156. An Johanna Keßler

[94] 156. An Johanna Keßler


Wiedensahl d. 12 Dec. 72


Liebe Tante Johanna!

Es war bis in den December herein so mild, daß die Blumen im Gebüsch sich wirklich verleiten ließen, neue Knospen zu treiben. – Nun kommt es aber anders. – Unglaublich saust der Wind. Die Schneeflocken, so groß wie weiße Rosenblätter, in bunter Flucht vorangetrieben, schmiegen sich an Thurm- und Kirchendach, an die Stämme der Obstbäume, an den Winterkohl, der noch im Garten friert, und haben die Welt, die weite, bereits recht eng gemacht. An mein Fenster picken die Ranken und flüstern: »Vergiß es nicht! Vergiß es nicht!« und das will ich auch gewiß nicht thun. – Ich denke mir, es wird nun dämmrig; die Nanda kommt jetzt aus der Schule und greift zu Butterbrod und Apfel; und die Letty trinkt erst mal tüchtig Waßer und dann will sie auch noch ein Brödchen haben. »Na ja!« – Nun muß auch wol die Lampe angesteckt werden. – Gottlob! die Strümpfe sind bald fertig. –

Und über eine Weile,

Vermummt wie eine Eule,

kommt die Lina herunter gehuscht, haucht ein seelenvolles: Gute Nacht, Mamah! und entschwindet in stummer Herrlichkeit. – Gottseidank! Wein wird heuer wenig gebraucht. Der Hauptweinmarder ist fern. Der wird seither in der Dämmrung schönen Durst gelitten haben. Geschieht ihm recht! –

Fröhliches Fest und viel tausend herzliche Grüße!

Willem

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 94.
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