II.

[155] Nun waren sie schon seit acht Tagen bekannt. Es war ein Feiertag. In den Zimmern war es schwül, und in den Straßen hob der Wind Staubwolken empor und riß die Hüte von den Köpfen. Man hatte den ganzen[155] Tag Durst, und Gurow ging jeden Augenblick zum Pavillon und bot Anna Ssergejewna bald Fruchtwasser, bald Gefrorenes an. Man wußte nicht, wohin man sich vor der Hitze retten sollte.

Abends, als der Wind sich etwas gelegt hatte, gingen sie auf die Mole hinaus, um die Ankunft des Dampfers zu sehen. Im Hafen waren viele Spaziergänger; jemand wurde erwartet, viele hatten Blumensträuße in der Hand. Zwei Eigentümlichkeiten der eleganten Jaltaer Gesellschaft fielen hier besonders auf: die älteren Damen waren viel zu jugendlich gekleidet, und es gab eine Menge Generäle.

Da die See sehr bewegt war, kam der Dampfer mit einer Verspätung, erst nach Sonnenuntergang; ehe er anlegte, manövrierte er lange hin und her. Anna Ssergejewna betrachtete durch ihr Lorgnon das Schiff und die Passagiere, als ob sie unter diesen einen Bekannten suchte, und wenn sie sich an Gurow wandte, leuchteten ihre Augen. Sie sprach sehr viel und stellte kurze, abgerissene Fragen, die sie gleich wieder vergaß; später verlor sie im Gedränge ihr Lorgnon.

Das elegante Publikum verließ allmählich den Hafen; die Gesichter waren im Dunkeln nicht mehr zu erkennen; der Wind hatte sich gänzlich gelegt; aber Gurow und Anna Ssergejewna standen noch immer auf der Mole, als erwarteten sie, daß noch jemand vom Schiffe käme.[156] Anna Ssergejewna sprach nicht mehr und roch an ihrem Blumenstrauß, ohne Gurow anzublicken.

»Das Wetter ist am Abend doch noch besser geworden,« sagte er. »Wo wollen wir nun hin? Sollen wir vielleicht noch irgendwo hinausfahren?«

Sie gab keine Antwort.

Dann sah er sie durchdringend an, umarmte sie plötzlich und küßte sie auf den Mund; der Duft und die feuchte Kühle ihrer Blumen schlugen ihm entgegen. Er blickte gleich darauf ängstlich um sich, ob es nicht jemand gesehen hätte.

»Wollen wir zu Ihnen gehen ...« sagte er leise.

Und sie gingen mit raschen Schritten der Stadt zu.

In ihrem Hotelzimmer war es schwül und roch nach dem Parfüm, das sie im Japanbazar gekauft hatte. Gurow sah sie an und dachte: was es doch nicht für Begegnungen im Leben gibt! Aus seiner Vergangenheit bewahrte er die Erinnerung an sorglose, gutmütige Frauen, die von ihrer Liebe berauscht und ihm für das kurze Glück, das er ihnen schenkte, dankbar waren; an solche, die, wie zum Beispiel seine Frau, ohne aufrichtige Hingebung, mit viel zu viel Redensarten, maniriert und hysterisch liebten und immer so taten, als ob es keine Liebe oder Leidenschaft, sondern etwas viel Wichtigeres wäre; auch an die wenigen sehr schönen und kalten Frauen, deren Gesichtszüge oft einen raubgierigen[157] Ausdruck annahmen und das trotzige Verlangen zeigten, dem Leben mehr abzuringen, als es zu geben vermag; diese Frauen waren launisch, nicht mehr jung, unklug, und herrschsüchtig, und wenn Gurows Leidenschaft sich abkühlte, so erregte ihre Schönheit in ihm nur Haß, und die Spitzen an ihrer Wäsche gemahnten ihn an Fischschuppen.

Aber jetzt hatte er ein unerfahrenes, unbeholfenes junges Wesen vor sich, und das machte ihn verlegen; er hatte plötzlich das Gefühl, als ob jemand an die Tür geklopft hätte. Anna Ssergejewna, diese »Dame mit dem Spitz« faßte das Geschehene sehr eigentümlich und sehr ernst auf, als ob sie nun rettungslos gesunken wäre; jedenfalls hatte er diesen Eindruck, und das machte ihn noch verlegener. Ihre Gesichtszüge wurden plötzlich welk, das lange Haar fiel traurig zu beiden Seiten des Gesichts herab; sie erstarrte wie grambeladen, wie eine büßende Sünderin auf einem alten Gemälde.

»Es ist nicht gut,« sagte sie. »Sie werden mich jetzt selbst verachten.«

Auf dem Tische lag eine Wassermelone. Gurow schnitt sich eine Scheibe ab und begann, sie langsam zu verzehren. Mindestens eine halbe Stunde verging in Schweigen.

