866. An Nanda Keßler

[350] 866. An Nanda Keßler


Wiedensahl 3. Mai 92.


Es kam ein Wetter von Judenheim;

Mir war's, als ginge die Welt aus dem Leim. –

Doch fort mit die Reim!


Liebe Nanda!

Ja, so Zeilen sind oft wie kahlgeschorene Hecken. Und dahinter, dazwischen, liegt ein Garten. Und in dem Garten, auf den sanften Kieswegen, unter blühenden Bäumen, wandeln tagtäglich zwei goldlockichte Kinder und eine anmuthige Frau. Heißt sie Lucretia? Heißt sie Naëma? Wer weiß! Doch der graubärtige Gärtner, wie er in den Beeten so still vor sich hin stochert, wünscht der edlen Herrin alles, was lieb und schön und sauber ist, und man darf wohl annehmen, daß er ihr niemals den Dienst kündigt. – Ich aber, als ich am Samstag von Frankfurt gefahren, betrachtete fröstelnd die alten Städtlein, Burgen, Berg, Wald, Wiesen und den geschlängelten Strom und stellte lebende Bilder im Kopf und Herzen, damit ich warm wurde. – Hier blüht noch Nichts. So hätt ich denn den Frühling zwei Mal dies Jahr.[350]

Bei Euch ist's hoffentlich um so wärmer, und mein lieber Hugo, den ich unter der zärtlichen Tyrannei von 8 Frauenhänden (recht hübsche drunter!) fest eingewickelt verließ, trabt wieder munter zu Seinesgleichen. Und wachsen wird er, und ein tüchtiger Mann soll er werden, der auch einst manch weibliches Herz gewinnt – nein! nicht manches – giebt es doch in dieser verzwickten Welt schon Schmerzen genug auch ohnedies – sondern eins, falls es gut ist, und das eine gründlich und für immer, wenn er's verdient hat. –

Sei herzlich gegrüßt, liebe Nanda, sammt den Kindern! Und, womöglich, gerath nicht wieder in eine solch holdselige Geistesverwirrniß, daß du nicht mehr recht weißt, ob du zuletzt schriebst, oder

Dein alter braver

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 350-351.
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