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[153] 1248. An Grete Meyer
Mechtshausen 30. Nov. 1899.
Liebe Grete!
Sei bedankt für den netten Brief. – Du fragst, wie der Volksglaube entstand. Vor deinem Faust findest du die "Wahrheit im Gewand der Dichtung" erwähnt. Dergleichen wird der Volksglaube sein. Schon der Mensch von der frühesten Sorte hat Angst gehabt. Er wollte leben nach Belieben, aber das ging man nich so, denn es gab allerlei, was stärker war, als er selber. Bedrohlich sauste der Sturm, der Donner grollte, der Blitz schlug ein, der Tod erschien, die Lebenskraft verließ den Leib, ohne daß man sah, wo sie blieb. Die Phantasie wurde munter. Horchend, grübelnd, in dunklen Nächten, lag der alte Junge in seinem Loch und machte sich "Bilder", natürlich auf Grund der eigenen werthen Persönlichkeit. So kriegten jene unheimlichen Dinge nicht bloß eine Gestalt, die ihm mehr oder weniger ähnlich war, sondern auch viel von seinem Charakter. Sie waren eitel und habgierig, sie wollten flattiert sein, man mußte bitten, danken, opfern, sonst wurden sie böse. – Dieser Wink, liebe Grete, wird dir hoffentlich auf deine Frage genügend sein. – Alles Weitere: Wie, als der neue Glaube kam, die alten Göttlichkeiten sich ducken mußten, wie sie verschrumpften zu Teufeln und Hexen, wie sie trotzdem noch heut allerorten lebendig sind, das muß halt der Bildungsstreber gefälligst lesen in den dicken Büchern, die darüber geschrieben wurden.
Sonst also geht es dir gut. Uns auch. Das Wetter ist mild. Otto sägt im Garten Gebüsch und Bäume aus. Die Abende sind lang. Nach Tisch sitzen wir meist traulich um den Tisch herum. Else hat kindlich vergnügt eine Puppenaussteuer genäht, für Tag und Nacht, zum Aus- und Anziehen.
Leb wohl! Viele Grüße von uns Allen.
Stets dein getr. alter Onkel
Wilhelm.
Für die Gourmandine sei bemerkt: Gestern verzehrten wir einen Hasen; eine fette Gans schwebt noch ahnungsvoll am Bodenfenster.[153]