|
[173] 1294. An Johanna Keßler
Mechtshausen 12. März 1901.
Liebste Tante!
In dem einfachen und regelmäßig wiederkehrenden Lauf der Dinge, die mich näher umgeben, paßiert ja nicht viel, worüber sich schreiben ließe. Ich möchte Ihnen aber doch wieder mal sagen, daß ich immer noch gern an Sie und die Ihrigen denke, und daß es mir lieb wäre, wenn Sie mir mittheilen wollten, wie es allerseits geht bei Ihnen.
Lange hatten wir den Winter mit Sehnsucht erwartet. Endlich, am letzten Tage des vergangenen Jahres, kam er an mit reichlichem Schnee, und die Kinder jubelten und holten den Schlitten hervor. Das war nun sehr schön. Nur, wenn so was zu lange dauert, wenn man acht Wochen hindurch nichts vor Augen hat als Weiß, wenn man erst einen Weg schaufeln muß, um sich draußen ein wenig bewegen zu können, dann wünscht man aufs neue die Erde und etwas mehr Farbe zu sehn. Auch für den Garten ists hohe Zeit. Die Sämereien sind bestellt und die Frühkartoffeln sind im Keller zum Vorkeimen auf die Horden gelegt. Allerdings, der Schnee geht weg; schon liegt er nur noch in tiefen Gräben und dicht vor dem Walde, doch noch immer ists naß und nebelig und kalt. Das einzige, was den Früh[l]ing verkündet, sind die harmlosen Schneeglöckchen, die trotz Winter und Kälte zum Lichte dringen und wild und zahm jetzt überall lustig in Blüthen stehn.
Inzwischen haben auch Husten und Schupfen ihre Pflicht gethan bei Älteren und Alten. Eins der Jungen hatte Mumms oder Ziegenpeter, ein Name, der neckisch klingt, während doch die Sach, die er bedeutet, ihre schmerzliche Seite hat. Das Jüngste lutscht, schläft und gedeiht.
Leben Sie recht wohl, liebste Tante! Herzliche Grüße an Sie und Alle, die zu Ihnen gehören, von
Ihrem alten getreuen
Onkel
Wilhelm.