Das Vermächtnis

[299] Etliche Tage nach diesem Ereignis erschien der Gemeindeschreiber oder, wie er zu Sonnenreuth hieß, der Aktenlippel, im Weidhof und fragte nach dem Kathreinl von Amts und wichtiger Ursach wegen. Ich stand gerad unter der Haustür und sah ihn mit weiten, gewichtigen Tritten daherstiefeln, stand ihm Red und holte das Mädchen zu ihm herunter.

»Ist Sie die Jungfer Maria Kathrein Paumgartner?« fragte der Alte und betrachtete sie über seine Hornbrille hinweg mit zwinkernden Augen.[299]

»Ja, die bin ich«, erwiderte das Mädchen; »was will man von mir?«

Der Lippel nahm eine Prise, rieb sich darnach die Nase mit dem Daumen und stellte sich in strammer Haltung vor sie hin: »Also, Sie ist die genannte Person; also. Dann hab ich Ihr von Amts wegen kund und zu wissen zu machen, daß die ehrenfesten Testamentsvollstrecker durch meine Person aus Anlaß der Verlassenschaft, Siegelabnahme und Testamentsvollstreckung den obrigkeitlichen Befehl erlassen haben: ich solle sie, die Jungfer Paumgartner, ins Waldhaus bestellen. Also. Kann Sie gleich mitkommen, he?«

»Ja, ich geh gleich mit«, sagte das Kathreinl und bat mich, ich möge ihr die gute Schürze und den Hut herunterholen.

»Geh nur derweil, ich trag dir's nach!« rief ich, während der Aktenlippel erst das Mädchen, dann mich mit einem väterlich-würdevollen Blick maß, noch einmal schnupfte und darnach aus der Haustür trat.

Eilig lief ich in die Kammer, holte den feinen Filz und die Schürze und lief ihnen damit nach, ohne daß sich jemand um uns bekümmert hätte, wo aus wir gingen. Tagein, tagaus saß ich ja beim Kathreinl und vergnügte mich, während sie mit flinken Fingern den Flachs zum Faden drehte, mit groben Holzschnitzereien: Tieren, Gottheiten, Bilderrähmlein und Madonnenstatuetten, die ich ihr dann mit Stolz als ein Angebinde überreichte. Die Ziehmutter sah weder mich noch das Mädchen mehr mit einem Blick an, und der Weidhofer hatte den ganzen Tag zu werken und zu schaffen und kam nur selten in unsere Kammer. Betrat er diese aber wirklich einmal, so hatte er immer etwas für uns dabei: sei es nun ein Fliedersträußlein, ein rots oder blaues Wächslein, einen Ablaßpfennig oder einen Kuchen vom Lebzelter; denn es bedrückte ihn in[300] seiner Rechtlichkeit, daß man das Mädchen um seiner Herkunft willen so schlecht achtete, wenn er gleich der Irscherin stets feind gewesen.

Nun ich den zweien nachgelaufen war, übergab ich dem Kathreinl seine Sachen und bat, daß sie mich mitnehmen möchten; und da es ihr und auch dem Schreiber recht war, lief ich also mit ihnen.

Vor dem Waldhaus standen schon der Lindlschneider und der Staudenweber, zwei angesehene Männer aus der Gemeinde, und warteten auf den Schreiber. Nach kurzem Gruß der beiden Bauern und tiefen Bücklingen des Lippel holte dieser umständlich einen Band Schlüssel aus dem hinteren Sack seines braunen Amtsrockes und probierte einen nach dem andern, bis am End das Kathreinl bat, ob nicht sie den rechten Schlüssel zeigen dürfe, worauf der Lippel zwar giftig sagte: »Da hat Sie nichts zu zeigen! Das ist Sache der Obrigkeit!«, auf Anraten der Männer aber doch dem Mädchen die Schlüssel übergab.

Sie schloß nun Tür um Tür auf, und die drei traten in das Haus und in die Stuben, in denen eine stickige, dumpfe Moderluft war, so daß die Männer sogleich alle Fenster öffnen ließen.

In der Kammer der Toten wurden nun die Kommoden und Kasten geöffnet und alle Laden, Truhen und Schubfächer geprüft. Neugierig stand ich dabei und sah verblichene Gewänder und Tücher, schwere Leinwandballen und weiche Flachszöpfe, ein leinenes Sterbehemd und ein buntes Perlenkränzlein und dazu noch mancherlei Schmuck für Frau und Mann, etliche samtene Männerleibstücke mit silbernen Knöpfen und einen feinen Tuchrock, wie auch der alte Weidhofer einen hinterlassen.

