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[153] 1247. An Johanna Keßler
Mechtshausen 28. Nov. 1899.
Liebste Tante!
Ich danke Ihnen für die freundlichen Zeilen.
Ihr Kärtchen aus Niederland erhielt ich. Bahnhöfe und Wirthshäuser werden dazumal hübsch voll gewesen sein, und da ich mich nun mal von meinen unbekannten Mitmenschen, denen ich ja sonst alles Gute gönne, nicht gern mehr drängeln laße, so bleib ich daheim. Sie dagegen, zur Belohnung Ihres größern Muthes, haben in Antwerpen viel schöne Vandyks gesehn, die man sonst nicht beisammen findet. Diese Herren v. Ehedem haben ihr Sach zur Vollendung gebracht. Darum wollen wir's den Epigonen, wenn sie uns auch erst mal stutzig machen, doch nicht verdenken, daß sie aparte Wege einschlagen, um die Ellenbogen frei zu kriegen und sich auch ihrerseits bemerklich zu machen, ohne stets mit dem großen Maaßstabe gemeßen zu werden, wobei sie immer zu kurz kommen. Aparte Kerls werden auch auf die Art was Erfreuliches leisten können. Und dann überhaupt. Die Welt hat Fieber. Unruhig, wie der Fieberkranke, wirft sie sich von einer Seite auf die andre, bis ihr auch hier der Kopf wieder zu heiß wird. So geht's in Kunst, Politik, Philosophie und sonstigen Dingen, und so wird's wohl weiter gehen, so lange der Patient noch lebendig ist.
Natürlich, liebste Tante, möcht ich Sie, bei der mir's immer so gut ging, mal wieder besuchen, und im Frühling, denk ich, raff ich mich auf für einige Tage; aber jeder Wunsch hienieden, das ist nun mal so, wird begleitet von einem neckischen Vielleicht.
Leben Sie wohl! Bleiben Sie gesund und seien Sie mit all den Ihrigen recht herzlich gegrüßt von Ihrem
alten Onkel
Wilhelm.