II

[195] Es war ein fröhliches Drängen und Treiben vor einem hohen Hause in der Altstadt, das mit seinem Giebeldache und den kleinen, halbblinden Fensterscheiben so recht sein hohes Alter bekundete und eher allem Andern glich, als der heiligen Stätte, wo die klassische Jugend der Stadt ihre Bildung empfing. Und doch war es so; umgeben von den kleinen Plebejern der anliegenden engen Straßen, hob sich ganz bestimmt die Schaar[195] der Gymnasialschüler hervor, nicht allein durch die rothen, blauen und schwarzen Mützen, welche die verschiedenen Klassen kennzeichneten, sondern auch durch die Kleidung und das Benehmen, welches, wenn auch häufig eben so ungezogen, als das der andern Jungen, doch in seiner Besonderheit zeigte: »Sie sind guter Leute Kind«. Und die guten Leute, denen sie angehören, gehen diesesmal, freundlich hier und dorthin nickend, durch den dichten Schwarm in das Haus hinein, wo heute zum Schlusse des Cursus der gewöhnliche Rede-Aktus stattfinden soll. Manches Söhnlein dieser feierlich hinwallenden Eltern soll sich heute öffentlich vernehmen lassen, im Gesang oder im freien Vortrag eines entweder selbst ausgearbeiteten Aufsatzes oder eines Gedichtes, welches der Schöngeist des Gymnasiums, der Professor der deutschen Sprache, nie versäumte, bei diesen Gelegenheiten zu dichten. Bald war es eine Ballade, bald ein lyrischer Erguß, den er dem unglücklichen Rhapsoden in höchsteigner Person unter den gewichtigsten Auseinandersetzungen über Declamation und Verskunde, worüber dem Armen, der nicht den zwanzigsten Theil davon verstand, im wahren Sinn des Wortes der Kopf beinahe brannte, einstudirte. Auch heute wieder sollte eine seiner berühmtesten Balladen vorgetragen werden, welche also anfing: »Pipin der Kleine war nicht groß, doch Karls des Großen Vater«, und im gehobensten Gefühl seiner Würde stand der kleine Mann lebhaft gesticulirend in einem Kreis von Lehrern, die mit ihm die Ankunft des Directors und damit den Beginn der Feierlichkeit erwarteten. »Sehen Sie die verdammten Jungens«, rief er plötzlich, sich in einer längeren Auseinandersetzung über den Werth seiner eigenen Dichtungen selbst unterbrechend, was von seinen Zuhörern mit manchem verstohlenen Lächeln und spöttischem Zusammenziehen des Mundes vernommen wurde, »sehen Sie, wie sie da wieder hineinlaufen zu dem Bäcker Becht und die sauer erworbenen Groschen ihrer Eltern für Wurstwecken verschleudern!« In der That sah man einen ganzen Zug der verschiedenen Mützen sich zu einem kleinen[196] niedren Fenster drängen, zu dem in gefährlichster Aufthürmung drei ganz schmale Treppen hinaufführten. Einer nach dem andern erklomm die steile Höhe, um aus den Händen einer kleinen appetitlichen Bäckersfrau die leckere Speise zu empfangen, welche in einer in Teig eingehüllten Wurst bestand. Jeden Augenblick konnte die Glocke das Zeichen zum Anfang der Feierlichkeit geben, um so ungestümer wogte es um den schmalen Treppenstein, den Jeder zuerst zu erklimmen hoffte, Püffe und Stöße regnete es in Menge, gar manche der bunten Sonntagsmützen flog, zum lauten Ergötzen der Straßenjugend, in den Straßenkoth. Die Lehrer sahen lächelnd dem Durcheinander zu, aber der kleine Professor der deutschen Sprache und Aesthetik konnte sich nicht darüber zufrieden geben. »O, diese ungeschlachten Bengel«, rief er zornig, »in's Carcer sollte man alle die frechen Buben schicken; wie sie ihre Sonntagskleider verderben, wie sie sich Hände und Gesicht mit Fett beschmieren, es ist unerhört!«

»Nun, werthester Herr College«, unterbrach ihn ein langer, hagerer Mann mit einer auffallend rothen Nase, der Lehrer der Mathematik, »vergessen Sie nicht, daß wir auch einmal jung gewesen sind, daß wir mehr als einmal an diesem tarpejischen Felsen, der zum Bäcker hinaufführt, und dessen weichen Sandstein die Füße von mehreren Generationen bearbeitet und polirt haben, aneinander zum Verräther geworden sind!«

»Wenn wir auch nur jetzt nicht mehr aneinander zum Verräther werden!« sagte hinter ihnen eine scharfe Stimme, dem Lehrer der Geographie angehörend, einem Manne, dem seine eigenthümliche Gesichtsbildung bei der immer zum Spott geneigten Jugend den Namen: »der Frosch« eingetragen hatte. Aber trotz seiner Strenge und dem wenig respectvollen Unnamen respectirte und liebte man den Frosch. Er war ein gescheidter Mann, weit gereist, und so wußte er den Jungen Vieles anschaulich zu machen, was sie sonst nur trocken aus dem Buche[197] lernen mußten. Dabei war er streng gerecht und in Folge davon in häufigem Streit mit dem Aesthetiker, der immer seine Schützlinge und Unterdrückten hatte, so daß seine Ungerechtigkeiten fortwährenden Anlaß zu Reibereien zwischen ihm und den Schülern gaben. Mehr als einmal suchten sie ihr Recht bei dem »Frosch«, der dann mit unnachahmlicher Ruhe voranschritt und den Director, einen feinen Gelehrten, aber ängstlichen Mann, der den Frieden über Alles liebte, in seiner Pflicht unterstützte.

