schrie Adrienne auf, »ich will allein mit der sterbenden Seele meines Kindes sein!«

»Herr, mein Gott,« betete die Pastorin mit gefaltet erhobenen Händen, »höre nicht auf dieses irrenden Schäfleins Wahngeschrei!«

Da geschah etwas ganz Unerwartetes. Der Pastor nahm seine Frau beim Arm und sagte halblaut:

»Du siehst, es ist nicht allen Herzen willkommen, Dich als Dolmetsch bei dem Höchsten zu haben. Mitfühlen ist hier mehr als vorbeten.«

Sie sah ihn an – beinahe wild, jedenfalls so empört, daß es ihr an Fassung gebrach, ihren Platz zu behaupten.

»Herr,« murmelte sie endlich, »mache nicht mich verantwortlich für seine Fahrlässigkeit im Glauben.«

»Geh heim,« sagte der Pastor, »und wenn Du willst, bete dort.«

Zorn im Herzen, Zorn in den erregten Mienen und überhastigen Geberden ging sie, aus der Not eine Tugend machend und sich sagend, daß ihre eigene Seele Gefahr laufe, wenn sie hier weile. Severina, die am Thürpfosten stand, ließ sie mit bitterem Lächeln vorbei.

»Soll ich auch gehen?« fragte der Pastor sanft.

Adrienne schüttelte den Kopf und ergriff seine[292] Hand, um sie, gleichsam liebkosend, gegen ihre Wange zu drücken. Er nickte väterlich liebevoll, dann setzte er sich auf den Platz, den seine Frau innegehabt.

An wie vielen Totenbetten hatte er nicht schon so gesessen? Säuglinge, Kinder, Jünglinge, Frauen, Greise hatte er sterben sehen. Hundertmal hatte er dem Tode in das geheimnisvolle Gesicht geschaut. Seine Geheimnisse hatte auch er nicht enträtselt, aber seine Schrecken hatte ihre Macht verloren. Es war immer dasselbe Bild, immer thaten sich im Leben der Zurückbleibenden Lücken auf, die ewig unausfüllbar schienen, und immer schloß die Zeit diese Lücken lind und fest. Er hatte noch keine unheilbaren Schmerzen gesehen, darum waren ihm die Schmerzen keine Strafen von Gott, sondern Prüfungen, und darum griff er weder mit dräuendem, noch lehrendem, noch tröstendem Wort ein. Aber er weinte mit den Leidenden, denn er begriff immer, daß sie die Größe ihres Jammers überschätzen mußten, weil die Kenntnis des Trostes ihnen noch vorenthalten war. So saß der greise Mann auch hier und teilte mit ehrlichem Herzen den Jammer der jungen Frau. Er grübelte weder darüber, warum dies Leid gekommen, noch wozu es gut sei; er dachte nur daran, es ihr tragen zu helfen. Und Adrienne fühlte dieses fromme, menschliche Mitleid und empfand seine Nähe als Wohlthat.

Die Nacht ging weiter, das Kind röchelte schwer. Wider ihren Willen hatte es Severina herangezogen,[293] sie stand am Fußende des Bettes und horchte auf den rasselnden, heiseren Atem.

Adrienne sah stumm und thränenlos auf das sterbende Kind.

Ihr ganzes Leben und das ihres Gatten zogen an ihr vorüber. Eine ähnliche Existenz, wie die ihre gewesen, wäre auch diesem Kinde geworden. War da denn so viel Grund zu jammern? Tag um Tag und Jahr um Jahr den Eigenwillen bezwingen, die angeborenen Wünsche und Daseinsbedürfnisse kasteien, jede Freude sich karg bemessen, jeden Herzschlag bang belauschen, ob er nicht über die Grenze des Erlaubten geht und bei all den tausendfachen, kleinen und durch ihre Unsumme ins zentnerschwere wachsenden Opfern, doch nichts erreichen als ein mittelmäßiges Dasein – mittelmäßig an äußeren Gütern, mittelmäßig an Stellung in den Ehrenabstufungen der menschlichen Gesellschaft, mittelmäßig an Befriedigung der Herzenssehnsucht, mittelmäßig sogar in dem landläufigen Maß verzeihbarer Sünden – war das alles wert, ein Leben zu wünschen? Und wenn wirklich dieses Kindes Laufbahn glanz- und freudevoller geworden wäre, als die seiner Eltern, selbst dann, was verlor es? Vielleicht nur wenige sorglose Jugendjahre, denn mit dem ersten unerfüllten Wunsch kommt der erste Stachel in die Menschenseele. Was verlor er sonst? Die Liebe? O, ihm blieb die Erfahrung erspart, daß es in der Liebe keine glückssonnigen Ewigkeiten gibt, daß sie in[294] der Freiheit unter den Erschütterungen nie ganz gesättigter Leidenschaft qualvoll leidet, daß sie in den Fesseln der Ehe ihre Zauber verliert durch das Zwanggebot gedankenloser Treue. Die Ehre? Ihm blieb die Erfahrung erspart, daß man mit reinen Händen und Füßen zu langsam auf der schlüpfrigen Leiter des Erfolgs emporklimmt, und daß es das Gemüt verbittert, andere schneller oben zu sehen, die auf dem Wege ihre Seelen nicht mit dem Schwergewicht des Anstandes und der Gewissenhaftigkeit behängt hatten.