Auf dem Sterbehemd lag, mit einem roten Wachsfaden zusammengehalten, eine vergilbte Papierrolle; der Schreiber langte sie heraus, stellte sich ans Licht und öffnete sie[301] langsam; darnach räusperte er sich, rückte einen Stuhl und sagte feierlich: »Setze sich die Jungfer! Es ist hier in meinen Händen die letzte Verfügung der anhier verstorbenen Walburga Irscherin, Waldhäuslerin bei Sonnenreuth.«

Bleich und zitternd setzte sich das Kathreinl.

»Wollen die Manner sichs kommod machen und als Zeugen herhören auf die Artikel des Testaments!« wandte sich der Schreiber nun an die beiden Bauern.

Ich schob ihnen Stühle hin, rückte dem Schreiber eine kurze Bank vor das Tischlein, an dem er lehnte und zog mich mehr ins Dunkle zurück, während die Männer sich setzten und der Lippel einen Gänsekiel aus der Tasche zog, zurechtspitzte und ein Fläschlein Tinte dazustellte.

Eine große Stille war in der Kammer; der Schreiber schob seine Brille näher an die Augen, wischte sich mit zwei Fingern über die Nasenflügel und begann zu lesen:

»In Gottesnamen schreibe ich dieses nieder mit dem Gedanken und in der Meinung, daß es dereinst als mein letzter Wille gütlich geglaubt, wohl geacht und füglich in seinen Artikeln getreu befolget werde.

Hab nicht gar wohl gelebt als eine verachte und mißgünstig betrachte Person; hab aber dennoch anso gelebet, wie mir mein Herz befohlen; doch darum um der feindlichen Christenlieb sei nicht geklagt. Ich mach mein Sach recht und hoff annoch auf einen gnädigen Richter.

Wie es denn nun sein soll, so eröffne ich meiner von mir auferzogenen Tochter Maria Kathrein, daß sie ist eine leibliche Tochter des erlauchten Herren Georg von Höhenrain und der Katharina Elisabeth Paumgartner zu Stubenberg. Welche als ein junges und liebliches Maidlein die Küh gehütet und am Wald sich Kränz ins Haar geflochten hat, bis genannter edler Herr sie bei einer Hirschjagd erblickt und ein groß Verlangen nach ihr verspürt hat. Haben also in Lieb und Treuen genannte Jungfer Maria Kathrein[302] gezeuget und mir dieselbe mit einem Zehrgeld von zwölf Gulden für das Jahr und einer Aussteuer von fünfhundert Gulden übergeben, da denn die Mutter des Kindleins noch als ein jung Blut hat von dieser Erden gehen müssen und liegt begraben bei der Kapellen des Schlosses auf Höhenrain. Und so hab ich das Mägdlein gehalten wie ein eigen Kind in Treuen und behütet bis auf diesen Tag.

Hab als ein jung und einfältig Geschöpf mich versprochen einem handlichen Burschen, so als ein Holzfaller in Diensten des erlauchten und edlen Herren Georg von Höhenrain gestanden ist. Haben also Hochzeit miteinander gefeiert draußen im freien grünen Wald, wo der groß und mächtig Herrgott der Pfarrer und allerhand munter Getier und Vöglein getreue Zeugen gewesen sind, und hat er mich heimgeführet in sein Haus gleich einer ehelichen Hausfrau. Hab ihm alsbald einen lieblichen Knaben in die Wiegen gelegt, der aber leider als ein mannlicher Bursch hernach für seinen Herrn und Fürsten als ein tapferer Soldat das Leben gelassen, da ich wohl an die fünfzehn Jahr schon Wittib gewesen, alsdann denn auch mein lieber und getreuer Hort und Mann, noch bevor ich ihm ein sieben Jährlein angehöret, von einem rollenden Baumstammen erschlagen und auf der Stell ertödt worden.

Hab also nicht Erben noch Sippschaft, so ein Anrecht auf itwelches Ding in meinem Haus, noch auf das Haus oder den Anger darum hätten; und vermach ich also am heutigen Tag und auf diese Stund alles, was mein ist an Haus, Grund, Liegenschaft oder Gegenstand, sowie mein Sparpfennig von dreihundert Gulden guter Währung genannter Jungfer Maria Kathrein Paumgartner, welche ist in meinem Haus als ein rechtes und riegelsames Maidlein bis auf diese Stund, auch nit Anlaß gibt zu Schimpf und Schand.

Weshalb ich genannter Maria Kathrein noch gebe den heiligen und kräftigen Segen: † Der Herr segne sie † im[303] Namen des Vaters † und des Sohnes † und des heiligen Geistes. Amen.

In der blauen Truhen unter meiner Himmelbettstatt liegt zu finden das erst Gewändlein samt Schühlein und ein Beutel mit fünfhundert Gulden Besitztum genannter Jungfer Kathrein.