Professor Landmann haßte ihn mit aller Gluth, deren sein lebhaftes Gefühl fähig war, aber er wußte dies schlau zu verbergen, und obgleich er sich bei der scharfen Einsprache fast erschrocken umwandte, sagte er doch sogleich freundlich: »Dies wollen wir nicht hoffen, wie kommen Sie darauf, werther College?«

»Nun, man kommt so auf allerhand«, antwortete der Andere trocken, »die burschenschaftlichen Untersuchungen scheinen wieder in Gang zu kommen, und da läßt sich gewiß noch Manches aufdecken und erzählen und höhren Ortes anbringen, wenn man gut unterrichtet ist.«

Er sah dabei den Professor fest an, so daß dieser fast verwirrt den Blick hinwegwandte, dann aber, sich schnell fassend, wieder auf das wogende Meer vor ihnen deutete und ausrief: »Ja, sehen Sie, das ist es, was ich vorhin noch sagen wollte, man ist wieder hinter diesen verwünschten Burschenschaften her, mit allem Rechte, sage ich; was wollen sie anders, als Revolution, Umwälzung, Blutbad, Schreckensregierung und Alles das? Und nun betrachten Sie diese Jungen, mit ihren verschiedenen Mützen, es sind geheime Abzeichen, glauben Sie mir, man darf es nicht dulden, ich werde den Director darauf aufmerksam machen!«

Ein schallendes Gelächter des Frosches unterbrach ihn: »Sind Sie nicht gescheut, Landmann? Kindereien sind es, die[198] Jungen verabreden sich in der Klasse, welche Farbe ihnen am besten gefällt, und tragen dieselben Mützen, um sich gegenseitig besser zu erkennen.«

»Sich gegenseitig besser zu erkennen, ja das ist es, die bunten Mützen müssen verboten werden!«

»Als staatsgefährlich, natürlich«! höhnte der Geograph, und die Andern stimmten lachend ein.

»Das wäre mir ein schöner Staat, der von den rothen und grünen Kappen der Buben da unten umfiele!« rief der Mathematiker lustig.

»Sie sind keine Pädagogen, meine Herren«, rief der Professor wüthend, »man muß bei der Jugend voraussetzen, daß sie etwas im Schilde führt, besonders bei der Heutigen; die verfluchten Revolutionsideen stecken ihr in Fleisch und Bein!« Die Discussion ward hitziger auf diesen Ausfall, und währenddessen fröhnten die Inhaber der staatsgefährlichen Mützen ungestört ihrem Ehrgeiz, der ganz gewiß für jetzt nichts Höheres erstrebte, als die glückliche Eroberung eines Wurstwecken. Das Glück war ihnen günstig; die Stunde schien zögernd inne zu halten, und fast Alle waren befriedigt, ausgenommen einige wenige Pechvögel, deren Loos es war, immer zuletzt anzukommen, und die schon gewöhnt waren, sich geduldig zu fügen. Da gab es eine Bewegung und ein Verstummen in dem eben noch so lebhaften Lehrerkreise; ein großer, corpulenter Mann mit geistvollem Gesichtsausdruck war zu ihnen getreten, und vor seiner ruhigen Größe schwieg jeder Streit, und Jeder beeilte sich den Director des Gymnasiums zu begrüßen. –

Während des soeben Erzählten hatte seitwärts von dieser eine andere Gruppe gestanden, zusammengesetzt aus einem Theil der ersten Klasse des Gymnasiums. Selbstverständlich nahmen sie keinen Theil an dem Sturm des Bäckerladens, dies den Jüngeren überlassend und nur sich ergötzend, ihrem tapferen Beginnen zuzuschauen. Es waren meist Abiturienten, Jünglinge[199] von 17 bis 18 Jahren, die heute zum Letzenmale sich hier versammelten, um nach Schluß der Ferien die Hochschule zu beziehen. Laut und lustig redeten sie durcheinander, die Welt war ihnen endlich aufgethan, und gleich jungen Titanen hofften sie hineinstürmend ihre schönsten Güter wie im Fluge zu erhaschen. Was ist der Jugend in dieser Zeit zu hoch, zu schwer oder zu tief? und wer möchte ihn ihr rauben, diesen Glauben an sich selbst, dies Vertrauen, daß sie kann, was sie will, daß sie erreichen wird, was sie erstrebt. Darin liegt ihre Stärke, ihre Schönheit, ihre Poesie, in diesem Selbstvertrauen, dieser kühnen Unbefangenheit der Welt gegenüber – dieser kalten, eisernen, unerbittlichen Welt, an der ihr Euch die bunten Schmetterlingsflügel abstoßen müßt, als ob sie Euch nur zu diesem Zwecke gewachsen wären! Einer der jungen Leute, eine schlanke Gestalt mit fast mädchenhaften Zügen, lehnte an dem Gitter, das den Hof von der Straße abschloß, und hatte schon lange träumerisch vor sich hingesehen, als ihn endlich der laute Anruf eines seiner Kameraden zu sich brachte. »Nun, Brandeis« rief er ihn an, »bist Du schon so ganz in Deine Rede und Deine Eitelkeit vertieft, daß Du nicht einmal mehr den Mund zu einem Lachen verziehen kannst über die tollen Jungen da unten?«