Anna Ssergejewna war rührend; sie atmete die[158] Keuschheit einer anständigen, naiven Frau, die noch wenig vom Leben gehabt hat; die einsame Kerze, die auf dem Tische brannte, beleuchtete nur schwach ihr Gesicht, aber Gurow konnte erkennen, wie trüb es ihr zumute war.

»Warum sollte ich dich verachten?« fragte er. »Du weißt selbst nicht, was du sprichst.«

»Gott verzeih mir!« sagte sie mit Tränen in den Augen. »Es ist furchtbar!«

»Es klingt, als ob du dich rechtfertigen wolltest.«

»Womit könnte ich mich rechtfertigen? Ich bin ein schlechtes, gemeines Weib, ich verachte mich selbst und denke nicht an Rechtfertigung. Nicht meinen Mann habe ich betrogen, sondern mich selbst. Und nicht nur jetzt, ich betrüge mich seit Jahren. Mein Mann mag ja ein anständiger und guter Mensch sein, aber er ist ein Lakai! Ich weiß nicht, was er treibt und wo er angestellt ist, aber ich weiß, daß er ein Lakai ist. Als ich ihn heiratete, war ich erst zwanzig. Mich verzehrte die Neugierde, ich wollte etwas Besseres; es muß doch ein anderes, besseres Leben geben, sagte ich mir. Ich wollte leben! Ja, leben, leben ... Die Neugierde verzehrte mich ... Sie können es nicht verstehen, aber ich schwöre Ihnen bei Gott, mit mir war etwas los, ich konnte mich nicht länger beherrschen und ich sagte meinem Mann, ich sei krank, und reiste nach Jalta ... Und auch hier[159] ging ich wie im Rausche, wie verrückt herum ... Und nun bin ich ein gemeines, schlechtes Weib, das ein jeder verachten darf.«

Gurow konnte nicht länger zuhören; ihre Worte langweilten ihn, ihn ärgerte dieser naive Ton, diese unerwartete und deplacierte Beichte; hätte er nicht die Tränen in ihren Augen gesehen, so würde er glauben, daß sie scherze oder Komödie spiele.

»Ich verstehe dich nicht,« sagte er leise. »Was willst du eigentlich?« Sie barg das Gesicht an seiner Brust und schmiegte sich an ihn.

»Glauben Sie mir, glauben Sie mir, ich beschwöre Sie ...« sagte sie. »Ich liebe das reine, keusche Leben, und die Sünde ist mir verhaßt, ich weiß selbst nicht, was ich tue. Einfache Leute sagen: der Böse hat mich verführt. Auch ich kann jetzt von mir sagen, daß mich der Böse verführt hat.«

»Genug, genug ...« flüsterte er.

Er sah ihr in die unbeweglichen, erschrockenen Augen, küßte sie, sprach ihr leise und zärtlich zu, und sie beruhigte sich allmählich und wurde wieder lustig; nun lachten sie beide.

Als sie später hinausgingen, war der Strand menschenleer, und die Stadt mit ihren Zypressen sah wie tot aus; aber das Meer brauste, und die Wellen zerschellten am Ufer; eine Barke schaukelte in den Wellen,[160] und auf ihr flackerte wie verschlafen ein mattes Flämmchen.

Sie nahmen eine Droschke und fuhren nach Oreanda.

»Ich habe soeben unten deinen Familiennamen gelesen: auf der Tafel steht ›von Diederitz‹,« sagte Gurow. »Ist dein Mann Deutscher?«

»Nein, ich glaube, sein Großvater war Deutscher; er ist griechisch-orthodox.«

In Oreanda saßen sie auf einer Bank in der Nähe der Kirche, blickten auf das Meer hinab und schwiegen. Jalta war im Morgennebel kaum zu sehen, auf den Bergspitzen lagerten unbeweglich weiße Wolken. Das Laub rührte sich nicht, die Zikaden, und das eintönige, dumpfe Brausen des Meeres sprach vom ewigen Schlafe, der uns alle erwartet. So brauste es hier, als es weder ein Jalta noch ein Oreanda gab, so braust es jetzt, und es wird ebenso gleichgültig und dumpf brausen, wenn wir nicht mehr sind. In dieser Beständigkeit, in dieser Gleichgültigkeit unserm Leben und Sterben gegenüber liegt vielleicht das Pfand der ewigen Erlösung, des ewigen Fortschreitens des irdischen Lebens und seiner ewigen Vervollkommnung. Während er an der Seite der jungen Frau, die im Morgengrauen so schön schien, saß und von der märchenhaften Szenerie des Meeres, der Berge, der Wolken und des unendlichen Himmels beruhigt und bezaubert war, dachte er daran, wie schön[161] doch alles in dieser Welt sei, alles, mit Ausnahme dessen, was wir selbst tun und denken, wenn wir die höchsten Ziele des Seins und unsere eigene Menschenwürde vergessen.