Und wenn eine gütige Laune des Geschicks ihm gleich von allen Reizen des Lebens die bestrickendsten immer dargeboten – eins, ein Schreckliches hätte ihm kein Gott nehmen können: das Altwerden, das Sterben im Leben. Die Grausamkeit wäre ihm nicht erspart worden, mit einem jungen, genußsüchtigen und genußfähigen Herzen, mit zitternden Gliedern und weißem Haar zuzusehen, wie andere, mit vielleicht ärmerem Herzen aber braunen Locken das Spiel des Lebens neu begannen, das für ihn vorbei war ...

Was verlor er?

Nur einige Morgenröten weniger sendeten ihre Strahlen auf sein Bett und diese, die sich eben fahlrot durch die Spalten der Fenstervorhänge schlich – diese war seine letzte.

Das Nachtlicht war erloschen. Winterkälte, verschärft durch das Frösteln, das durch unausgeruhte Glieder schleicht, durchrüttelte die junge Frau.[295]

»Licht!« murmelte sie.

Severina ging zu den Fenstern und ließ das Licht des tagenden Wintermorgens herein.

Da sah das junge Weib wieder deutlich das Gesicht des sterbenden Kindes. Es sah noch wie sein Vater aus.

Adrienne stöhnte laut.

Sie hatte viele Stunden nicht an ihn gedacht. Wo war er? Fern, ahnungslos hatte er in schwüler Tropennacht vielleicht traumlos und tief geschlafen, und hier verging derweil in Staub sein einziges Glück. Ein Entsetzen ohnegleichen ergriff die Seele des Weibes. Wenn er heimkehrte und sein Kind von ihr verlangte! Ihr war's, als sei sie seine Mörderin. Und die Stunde fiel ihr ein, wo die Versuchung an sie trat, die Ehre des fernen Gatten zu verraten. Dies war die Strafe. Um ihrer Sünde willen mußte es sterben. Wenn Arnold heimkam und Gericht hielt!

Das Kind – sein Kind – seine Liebe – sein Lebenszweck tot? Was gab es dann noch in seinem harten Dasein, ihn zu erquicken, ihn zu trösten? Nichts – liebeleer, armselig, sonnenlos waren alle seine Stunden.

»Barmherziger Gott, laß meinem Kind das Leben!«

Ja, das Dasein lohnt sich, es ist reich, es ist ein Segen, jede Entsagung verkehrt sich zur Wonne, jede Arbeit zur Lust – wenn man für ein Kind, für ein Kind leben darf.

»Barmherziger Gott, laß meinem Kind das Leben!«[296]

Wie schwer Arnold sich damals von ihm riß, wie sein männliches, ernstes Gesicht von Thränen naß war! Entsetzlich – wie würde er weinen, wenn er anstatt seines Kindes nur ein Grab fand? Und wo war die Liebe, die starke, mutige, selbstlose Liebe, die allein ihm Trost bringen konnte?

Adrienne warf sich in die Kniee. Sie betete, ihre Lippen aber lallten statt der Gebete: »Arnold – Arnold –« Und so immer fort wie eine Irre, und dabei hingen ihre Augen gierig am röchelnden Kindermund. Ein letzter Atem pfiff aus der kleinen Brust, die Glieder streckten sich lang und das Köpfchen sank mit offenem Mund und offenen Augen schwer zurück.

Da schrie das junge Weib noch einmal auf:

»Arnold – Arnold – ich – liebe – Dich.«

Und in schwerem, dumpfem Fall fiel sie bewußtlos zu Boden.[297]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 278-298.
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