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[120] 1175. An Johanna Keßler
Wiedensahl 18. Febr. 98.
Liebste Tante!
Ich möchte gern mal wieder was hören von Ihnen, und so frag ich denn an: Wie geht's in Wiesenau 1; und wie geht es in England?
Der Winter bislang war ja ungemein sanft und rücksichtsvoll. Bald Regen, bald Sonnenschein; hie und da einige naße Schneeflocken; ein vorübersausendes Graupelschauer; nur selten ein dünnes Eis.
Da lauf ich denn oft in den Garten hinaus. Denn ob auch das wonnige Erwarten des Frühlings, wie's die Jugend fühlt, mit dem Alter verschwindet, so sieht man doch immer noch neugierig zu, wenn das erste niedliche Zeugs wieder aufwacht, was unter der Erdkruste geschlafen hat. – Das Arum wickelt seine grünen, schwarzgetüpfelten Düten auf; die Schneeglöcken blühn; die Pseudonarcißen haben Knospen.
Auch die Vögel piepen schon liebevoll, haben's aber mit dem Heirathen wohl noch nicht gar so eilig, weil doch immerhin zwischen jetzt und Ostern allerlei neckisch Behinderliches paßiren könnte. Freilich, unser Schwarzdroßelpärchen (das Weibchen dunkelbraun und fett, das Männchen glänzend schwarz mit moorrübengelbem Schnabel) wird sich schwerlich dran kehren. Diese beiden hab ich stark in Verdacht, daß sie demnächst im dichtbelaubten Epheubaum hinter dem Hause ihre werthe Familie begründen.
Neulich weilte ich gemüthlich ein paar Wochen im Hattorfer Pfarrhause. Die zwei kleinen Mädeln sind hübsch und lustig, und werden vom Vater sehr sorgsam unterrichtet. Der Großonkel war freudig erstaunt über ihre Fortschritte.
Von dort besuchte ich auf drei Tage meinen lieben alten Freund in der Mühle zu Ebergötzen.
Am letzten Samstag bin ich heimgekehrt.
Leben Sie wohl, liebste Tante! Herzliche Grüße an Sie und all die Ihrigen von
Ihrem alten getreuen Onkel
Wilhelm