Der Angeredete richtete sich langsam auf: »Kameel«, sagte er ruhig, »was brauchst Du mich zu stören, ich betrachte mir noch einmal mit objectivem Blick da drüben unsern theuren Professor der Aesthetik und habe meinem Schöpfer gedankt, daß ich dem Menschen heute zum Letztenmale objectiv gegenüber stehe«.

»Dies Dankgebet hättest Du laut verrichten können, wir würden Alle mit eingestimmt haben«, rief ein kleines, zartes Bürschchen, den man kaum für einen Schüler der obersten Klasse halten konnte, so schmächtig sah er aus, und drehte sich dabei lustig auf dem Absatz herum.[200]

»Ja wohl!« stimmten Alle lachend ein, und Brandeis fuhr lebhafter fort: »Seht nur, wie er jetzt wieder perorirt und da unten auf die armen Würmer deutet, als ob sie sämmtlich schon für die Hölle reif wären! Ich wette, es macht ihm schon wieder Leibweh, daß die Jungen einerlei Kappen tragen!«

»Freilich«, rief der Kleine lustig, »hinter jeder blonden Locke wittert er einen Sand, hinter jeder Mütze einen Burschenschafter«.

»Natürlich,« fiel ein anderer ein, »es ist weit bequemer für ihn, die Litteraturstunde mit solchen Phantasmagorieen und mit Schelten über die verderbte Jugend auszufüllen, als einen ordentlichen Vortrag zu halten. Ihr seid ihn doch jetzt los, aber ich muß noch ein halbes Jahr lang zweimal wöchentlich den Unsinn anhören«.

»Dafür lobt er auch deine Gedichte und erklärt dich für einen zweiten Göthe«, sagte Ludwig Brandeis ruhig und schlug dem Sprecher gutmüthig auf die Schulter. Dieser ward feuerroth und stammelte: »Nun, das muß man ihm lassen, Talente weiß er zu erkennen und zu schätzen!« Ein homerisches Lachen erscholl, und der Kleine rief wieder munter dazwischen: »Das hat er bewiesen, als er Ludwigs Rede so schön kritisirte und ihm die Fetzen vor die Füße warf; was wäre denn daraus geworden, wenn der Director hier nicht einmal in seinem Leben Energie gezeigt hätte?«

»Schweigt mir von dem characterlosen Schuft«, sagte Ludwig finster, »ihr bringt mich noch ganz aus der nöthigen Stimmung!«

»Ah bah, wirst schon hinein kommen, wenn du auf dem Katheder stehst«, rief der Kleine wieder und sah den Freund dabei fast zärtlich an, dann drückte er die eine Hand fest zusammen, stellte sich in Positur, klopfte mit der andern Hand auf die Faust, wie auf einen Dosendeckel, und rief mit komischem[201] Pathos: »Nehmen sie nicht eine Prise meine Herren? Alle großen Männer schnupfen, Napoleon schnupfte, Friedrich der Große schnupfte, ich schnupfe auch!« Abermals erscholl ein lautes Gelächter, selbst Ludwigs üble Laune schien verschwunden, er nahm lebhaften Antheil an den bitteren Sarcasmen, die sich plötzlich von allen Seiten über den Professor ergossen, so bitter, wie sie eben nur der Jugend eigen sind, die viel einseitiger und schärfer urtheilt, als das Alter, wenn sie gereizt ist. Längst bekannte Anecdoten wurden aufgetischt, ohne jedoch ihre abermalige Wirkung auf das Zwerchfell zu verfehlen: Jeder wollte es am Besten wissen, wie der allgemeine Feind die Stunde mit allen möglichen Dingen herumbrachte, statt jenen, die hineingehörten, wie er Schiller als Dichter schmähte und heruntersetzte und dann aus der Tasche ein selbstverfaßtes Gedicht zog, welches er seinen jugendlichen Hörern als Muster einer Ballade oder Romanze vortrug. Noch verhaßter war er jedoch durch die Parteilichkeit und die Gehässigkeit, mit der er mit den Schülern verkehrte. Die Begabtesten waren ihm wahrhaft zuwider, er chikanirte sie, wo er konnte, und ließ keiner ihrer Leistungen Gerechtigkeit widerfahren. Auf deren Kosten bevorzugte er die kleineren Talente und trieb sie zur höchsten Selbstüberschätzung. So mit dem jungen Mann, der sich allein vorhin seiner angenommen und auch jetzt schweigend zwischen den Andern stand. Er war begabt, aber nicht als Dichter; einige wenige Versuche, die er in dieser Richtung gemacht, bewiesen es zur Genüge. Aber um Ludwig Brandeis, den hervorragensten der ganzen Klasse, zu demüthigen, erhob er den Anderen, der es natürlich gerne glaubte, zu einem Genie. »Der Landmann hat Dich auf dem Gewissen«, sagte ihm Ludwig oft warnend, »so wird nie etwas Rechtes aus dir«, aber wie hoch auch sein Wort sonst bei den Kameraden galt, der Eitelkeit des Einzelnen gegenüber verhallte es spurlos. Dem Director machten diese Zerwürfnisse der Schüler mit einem der Hauptlehrer nicht wenig Sorge; er[202] war ein feiner, stiller Gelehrte, der mehr in Griechenland und Rom, als Daheim lebte und den Frieden über Alles liebte. Die Schüler hingen mit unbegrenzter Verehrung an ihm; sie empfanden sein freundliches Wohlwollen in jedem Worte, das er zu ihnen sprach, und hatten in ihrem Jugendenthusiasmus keine Ahnung davon, wie auch er sie den falschen Weg führte, wie er eine ideale Welt in ihnen erweckte, die im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gerade in den Begabtesten, in seinen Lieblingen die härtesten Kämpfe hervorrufen mußte. Landmanns Auftreten war ihm in tiefster Seele zuwider, und oft seufzte er in der Stille seines Studirzimmers: »O! welchen Händen wird doch oft die Jugend, das Edelste was eine Nation besitzt, anvertraut!« Aber Landmann zu entfernen, war für ihn eine Sache der Unmöglichkeit, er stand zu fest bei der Regierung des Landes.

