Sie schreibt:

[41] Ich sagte Dir, daß ich Dich lange kannte,

Bevor Dein Auge jemals mich geschaut.

Gedenke nur der hellen Sommertage,

Die Du verlebt hast in den Alpen einst.


Da war ein Morgen, wo mich Vogelzwitschern

– Noch halbverhalten und doch traumgeschwätzig –

Hinausrief auf die blanke Holzaltane.

Es flüsterte ein schwacher, kühler Wind,

Und feuchte Nachtluft strömte aus den Büschen,

Und jeder noch so leise Ton war hörbar.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Da stand ich lange, lauschte in die Ferne,

Mein Herz erbebte und schlug freudevoll,

Als harrte holder Zukunft es entgegen,

Die sacht heraufzog mit dem jungen Tag,

Der schon mit zartem Roth die Berge färbte.[42]

Und wie ich also lauschend, betend stand,

Kam aus dem dunklen Thal ein Mann herauf

Und schritt auch achtlos-still an mir vorüber.

Der Wanderer ging einsam seinen Weg

Hin durch die würzig klare Morgenluft,

Kein Strauch, kein Baum stand auf dem Felsenfirst,

Nichts als dies Eine Wesen war zu sehen,

Das langsam unermüdlich aufwärts stieg ...

Bald hob die schlanke, männliche Gestalt

Befremdlich-scharf sich ab von Luft und Himmel

Hoch oben auf dem langgestreckten Grat.

Mit einmal aber schaute ich den Mann

Vor meinem Blick urplötzlich ganz verwandelt,

Denn aufgewachsen war er jählings jetzt

Zu einer mächtig-riesigen Gestalt,

Zu einer hehren, übermenschlichen ...

So ragte er schier dräuend in den Himmel

Und hob mit wilder, schmerzlicher Geberde

Die Arme auf, der Riese, der Titan! ...

Und wie des Falken Schrei flog auf ein Laut,

Vom Echo gellend wieder rückgegeben.


Da faßte mich ein unaussprechlich Weh,

Ein großes, unverscheuchbar-tiefes Mitleid;

Mir war, als müßte ich zu ihm hinauf

Und leise mich an seine Seite stellen

Und so geduldig harren, demuthsvoll,[43]

Bis selber meine Hand er fassen würde

Und an des Weibes Herz die Qualen legen,

Die er hinauftrug in die Einsamkeit.

Zum erstenmal erschrak ich vor dem Sein,

Und unklar überfiel mich eine Ahnung,

Wie viel des Elends liegt auf jeder Seele,

Wie viel ich hülflos selbst seit jeher trug.

Ach Alles drängte mich zu ihm hinauf,

Mir war als müßte ich von ihm erflehen,

Daß neben ihm ich weiter schreiten dürfe

Den langen, staubbedeckten Weg des Lebens.

Doch als ich, solches träumend, aufwärts sah,

Erhob sich höher einmal noch sein Leib,

Aufreckend trotzig sich in Schmerzgeberden;

Dann ... sank er in den Boden jäh vor mir,

Vom Grat zur andern Seite niedersteigend,

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Du warst der Fremde auf der lichten Höhe,

Und mit dem Bildniß jenes Uebermenschen,

Des schmerzgequälten, einsamen Titanen

Bin ich zurückgekehrt in das Gewühl

– Das ich für Freude hielt in andern Tagen –

In das Gewühl der Stadt, zu ihren Festen,

Die schaal und leer mir wurden, weil ich Dich

Oh unablässig immer Dich nur suchte ...

Bis ich Dich endlich fand an jenem Abend,

Und nur für Dich ... das alte Liedchen sang.[44]

Wenn ich Dich rief, und mich an Dich geklammert,

– Gedankenlos und launisch, wie Du denkst –

So war es nur, weil ich so tief Dich liebte.

Denn wie Dein Leib so hehr auf jener Alpe

In gottgeweihter, stiller Morgenstunde

Verklärt von Licht vor meinen Blicken stand,

So groß und herrlich dünkte mich Dein Herz,

Das großes Leid nicht kleinen Menschen klagt,

Und meine Seele hat sich angeschmiegt,

Und stumm gefleht, daß Du hinauf sie führest

Aus diesem Dämmerreich von Nacht und Licht

In eine klare, sonnenwarme Luft ...


Und wenn ich manchmal an Dir irre wurde,

Losringen wollte mich mit letzter Kraft,

Stand wieder vor dem angstverwirrten Sinn

Gepeinigt die titanische Gestalt

Und hob empor mit wildem Schrei die Arme,

Und mahnte, daß ich Dich nicht lassen darf,

Weil ich allein Dein herbes Leid erschaute.


Ich beugte stumm das Haupt und trug es wieder,

Was abzuschütteln nie den Muth ich fand,

Denn schmerzlich hab' ich immerdar gefühlt

In solcher Stund': ich kann Dich nimmer missen.
[45]

Quelle:
Ada Christen: Aus der Tiefe. Hamburg 1878, S. 41-47.
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