Irgendein Mann, wahrscheinlich ein Wächter, kam auf sie zu, sah sie an und ging wieder fort. Auch dies erschien ihnen geheimnisvoll und schön. Dann sahen sie das Morgenschiff aus Feodosia kommen; es war von der Morgenröte beleuchtet und hatte keine Signallichter.

»Das Gras ist voller Tau,« sagte Anna Ssergejewna nach langem Schweigen.

»Ja. Wollen wir nach Hause.«

Sie kehrten in die Stadt zurück.

Später trafen sie sich jeden Mittag auf dem Strande, aßen zusammen zu Mittag und zu Abend, gingen spazieren und bewunderten das Meer. Sie klagte, daß sie schlecht schlafe und an heftigem Herzklopfen leide. Sie stellte immer die gleichen Fragen und verzehrte sich bald in Eifersucht, bald in Angst, daß er sie nicht genügend achte. In den Anlagen oder im Park, wenn gerade niemand in der Nähe war, zog er sie oft in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich. Das ewige Nichtstun, diese Küsse am hellichten Tage unter fortwährender Angst, daß es jemand sehen könnte, diese Hitze, die Seeluft und die ihn umgebende Gesellschaft von[162] eleganten, faulenzenden und satten Menschen machten ihn gleichsam zu einem andern Menschen; er sagte Anna Ssergejewna immer wieder, wie schön und wie verführerisch sie sei, er war ungeduldig und leidenschaftlich und wich nie von ihrer Seite. Sie wurde aber oft nachdenklich und sagte ihm immer wieder, er möchte doch gestehen, daß er sie verachte, daß er sie gar nicht liebe und in ihr nur ein gemeines Weib sähe. Fast jeden Abend machten sie zur späten Stunde einen Ausflug nach Oreanda oder zum Wasserfall: diese Ausflüge waren immer schön, und die Eindrücke wunderbar und gewaltig.

Ihr Mann sollte kommen. Aber eines Tages schrieb er ihr, daß er Augenschmerzen bekommen habe; sie möchte so bald wie möglich heimkehren. Anna Ssergejewna machte nun eilige Vorbereitungen zur Abreise.

»Es ist gut, daß ich verreise,« sagte sie zu Gurow. »So will es das Schicksal.«

Sie reiste von Jalta nach Sewastopol mit dem Wagen, und er begleitete sie. Sie fuhren den ganzen Tag. Als sie schon im Schnellzuge saß und das zweite Glockenzeichen gegeben war, sagte sie:

»Lassen Sie mich noch einmal Ihr Gesicht sehen ... Noch ein einziges Mal ... So ...«

Sie weinte nicht, war aber traurig, wie krank, und ihr Gesicht zitterte.[163]

»Ich werde an Sie denken ... immer denken ...« sagte sie. »Gott sei mit Ihnen. Denken Sie nicht schlecht von mir. Wir nehmen für immer Abschied. So muß es sein, es wäre besser, wir wären uns nie begegnet. Gott beschütze Sie.«

Der Zug sauste davon, seine Lichter verschwanden, und in einer Minute war auch das letzte Geräusch verhallt. Es war, als hätte sich das mit Absicht so rasch abgespielt, um diesem süßen Traum, diesem Wahnsinn ein möglichst schnelles Ende zu machen. Als Gurow allein auf dem Perron zurückgeblieben war und das Zirpen der Grillen und das Summen der Telegraphendrähte hörte, war es ihm zumute, als erwachte er eben aus einem Traum. Und er dachte daran, daß er wieder einmal ein Abenteuer gehabt hatte, und daß es nun erledigt sei und nur noch in der Erinnerung lebe ... Er war gerührt und traurig und spürte etwas wie Reue. Diese junge Frau, die er nie wiedersehen sollte, war ja mit ihm nicht glücklich gewesen; er war zwar immer herzlich und freundlich zu ihr, und doch lag in seinem Benehmen ihr gegenüber, in seinem Ton und in seinen Liebkosungen ein leiser Anflug von Hohn, von rohem Hochmut des glücklichen Eroberers, der dazu beinahe doppelt so alt war wie sie. Sie sprach von ihm während der ganzen Zeit als von einem gutmütigen, ungewöhnlichen, großen Menschen; er erschien ihr offenbar anders,[164] als er in Wirklichkeit war; folglich hatte er sie unwillkürlich belogen ...

Auf der Bahnstation war schon ein herbstlicher Hauch zu spüren, der Abend war kühl.

»Nun muß auch ich nordwärts ziehen,« sagte sich Gurow, als er den Perron verließ. »Es ist Zeit!«

Quelle:
Tschechow, Anton: Die Dame mit dem Spitz, in: Von der Liebe, Weimar 1917, S. 151–181, S. 155-165.
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