Seit der Julirevolution gährte und spuckte es in allen Köpfen, und zumeist in denen der Regierer, welchen vielleicht das böse Gewissen oft warnende Bilder der Zukunft vor den Geist führte. Ihren gefährlichsten Gegner ahnten sie mit Recht in der Jugend, die ja überall der Sauerteig des Lebens ist; daß sie aber auch zugleich der ungefährlichste aller Feinde, wenn man sie ruhig und unbemerkt ihren schönen Frühlingsrausch auslärmen und träumen läßt, davon wußte eine Metternich'sche Weisheit nichts oder wollte es nicht wissen, oder auch sie fühlte sich im eignen Innern so unsicher, daß das Geräusch eines Schmetterlings sie erbeben machte. Auf die Schmetterlinge mußte somit zunächst geachtet werben, man witterte Verschwörung in jeder unschuldigen Zusammenkunft, man glaubte, eine unsichtbare Gesellschaft der alten Burschenschaften strecke ihre Fühlfäden bis in jede höhere Lehranstalt aus. Landmann war ganz dazu geeignet, in einer solchen den Spion zu machen, und kaum war seine Phantasie von Derartigem eingenommen, als er auch schon überall Gespenster sah. Die kleineren Jungen[203] lachten ihn aus und begriffen nichts, wenn er in seinen gewohnten Fragen in der Stunde die albernsten Warnungen und Vermischungen anbrachte, die Großen hörten aufmerksam zu und stutzten.

Herr Landmann war so freundlich, sie gerade auf etwas aufmerksam zu machen, woran sie vorher nicht gedacht. Sie fanden es über die Maßen lächerlich und empfanden doch ein stilles Behagen dabei, daß man sich vor ihnen fürchten könne, daß man glaube sie seien im Stande, griechische oder römische Freiheitshelden zu spielen.

Mitten in den Tumult ihrer Reden scholl jetzt wieder vernehmlicher des Kleinen Stimme: »Zieht, Jungens, zieht, dort kommen Ludwigs Alte, und – wahrhaftig, sie ist auch dabei, die schöne Berlinerin, die Frau von Arthur Hohenstein!« Alle Köpfe wandten sich nach der Seite, wo wirklich in diesem Augenblick die Frau Doctorin Brandeis, welche wir schon als Charlottens Freundin und Hauswirthin kennen gelernt, am Arme ihres Gatten erschien. Es war eine Seltenheit, den vielbeschäftigten Arzt, der alle seine Zeit auf seine Kranken verwendete, einmal bei einer solchen Gelegenheit im Festtagskleide zu sehen. Es war auch heute ein Festtag für ihn; sein Ludwig, sein Aeltester, sollte öffentlich sprechen vor einem gewählten Publikum, vor seinen Lehrern und Kameraden. Daß seine Rede gut ausgearbeitet war, ja, daß sie vielleicht als Schriftstück glänzend genannt werden durfte, dies wußten die Eltern, aber, würde er auch gut sprechen, würde er nicht aufhören müssen? Dieser Gedanke beklemmte besonders das Herz der Mutter, welche die Schüchternheit ihres Ludwig nur zu gut kannte, und fast ängstlich flog ihr Auge hinüber zu dem Sohne, der sich jetzt wieder scheu und nachlässig an das Gitter lehnte, fast fürchtend, den Blicken der Eltern zu begegnen. Neben der Doctorin ging elastischen Schrittes Charlotte; die dunklen Locken flogen um die leichtgerötheten Wangen, und ihr braunes Auge[204] blickte gar freundlich auf die Gruppe der jungen, frischen Leute, die ehrerbietig grüßten, als sie vorübergingen.

