1519. An Grete Meyer

[242] 1519. An Grete Meyer


Mechtshausen 19. Nov. 1905.


Liebe Grete!

Da der Schnitt nun geschehn ist, so wünsch ich von ganzem Herzen, daß die Zeit, die alle Wunden kühlt, auch dir viel Freundliches bringen möge, was lindert und heilt. Das meiste freilich muß drinnen verfochten werden, wo allein für uns das Wesentliche und, wenn überhaupt wo, ein Zipfel der Freiheit zu faßen ist. Nur weil wir im Vergleich zur unendlichen Wirksamkeit ein so winziges wirkendes Theilchen sind, pflegt man zu sagen: Es mußte so kommen. Ob "gut", was im Besondern geschieht, lehrt die Erfahrung. Die allgemeine Frage jedoch, ob Alles auf's Beste zielt, muß einzig der Glaube zu lösen versuchen.[242]

Wie du, nahm ich kürzlich den Göthe zur Hand. Drin nah beieinander fand ich den Aufsatz über's Straßburger Münster und die letzten Schriften über allerlei Kunst. Der Bach, der einst im engen Waldthal sich schäumend über Felsen ergoß, ist später zum weiten und breiten Gewäßer geworden. – Bilder laßen sich nicht mit Worten kopieren. – Und doch, wer möchte nicht andächtig zuhören, wenn Göthe redet, wovon es auch sei. –

Unser Befinden, sehr günstig bisher, ist wieder mal etwas gestört. Mit Bertha hat's angefangen; sie wurde mit Serum geimpft. Dann befand sich Ruthchen nicht wohl; im Magen wohl nur. Bei Beiden scheint die Sache vorüber zu sein. Unser kleines Annelieschen kam heut an die Reihe; aber der Dokter, der sie vorhin untersuchte, kann's nicht bedenklich finden. –

Allmählig, nach dem ewigen Regen, schien der Winter zu kommen. Es fiel etwas Schnee, zuzeiten blickte sogar freundlich die Sonne auf den Bleichplatz herunter und hat die dort schwebende Wäsche getrocknet. – Eben, natürlich, fängt's wieder zu miestern an. –

Tausend Grüße, liebe Grete, von allen und besonders von deinem alten

Onkel Wilhelm,


der oft an dich denken muß.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 242-243.
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