Man begrab mich bei meinem Hause und lasse nicht Pfaff noch Leut dazu; dieweilen ich die nicht gebraucht im Leben, sothan sie mir auch nichts helfen im Sterben und etwan auch nicht wohl reden nach meinem Verscheiden. Und so verleihe mir und genannter Jungfer Maria Kathrein unser lieber Herr ein gut Stund zum Leben und ein unschmerzlich Augenblicklein zum Absterben. Amen.

So Gott will. Amen.

Walburga Irscherin, Waldhäuslerin bei Sonnenreuth, geboren als des Wundarzten Rauff einzig Kind zu Au in Baiern.«

Der Schreiber hatte zu Ende gelesen; er nahm nun die Feder, einen Bogen sauberen Papiers und schrieb, indem er laut dazu sagte: »Dieses wahre und echte Schriftstück ist eigenhändig geschrieben und unterzeichnet am fünfundzwanzigsten Jänner des Jahres eintausendsiebenhundertsechsundneunzig zu Sonnenreuth, von der am dreißigsten Mai dahier verschiedenen Walburga Irscherin, gebürtig aus Au in Baiern.«

Hier machte er eine Pause, dann schrieb und sagte er weiter: »Im Beisein der ehrenfesten Manner Korbinian Urber, Lindlschneider dahier, und Balthasar Meckinger, Staudenweber dahier, sowie der in Persona erschienenen Erbin, der Jungfrau Maria Katharina Paumgartner, gefunden, geprüft, unversehrt befunden, feierlich eröffnet und vorgelesen zu Sonnenreuth am zehnten Tag im Heumonat des Jahres eintausendachthundertundeins.«

Er überlas das Ganze noch einmal halblaut und rief darauf:[304] »Trete die Jungfer näher und unterzeichne Sie das Protokoll!... Wollen die Manner als Zeugen ihre Namen daruntersetzen zur Beglaubigung!«

Damit nahm er die Feder, tauchte sie in die Tinte und hielt sie mit feierlicher Gebärde dem Kathreinl hin.

Das Mädchen hatte schon während des Ablesens leise zu weinen begonnen, und als sie nun ihren Namen kritzelnd unter das Protokoll setzte, tropften ihre Tränen auf das Papier.

Nach ihr unterschrieben die beiden Bauern, oder vielmehr, sie setzten ein jeder drei große Kreuze nebst einem Buchstaben auf das Schriftstück, und zum Schluß machte der Aktenlippel noch einen schwunghaften Schnörkel darunter, übergab dem Kathreinl die Urkunde des Testaments, langte nach seinem Käpplein und sagte: »Komme die Jungfer im Laufe des Tages auf die Bürgermeisterei und hole Sie andorten ihre Kuh und Geißen ab und gebe Verfügungen wegen Ihres Besitzes und Erbes!«

Darnach wandte er sich an die Männer: »Wollen wir gehen!«

Nun nahmen auch die beiden ihre Hüte, und alle drei gingen, kurz grüßend, aus dem Haus und ließen uns allein. Unbeweglich saß das Kathreinl in seinem Stuhl; ihre Augen waren noch naß, und sie sah trüb ins Leere, die Hände verschlungen im Schoß haltend.

Ich blieb noch eine Weile stumm in meinem Winkel hocken; da aber das Mädchen sich immer noch nicht rührte, stand ich schließlich auf und nahm die Testamentsurkunde vom Tisch, trat ans Fenster und las, so gut ich konnte, die Artikel durch. Darnach meinte ich etwas kleinlaut: »Was wird jetzt wohl werden? Wirst mich halt nimmer mögen, wenn ich einmal groß bin, wo du jetzt auf einmal eine Herrische bist! Wird dich halt ein Graf kriegen oder ein Junker!«

Sie antwortete mir nichts, und ich kam mir recht armselig[305] und bemitleidenswert vor, als ich das Schriftstück so unschlüssig in der Hand drehte.

Nach einer Weile begann ich wieder: »Was hast jetzt vor? Was willst jetzt tun? Wirst wohl kaum mehr mitgehen in den Weidhof? Bleibst wohl gleich da?«

Da ich abermals keine Antwort von ihr erhielt, warf ich die Urkunde auf den Tisch, nahm mein Hütl und sagte: »Jetzt bist halt ein Herrenkind! Jetzt kennst halt den Weidhoferbalg nimmer, gelt!...«

Draußen war ich, und krachend fiel die Tür ins Schloß, und ich rannte ingrimmig dahin, die Herrischen verfluchend und denen die Hölle wünschend, die mich hergesetzt in diese lausige Welt.

Keinen Blick tat ich mehr zurück nach dem Waldhaus und kam keuchend in den Weidhof, schlich mich ungesehen in die Kammer des Ambros und warf mich aufs Bett. In meinen Ohren sauste und hämmerte das Blut, und der Schmerz würgte mich am Halse, daß ich Mühe hatte, die Tränen zu verbeißen.