»Sapperment, die ist nicht übel«, rief der Kleine, der sich schon darauf zu gute that, den Studenten zu spielen, »Ludwig, ich gratulire Dir zu Deinem Kamisol!« Alle lachten, aber Ludwig zog spöttisch die Lippe in die Höhe und sagte nur: »Berliner Blaustrumpf!«

»Geh', Du bist ein Wilder dem schönen Geschlecht gegenüber«, sagte jetzt der angehende Lyriker, »wirst schwindlicht beim Tanzen und warst gewiß noch nie im Leben verliebt!«

»Verliebt? auch das noch in diese einfältigen Geschöpfe, mit denen man kein vernünftiges Wort sprechen kann.«

»Auch nicht einmal in jene Rosenknospe, die eben mit Deiner liebenswürdigen Schwester den Alten nacheilt?«

Nun ward Ludwig roth: »Dummes Zeug,« sagte er, »ich sehe die Kleine schon, seit sie aus der Wickel ist, fast jeden Tag und spiele mit ihr, wie mit einem Kinde. Hübsch ist sie geworden, das muß ich gestehen, aber sonst ist das Gustchen noch gar zu klein- groß. Die Mädchen spielen wahrhaftig noch mit den Puppen, wenn sie sich auch schämen und sich immer vor mir einschließen, daß ich sie nicht zu sehr verhöhne.«

»Ach! ich wollte sie ließen mich mitspielen,« seufzte der Kleine schwermüthig, und ein unbändiges Lachen war die allgemeine Antwort.

»Schwatze keinen Unsinn, Wangenrode«, sagte Ludwig, »und mache mir lieber die Schnalle an meiner Kravatte auf. Nun meine Alten glücklich herein sind, kann ich das Marterinstrument in die Tasche stecken.«

Wangenrode gehorchte, wie er denn Alles that, was Ludwig ihm gebot, und hätte er ihm selbst gesagt, er solle dorthin zu den Lehrern gehen und dem Professor Landmann einen Nasenstüber geben.[205]

»Du willst doch nicht«, wandte der blondlockige Lyriker schüchtern ein, »so im bloßen Hals –«

»Freilich will ich: nicht drei Worte brächte ich heraus mit dem Strick um den Hals. Ha, Luft, Freiheit! ich glaubte vorhin zu ersticken!«

»Aber was werden Deine Alten sagen?«

»Meiner Mutter ist es einerlei, die ist viel zu vernünftig, um mir den Zwang anzuthun, und was den Papa betrifft, der mir freilich immer mit unerbittlicher Strenge das Ding da octroyirt, den hoffe ich mit den Lobsprüchen zu versöhnen, die mir der Cato einträgt.«

