1514. An Nanda Keßler

[240] 1514. An Nanda Keßler


Mechtshausen 16. Oct. 1905.


Meine liebe Nanda!

Du möchtest etwas hören über schlichte Frömmigkeit; ich will, wenn auch mit einigem Widerstreben, Dir zu sagen versuchen, was ich denke darüber.

Gott, genannt Vater als Urquell alles Lebens, der grundgute Wille im Gegensatz zum Eigenwillen, der Unbegreifliche, von dem sich kein Bild machen läßt, ist begreiflich erschienen in Christo, der die armen leidenden Menschenkinder brüderlich zu sich ruft und über Kreuz und Tod hinaus ihnen nah ist mit seinem Geiste. Ihm, dem höchsten Vorbild der Liebe suchen sie nachzufolgen in Demuth und Gebet, ohne Askese, ohne die Freud an der Welt zu verlieren, und gehen so der Ewigkeit entgegen in[240] der festen Zuversicht, dort ihr Theuerstes wiederzufinden, das ihnen vorangegangen. Nicht durch Lustbarkeiten, nicht durch Weihrauch und äußere Zeremonien suchen sie sich zu betäuben in ihrem Schmerz, sondern inwendig, wißen sie, kommt das Reich Gottes.

- Göthe ruft sehnend den Frieden in seine Brust; Schiller sagt, daß die innere Stimme die hoffende Seele nicht täuscht. Und gewiß, nur in der Tiefe der Seele, mit Hülfe jener Kraft, die stärker ist als alle Vernünftigkeit, kann Trost und Ruhe gefunden werden. – Mehr mag ich nicht reden darüber. –

Unser Herbst hier kam naß und kalt und barsch; schon hat ein kleines Schneegestöber die Kinder ergötzt; weniger mich.

Wie oft muß ich denken an dich! Herzliche Grüße, auch an Nelly, von

deinem alten Onkel

Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 240-241.
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