Stundenlang lag ich so, beide Fäuste vor den Kopf gepreßt und nichts denkend als: sie ist herrisch, von Höhenrain, sie wird einen Herrischen kriegen. Schließlich bildete sich in meinem Hirn ganz von selber eine Melodie zu diesem Gedanken, und am End mußte ich mit dem Fuß den Takt dazu stoßen, während ich auf dem Bauch lag und summte: Sie ist herrisch, von Höhenrain ... sie wird einen Herrischen kriegen ...

Mein Ziehvater riß mich endlich aus diesem unsinnigen Brüten; er kam herauf und sah nach mir, fragte um die Jungfer und wollte uns zum Nachtessen holen. Ohne mich zu erheben, berichtete ich ihm mit wenigen Worten von der Testamentseröffnung. »Die Jungfer ist gleich droben blieben im Waldhaus«; schloß ich darnach; »ghört ja jetzt alles ihr. Sie ist ja eine Herrische von Höhenrain!«[306]

Erstaunt über diese Botschaft wollte der Weidhofer gerade was erwidern, als das Mädchen eilig über die Stiegen heraufkam und ihn, als er aus meiner Kammer blickte, ängstlich fragte, ob ich schon daheim sei.

»Ja, ja, Jungfer«, sagte mein Ziehvater lachend; »der ist schon da. Hat mir schon allerhand vorgeflunkert von der Erbschaft!«

Damit ging er wieder zu mir in die Kammer herein und lud auch das Kathreinl ein, sich ein wenig auf meinen wackligen Stuhl zu setzen und zu erzählen.

Ich sprang nun rasch aus dem Bett, strich es glatt und wollte davon; aber der Ziehvater lehnte an der Kammertür, und so mußte ich noch einmal die ganze Sach über mich ergehen lassen.

Der Meßmer hörte ihr aufmerksam zu, überlas auch die Urkunde und erbot sich schließlich, ihr in allem getreu zu helfen und zu raten, darüber sie sehr erfreut war und ihm froh dankte.

Darnach gingen wir alle drei hinunter in die Wohnstube, und der Vater rief im Vorbeigehen in die Kuchel: »Auftragen für drei! Haben die andern schon gessen?«, worauf ihm vom Kuchelmensch der mürrische Bescheid wurde:

»Schon lang.«

Also aßen wir, und der Vater unterhielt sich eifrigst mit der Jungfer und gab ihr viel gute Ratschläge, erbot sich, ihr Vieh aufzunehmen, ihr Haus zu versorgen und sie selber – wenn sie wolle, natürlich – als ein Vormunder in allen ihren Gerechtsamen zu unterstützen und ihr Erbe zu verwalten.

Das Mädchen war mit allem einverstanden und bat am Ende noch um die Vergünstigung, daß sie, bis sie einmal irgendwo ein gedeihliches Unterkommen fände, im Weidhof bleiben dürfe, wofür sie dann dem Vater den vollen Milchertrag und fürs Jahr ein Kalb verschreiben tät. Einigten sich also, daß die Jungfer von nun an wie ein[307] Hausglied im Weidhof aus und ein gehen und leben kunnt, wohingegen der Meßmer dann den vollen Milchertrag und zu Lichtmessen ein Kalb erhielt.

Fröhlich ging das Kathreinl darnach in ihre Kammer; der Weidhofer aber nahm die Mutter beiseite und brachte es nach langem, hartem Kampf dahin, daß sie zu dem Handel ja und amen sagte.

Also blieb die Jungfer im Weidhof; ich aber trug mich mit dem Gedanken, das Haus zu verlassen und mich in der Fremde ein wenig umzuschauen; doch sagte ich niemandem etwas davon und wartete nur auf eine Zeit, die mir besser dazu paßte wie der Sommer; wie denn insgemein ein jeder weiß, daß in den Hundstagen überall bei den Bauern die Arbeit metzenweis um etliche Groschen leichtlich zu haben ist. Es mög mir aber nicht zu einer Unehr angerechnet werden, daß ich in jenem Alter noch nicht so gar aufs Geldverdienen aus war, vielmehr lieber ums Gnadenbrot und Gottes Lohn in meiner Kammer oder auf der Hausbank hockte und meiner Ziehmutter, der Meßmerin, aus weichem Holz allerhand Koch- und Rührlöffel schnitzte, während die andern auf dem Felde schwitzten und die Kathrein droben in ihrer Stube am Spinnrocken saß und tagein, tagaus spann und einen Flachswickel um den andern zum feinen Faden drehte.

Quelle:
Lena Christ: Werke. München 1972, S. 299-308.
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