Der Lyriker, der unendlich viel auf Eleganz und Glacéhandschuhe hielt, wollte noch etwas sagen von der Unziemlichkeit, so vor einem geehrten Publikum zu erscheinen, aber die große Glocke, welche das Zeichen zum Anfang der Feierlichkeit gab, erscholl, und Alles setzte sich in Bewegung. Die Inhaber der verschiedenen bunten Mützen und glücklichen Bewältiger der Wurstwecken polterten zuerst hinein in den Saal, der bei solchen Gelegenheiten und bei den allsonntäglichen Predigten benutzt wurde, und nahmen ihre Plätze ein; ihnen folgten die älteren Schüler mit ruhigerer Haltung, und den Schluß machten die Lehrer. Drinnen war die Ordnung hergestellt, da Alles vorher bezeichnet worden. Etwa die Hälfte des niederen Saales, der durch schmale Glasscheiben ein dürftiges Licht empfing, war angefüllt mit den Eltern, Verwandten oder Freunden der Knaben, die bei der Feierlichkeit mitwirkten. Die Wände waren nur mit Kränzen von Fichtenlaub geschmückt, da es jetzt Ende März weder anderes Laub noch Blumen gab; das untere Wandende schmückte das Wappen des kleinen Staates, und fast verwundert schauten darauf die Köpfe von Plato und Sokrates, die sich in Gypsabgüssen daneben befanden. In der Mitte des Saales stand ein Flügel, an welchem der Singlehrer Platz nahm, und daneben erhob sich ein Katheder, für diejenigen bestimmt, die[206] Reden oder Gedichte vortragen sollten. Ein feierlicher Choral, von den Schülern gesungen, versetzte Publikum wie Vortragende in die rechte Stimmung, und nachdem noch zwei Knaben eine vierhändige Piece vorgetragen, kam der Vierzehnjährige an die Reihe, welcher die berühmte Ballade von Pipin, verfaßt und ihm selbst einstudirt von Professor Landmann, vortragen sollte. Es war ein runder, frischer Junge, dem von dem Genuß der Wurstbrezel noch ein glänzender Fettrand die frischen, rothen Lippen umglänzte. Mit heller, kecker Stimme fing er an, und es ging Alles ganz gut, bis der unglückliche Moment kam, wo Pipin mit einem Schlage dem Ochsen den Kopf vom Rumpfe trennt. War bis dahin das begleitende Geberdenspiel schon etwas zu lebhaft gewesen, so gab es doch jetzt den Gipfelpunkt der Ueberraschung. Der unglückliche Declamator, welcher sich nicht gerade durch außerordentliche Geistesgaben auszeichnete, befolgte nur zu treu, was ihm der Lehrer anbefohlen. Bei der ominösen Stelle erhob er die Hand und fuhr sich wie mit einem Schwerte damit über die Gurgel, als ob er selbst der Ochse sei, der geköpft worden. Ein verrätherisches Kichern erhob sich von der vordersten Bank, wo in einer Reihe das Häuflein der Selecta saß, deren Gespräch wir vorhin belauscht, wie ein Lauffeuer ging es durch die übrigen Bänke, und ehe noch der Arme die folgende Strophe beginnen konnte, brach unaufhaltsam ein lautes Lachen los, das sich nur zu bald auch dem Publikum mittheilte. Der Junge auf dem Katheder stand einen Augenblick wie versteinert, dann zog er ein sauber zusammengefaltetes, rothgewürfeltes Taschentuch hervor, brachte es an die Augen, fing laut zu schluchzen an und stürzte von dem Katheder herab, gerade auf Landmann zu, der blaß und bebend vor innerer Wuth dastand. »Ich habe es Ihnen ja gesagt, Herr Professor«, schrie der Junge außer sich, »ich wollte mich nicht selber köpfen!« »Schweig«, donnerte ihm Landmann entgegen, »wer hat Dich geheißen, die Geberde so auffallend[207] zu machen?« Wiederum scholl von der vordersten Bank das Signal zu einem neuen Lachsturm, und selbst die Lehrer drohten die Fassung zu verlieren; Einer wich hinter den Andern zurück, und Landmann wendete sich wüthend gegen die Selecta: »Schämt Euch, mit Eurem dummen Lachen, Ihr albernen Jungen! In's Carcer sollt ihr mir Alle!« schrie er sie an. Ein lautes Zischen antwortete, und die Feierlichkeit drohte sich in allgemeinen Tumult aufzulösen. Da erblickte man plötzlich auf dem Katheder die Gestalt des Directors, und allein der Anblick seines milden, geistvollen Gesichts genügte, die tolle Jugend herabzustimmen. Er winkte einigemale mit der Hand, bis Alles stille war, dann sagte er mit leiser, aber durch den ganzen Saal vernehmlicher Stimme: »Es ist ein Festtag heute, wir wollen darum Alles vergeben und vergessen; das verehrte Publikum wird sich erinnern, daß dasselbe hier mit jugendlichen Leistungen zu thun hat; unser kleiner Declamator, ein braver, lieber Junge, wird ein andres Mal seine Sache besser machen, und mein verehrter College wird verzeihen, daß seine schöne Dichtung so unzeitgemäß unterbrochen wurde, wenn er erwägt, wie Gott Momus als neckischer Kobold auch oft bei ernstem Geschäft sein Spiel treibt.« Ein kleiner sarkastischer Zug spielte, vielleicht ihm selbst unbewußt, bei diesen Worten um seine Lippen, und der Angeredete drückte sich leichenblaß in eine Fensternische, zwischen den Zähnen knirschend: »Sie sollen mir's noch Alle entgelten, die frechen Jungen da vorn!« Dann wandte sich der Director mit ernsterer Miene nach den Schülern und fuhr mit gehobnerer Stimme fort: »Von Euch, meine Freunde, erwarte ich jetzt die Ruhe, welche der Feierlichkeit dieser Stunde geziemt!« Die einfachen Worte wirkten mehr als eine lange Standrede, manche Wange röthete sich im Bewußtsein, nicht frei von Schuld zu sein, und selbst der kleine, kecke Wangenrode schlug beschämt die Augen nieder. Einen Moment beherrschte des Directors klarer, sanfter Blick die jugendliche Menge, dann sprach[208] er sehr gelassen: »Ludwig Brandeis, tritt jetzt zuerst hervor und halte Deine Rede über den Tod des Cato von Utika; ich hoffe, du führst dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit zurück.« Mit diesem Wort ging er leise auf seinen Platz zurück.

Ludwig Brandeis erhob sich zögernd, und seine gewöhnlich bleiche Wange malte sich nach und nach mit glühendem Roth; er hatte zuletzt sprechen sollen, und nun sah er sich auf einmal aufgerufen, lange ehe er es erwarten konnte. Sollte es vielleicht eine kleine Strafe sein, weil er offenbar mit unter den Ersten war, die das Gelächter angestimmt? Sein Herz schlug fast hörbar, als er dem Katheder zuschritt, und seine Mutter, da drüben ihm fast gegenüber, griff unwillkürlich nach der Hand ihrer Nachbarin, die sie krampfhaft drückte, während die Letztere selbst gespannt zu dem Jüngling aufsah, der jetzt droben stand, und einen Moment wie träumerisch vor sich hinstarrte. Wie die schlanke, biegsame Gestalt, hatte auch der Ausdruck des Gesichtes fast etwas Mädchenhaftes, und die schlanken, weißen Hände, mit denen er die Rolle Papier vor die Brust hielt, widersprachen dem nicht. Wohl aber die mächtige hohe Stirne, um welche in sanften Wellen sich das kastanienbraune Haar lockte. Sie verkündete den denkenden, forschenden Mann, so wie der weiche und unendlich anmuthige Mund das dichterische Gemüth. Die Augen waren grau und konnten wegen ihrer Kurzsichtigkeit oft matt und glanzlos erscheinen, was noch vermehrt wurde durch das träumerische Hinbrüten, dem sich Ludwig gerne hingab; aber jetzt schien es, als ob der Geist sich auf einmal besinne, was hier seine Aufgabe sei. Ludwig athmete hoch auf, sein Auge begann zu leuchten und überflog mit glänzendem Blick die Versammlung – er begann zu sprechen, nur die ersten Worte wurden stockend und schüchtern vorgetragen, dann schien der Redner zu vergessen, wo er sich befand, er war wie mit sich und seinem Gegenstande allein, und in flammender Begeisterung rollten die Worte von seinen Lippen. Er vertheidigte[209] den Selbstmord des Cato von Utika, der sich lieber den Tod gegeben, als den Sturz der römischen Republik und Freiheit erleben wollte. Mit glühenden, tiefempfundenen und dann hinreißenden Worten schilderte er den Schmerz des alten Republikaners, welcher das Gebäude, das Rom Jahrhunderte lang groß und mächtig gemacht, unter der Hand eines Einzelnen hinsinken sieht. »Die Freiheit ist jeden Opfers, auch des Höchsten werth«, rief er begeistert, »neben ihr ist das Leben nur gering zu achten, denn besser ist es, frei zu sterben, wie als Sclave zu leben. So fühlte Cato, als er den Verband seiner Wunden mit starker Hand abriß, damit sein edles Blut dahin ströme, welches er in ihrem Dienste in andrer Weise nicht mehr verspritzen konnte. So fließe auch das unsere, wo sie in ihrem Dienste gegen Unterdrückung und Verrath aufruft. So hat sein Beispiel allezeit auf die Nachgeborenen eingewirkt. Schlagen wir das berühmte Gedicht des Italieners Dante auf, wo finden wir Cato von Utika? Weilt er unten im dämmernden Schattenreiche, wo die edlen Griechen und Römer wallen, die gut und groß gelebt, aber den Segen der Taufe nicht empfangen haben und darum nie zu des Himmels Höhen emporsteigen können? Nein, der große Dichter, dessen eignes Herz nur für Freiheit und die Größe seines Vaterlandes schlug, er hat diesen Einzigen an die Pforte des Purgatoriums versetzt, die er als treuer Wächter den bereuenden Seelen öffnet. Er stieß ihn nicht hinab in die Hölle, in den Raum der finsteren Selbstmörder. Daß er aus freiem Entschluß die unfreie Welt verließ, um sich die ewige Freiheit zu retten, genügt Dante's ungebeugter Seele, ihn Denen gleich zu stellen, die nach Gott und dem Himmlischen trachten. In seinen Augen hatte er sich selbst erlöst von der Knechtschaft und seine Seele gerettet, hinaus über Zeit und Ewigkeit. So dachte der christlichste Dichter, welcher je gelebt, so müssen auch wir denken von Cato's Selbstmord. Wir reichen ihm knieend die Krone des freiesten Mannes[210] dar, und sein Beispiel soll die Nachwelt, soll die Jugend begeistern, ihm nachzustreben in der hingebendsten Liebe zu der Freiheit, im unversöhnlichsten Haß gegen die Unterdrückung!« – Er hatte geendet, strich sich die Locken aus der Stirne, warf einen Blick hinüber nach dem Platz, wo seine Mutter saß, verließ dann langsam den Katheder und kehrte auf seinen Platz zurück; ein lautes Murmeln des Beifalls begleitete ihn, der Director nickte ihm von seinem Sitze aus freundlich zu, und die Freunde empfingen ihn mit glänzenden Blicken. Wangenrode drückte ihm verstohlen die Hand und flüsterte: »Hast's brav gemacht, alter Junge; die schöne Berlinerin hat aber auch keinen Blick von Dir verwandt, und Deiner Kleinen standen sogar die Vergißmeinnichtsblümchen voll Thränen«.

»Das glaube ich«, antwortete Ludwig eben so leise, »meine Kleine versteht auch, was ich meine, vielleicht noch besser als Ihr«. Wangenrode hatte richtig beobachtet; Charlotte hatte mit ungetheilter und steigender Aufmerksamkeit auf Ludwig's Rede gelauscht, mit leuchtenden Augen hing sie an seinen Lippen, und als er geendet sagte sie zu ihrer Nachbarin: »Sie sind eine glückliche, glückliche Mutter!«

Die Doctorin lächelte ihr freundlich zu, aber in ihren Augen lag ein tiefer Ernst, als sie antwortete: »Glücklich ja, aber auch sorgenvoller als viele andere Mütter, der Feuerkopf wird uns noch viel zu schaffen machen!« Dann sah sie sich nach ihrem Manne um, der in einem Kreis von Männern stand, meist Beamte oder Militärpersonen, die ihn wegen des talentvollen Sohnes beglückwünschten.

Nach einigen Minuten nahm die Feier ihren Fortgang und verlief ohne weitere Störung, wie auch ohne bemerkenswerthe Leistung, es müßte denn das selbstverfaßte Gedicht gewesen sein, welches der Lyriker mit so stockender und ängstlicher Stimme vortrug, daß es dadurch allein unmöglich war, es richtig zu beurtheilen. Doch verfehlte Landmann nicht ihm nach[211] dem Schlusse der Feier darüber die außerordentlichsten Lobsprüche zu ertheilen, während er an Ludwig kalt vorüberging. Dieser ward indessen von Mitschülern und Lehrern mit freundlichen und anerkennenden Worten überschüttet. Der Director, welcher natürlich die Rede vorher geprüft, sprach sich abermals höchst lobend darüber aus; er dachte nicht daran, daß sie etwas Aufregendes oder Staatsgefährliches enthalten könne. Las er nicht täglich die Ciceronianischen und Demosthenischen Reden in seinem Studirzimmer, warum sollte sein classisch gebildeter Schüler nicht in einem Helden des Alterthums in gleicher Weise, mit demselben Schwung dieselbe Freiheit preisen, wie es dort auch geschah? Selbst der Religionslehrer nahm keinen Anstoß an dieser unumwundenen Vertheidigung des Selbstmords. Er war damals ein Rationalist vom reinsten Wasser, der den Schülern des Gymnasiums, die doch natürlich gebildeter waren, als die übrige Schuljugend, die Wunder oft in höchst ergötzlicher Weise erklärte. Er deducirte ihnen z.B. sehr anschaulich, daß Jonas nicht wirklich im Bauche des Walfisches drei Tage und Nächte gesessen, sondern daß er sich wohl in einem Wirthshaus, genannt zum Walfisch, festgekneipt habe, und daß dies den Anlaß zu der späteren Legende gegeben. Aehnliche spassige Erklärungen hatte er für den Stillstand der Sonne, als Josua die berühmte Schlacht gegen die Philister schlug, und anderes mehr, mit welcher Exegese seine Zuhörer sehr zufrieden waren. Er ahnte damals noch nicht, daß ihn die eigenthümlichen Wechselfälle des Schicksals oder die Wandelbarkeit seines eignen Geistes noch bis zum Oberhofprediger erheben würden, an welcher hohen Stelle er sich dann natürlich aus einer sehr andern Tonart mußte vernehmen lassen.

Eben so gleichgültig blieb das Publikum bezüglich des tieferen Inhalts dieser Rede. Weder diesen Vätern, noch den Lehrern war es mehr als eine Stylübung, eine schöne rethorische Probe. Von der Gluth, die den Geist, das Herz beseelen[212] mußte, welches seinen innersten Gedanken so verkörperte, hatte Niemand eine Ahnung. Aber dort an dem Gitter, nahe beim Ausgang, standen sie jetzt wieder dicht zusammen, Ludwig, Wangenrode und noch Einige Andre, mit intelligentem Gesichtsausdruck. In dieser Jugend klopfte ein warmes, feuriges Herz; ihnen war dies nicht blos so hingesprochen, sie empfanden dabei, was gewitterschwül sich schon seither anfing über die Welt zu lagern, und die Blitze, die aus ihren Augen zuckten, sie galten nicht blos einer poetischen Phrase, einem rednerischen Erguß, sie galten der Wirklichkeit und dem Leben, und als sie sich scheidend die Hände reichten, schlossen sie sich fest zusammen wie noch nie, und als wollten sie damit einen geheimen Bund besiegeln, der der Gemeinheit, der Unterdrückung und Knechtschaft auf ewig den Krieg erklärte. –

Ludwig schloß sich weggehend den Eltern an, die jetzt aus dem Gewühl heraustraten und ihn freundlich bewillkommten. Dann reichte er der Schwester die Hand, die sie leise drückte und den Bruder mit einem Blicke ansah, in dem vielleicht das erste, wahre Verständniß lag, außer dem der Freude. Charlotte, die schweigend nebenan ging, hatte es bemerkt, wie die Geschwister sich gegenseitig begrüßten, aber sie sagte Ludwig jetzt nichts. Sie hatte an diesem Nachmittag einen tiefen Blick in ein frisches, unentweihtes, allem Schönen hingegebenes Jünglingsherz gethan, und sie wollte sich dies Herz zu gewinnen suchen in schwesterlicher Freundschaft, denn sie ahnte, daß es vielleicht bald vorurtheilslosen Schutz, wohlwollendes Verständniß bedürfen könne. –

Quelle:
Luise Büchner: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden, Band 1, Frankfurt a.M. 1878, S. 195-213.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon