[107] Adam wartete zwei Tage. Von Lydia kam keine Antwort. Hatte ihr die spontane Auslassung mißfallen? Jedenfalls doch! Aber was that das? Das war im Grunde so nebensächlich, so belanglos. Ein Wenig allerdings war Adams Eitelkeit verletzt. Und der Herr Doctor bedauerte wirklich aufrichtig, seinen bunten Augenblickskram abgeschickt zu haben. Zudem war er heute wieder in einer ganz anderen Stimmung. Seine normale Apathie hatte von Neuem Gewalt über ihn genommen. Die Welt rempelte ihn zu wenig an. Er mußte Waffen klirren hören. Dann konnte er noch aufflammen.
Mittags beim Speisen fiel Adam ein, heute bei Doctor Irmer den beabsichtigten Besuch zu machen. Mit Hedwig zusammenzutreffen – es hatte immerhin Etwas für sich. Und doch reizte es ihn auch eigentlich nicht. So beschloß er denn zu der Stunde, wo Hedwig in Café Caesar die Zeitung abzuholen pflegte, also von Hause abwesend war, ihren Vater heimzusuchen. –
»Ist Herr Doctor Irmer zu sprechen –?«[108]
»Ich weiß nicht ... der Herr Doctor – wen darf ich melden?«
Adam suchte seine Karte hervor und hielt sie dem Mädchen hin. Dabei warf er einen kurzen, scharfen Blick auf das Dirndl. Das wurde ein Bissel verlegen und erröthete. Das Ding war nicht übel. Eine kleine, untersetzte, volle Gestalt. Allerdings etwas lotterig und unsauber, von Spuren grober häuslicher Arbeit übersäet. Das Mägdlein wischte sich die rothen, unfeinen, unappetitlichen Hände an der dreckigen Schürze ab, ehe sie Adam die elegante, elfenbeingelbe Visitenkarte zaghaft-täppisch abnahm.
»Der Herr Doctor läßt bitten ...«
Das Mädchen ging auf dem schmalen, schattendurchdunkelten Corridor vor Adam her. Der konnte sich nicht enthalten, einen Augenblick die Finger seiner glacégantirten Rechten um den vollen, linken Oberarm der kleinen ancilla amandissima zu spannen.
Ein leises, Entrüstung, Ueberraschung und heimliches, verhaltenes Vergnügen zugleich verrathendes »Na!« ließ sich hören. Der Arm entschlüpfte.
Adam ging auf Herrn Doctor Irmer zu, der im Sessel vor seinem Schreibtische saß und den Kopf halb zu dem Eintretenden hingewandt hielt.
»Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie aufzusuchen. Aber – nun – offen gesagt: Sie interessiren mich. Ich hatte neulich die Ehre, Ihr Fräulein Tochter gelegentlich eines Soupers bei Herrn Quöck kennen zu lernen. Und[109] da erfuhr ich –« (Adam improvisirte eben wieder einmal) – »daß wir so etwas wie ... wie – verzeihen Sie! – das Wort ist eigentlich häßlich, aber man hat es nun einmal so an der Hand – da erfuhr ich also, daß wir ›Collegen‹ wären. Sie haben auch schon verschiedene philosophische Schriften veröffentlicht – ich allerdings ... noch nicht – aber die Philosophie ist doch das Einzige geblieben, was mir noch ein gewisses Interesse einflößt. Im Uebrigen ... mein Gott! Man wird alt und müde, nicht wahr? – ›blasirt‹ ... nicht wahr? – gâté ... râté ...«
»So ... so! ... Aber bitte ... nehmen Sie doch Platz, Herr Doctor ... Ich habe leider keine Gewalt mehr über mich ... kann mich nur wenig bewegen ... Sie müssen mir schon erlauben, hier sitzen zu bleiben ...«
Die Worte waren leise, mühsam, fast ohne jede Tonfärbung gesprochen. Auf dem bleichen Gesicht Herrn Irmers lag ein Ausdruck, der halb Hülflosigkeit, halb Verlegenheit verrieth. Irmer war nicht gewöhnt, Besuche zu empfangen. Zudem befremdete ihn wohl auch die etwas burschikose Art, die abgebrochene Geständnißhaftigkeit Adams.
Adam schob seinen großen Schlapphut nachlässig ungenirt in ein Fach des Bücherrücks und warf sich in die Sophaecke.
Eine Pause entstand. Doctor Irmer blickte fragend, erwartend, verlegen zu seinem Gaste hinüber.
»Sie schriftstellern also auch?« fragte er endlich.[110]
»Schriftstellern? Mein Gott! Nun ja, wenn man's so nennen will ... Aber weit ist's damit Gott sei Dank! nicht her – ich bin durchaus kein sogenannter ›Schriftsteller von Beruf‹ – um Himmelswillen – nein! ... nein! ... Ich habe Dies und Das gemacht – einige Artikel philosophisch-kritischen, nationalökonomischen, literarhistorischen Charakters für Zeitungen zusammengestoppelt – ein paar längere Aufsätze über psychophysische Materien für wissenschaftliche Fachblätter geliefert – na! das ist aber auch Alles ... Allerdings ... nicht zu vergessen die ulkigen Brochüren, die mich momentan beschäftigen ....«
Das war leichthin, nachlässig gesprochen, ohne weitere innere Theilnahme, mit dem Accente halb ehrlicher, halb affectirter Selbstironie.
Herr Doctor Irmer nickte mit dem Kopfe. Wiederum trat eine Pause ein. Was wollten die beiden Menschen nur von einander?
Adam musterte seine Umgebung. Zur Noth konnte man diese Einrichtung ja behaglich nennen! Und doch athmete das Zimmer einen Geruch der Aermlichkeit aus, der kaum verschleierten, kaum zu verkennenden Nüchternheit, der Adam etwas beklemmte. Er liebte den mit feinem, ästhetisch durchgebildetem Geschmacke angewandten Luxus. Er bewohnte selbst zwei sehr comfortabel ausgestattete Zimmer, die ihn eigentlich mehr kosteten, als er nach seinen Verhältnissen an Miethszins dafür hätte ausgeben dürfen. Aber es war ihm Bedürfniß, in[111] einer vornehmen, eleganten, weichen, mit künstlerischem Verständniß arrangirten Umgebung, die soviel als möglich alle trivialen, hyperboreischen Reibungen überflüssig machte, zu leben. In dieser Hinsicht besaß Adam also auch sehr epicureische Gelüste.
»Was enthalten denn die Brochüren, die Sie jetzt geschrieben haben, Herr Doctor?« fragte Irmer endlich.
»Ach Gott! das sind mehr feuilletonistische Stilübungen. Ich lege weiter keinen Werth auf sie. Moderne, zeitgemäße Themata übrigens. Hoffentlich bringen sie mir ein paar Dreier ein. In dem einen Hefte habe ich allerlei Pikanterie'n über das specifische Wesen des deutschen Gymnasiallehrers ausgekramt – – ich hatte nämlich selbst einmal die Ehre, einem Präceptorencollegium anzugehören, Herr Doctor – na! und da lernt man ja diese famose, menschliche pêle-mêle-Speise kennen – in dem ander'n Hefte, das aber noch nicht ganz fertig ist, plaudere ich über – – oder sagen wir meinetwegen: liefere ich eine psychologische Analyse des geistigen Proletariats von heute – ›modern,‹ wie gesagt, ›zeitgemäß‹ sind die Motive jedenfalls ...«
»Ja! ... Ja! ... versicherte Doctor Irmer zustimmend. Er sah vor sich hin. Sein Gesicht nahm sich sehr nachdenklich aus. Zugleich etwas schmerzhaft verzogen. Adam konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sein Gegenüber bedauerte, auf den Gedanken, derartige ›brennende Fragen‹ zu behandeln, nicht selbst gekommen zu sein.«[112]
»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft, Herr Doctor –?« fragte Irmer drauflostolpatschend.
»Ich interessire mich aufrichtig für die Dame,« gestand Adam lachend. »Sie kennen die orientalische Methode, Herr Doctor, zwei Wesen zu copuliren, die sich nie gesehen haben: so kommt es mir immer vor, wenn ich an mich und meine Zukunft denke ... Schließlich ergeht es ja jedem Individuum also ... aber Unsereiner – hm! nun! ich wiederhole: ich interessire mich sehr ... sehr ... für meine ... Zukünftige ...«
»Ihr Fräulein Tochter ist nicht zu Hause –?« fragte Adam nach einer Weile. Er hatte vergeblich einer Erwiderung Irmers auf seinen spaßigen Vergleich geharrt.
»Nein! . die macht sich um diese Zeit immer etwas Bewegung. Das arme Mädchen kommt ja sonst nicht viel heraus. Hedwig ist mein Ein und Alles, ohne sie wäre ich vollständig hülflos, sie liest mir vor – ich dictire ihr – ich habe sie ganz in meine philosophische Weltanschauung eingeführt. Ich glaube, sie hat überwunden und die große Lebensillusion erkannt ...«
»Prost!« wäre es Adam beinahe über die Lippen gefahren. Im letzten Augenblicke hakte er das fatale Wörtchen noch zurück. »Sie sind Schopenhauerianer, Herr Doctor?« vermochte er nun zu fragen.
»Nicht eigentlich ... Ich bin überhaupt kein Anhänger eines bestimmten Systems – eben aus Philosophie ... Sie erinnern sich des Schiller'schen[113] Distichons ... Ich denke und forsche. Nur die Erkenntniß ist real ...«
»Gewiß! Aber um erkennen zu können, bedarf man, abgesehen von der psychischen Grunddisposition, einer gewissen inneren, durchgesiebten Fülle, die indentisch mit Stille und feiner, leise vibrirender, seelischer Gespanntheit ist ... Und der Besitz dieser Gespanntheit hängt doch vielfach von den äußeren Verhältnissen ab – von Verhältnissen, die man in der Erkenntniß als werthlose Illusionen verwerfen muß ... und die trotzdem die Bedingungen sind, sine quibus intelligi non possit, nicht wahr? Das Reale ist vom Abstrakten abhängig, nicht das Abstrakte vom Realen ...«
»Hm ... hm ...« Irmer fuhr sich mit den weißen, schmalen, knochigen Fingern seiner rechten Hand über die hohe, durchfurchte, krankhaft ausgebleichte Stirn. »Und schließlich wissen wir doch Nichts –« fügte er mit leiser, müder, umflorter Stimme hinzu.
»Haben Sie's fertig gebracht, ganz zu verzichten, Herr Doctor?« fragte Adam, weniger, um das Gespräch zu vertiefen, als um es weiterzuspinnen. Es war ihm plötzlich eine bezwingende Sehnsucht nach Hedwig in die Seele getreten. Er hätte heute zu gern noch einmal ihr trotzig-gleichgültiges Gesicht vor sich gehabt, zu gern noch einmal den Blick ihres schweren, dunklen Auges herausgefordert. Also durfte er die Unterhaltung um keinen Preis an der galoppirenden Schwindsucht crepiren lassen.[114]
»Ganz zu verzichten – das ist wohl aus psychologischen Gründen unmöglich ... Einige Nabelschnüre dürfen wohl nicht reißen ...«
»Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben dämonisch schön ... dämonisch berauschend ... ich glaube fast: sogar auch in diesem Augenblicke ... Ja! Gewiß! Es kann Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf fallen ... und man läuft immer Gefahr, irgend einen Fuß oder irgend ein Genick zu brechen ... Aber warum soll man den der menschlichen Natur immanenten Leichtsinn – und nur er exportirt ja das Oel, welches die schaurig-groben Reibungen des Lebens verringert – ›tragisch‹ nennen, wie so viele alte und junge Unglückstanten thun? Leben wir doch drauf los! Mag's doch kommen, wie 's will! Eine geradezu fanatische Lebenssehnsucht krampft sich manchmal in meinem Herzen zusammen. Es giebt ja namenlos viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ... ja! . ich weiß es recht gut ... Was die Armuth leidet, die nackte und die versteckte, – es ist unsagbar ... Der Mensch liebt das Vergleichungsverfahren. Das ist sein Grundelend. Ich wohnte einmal bei einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, weiter Nichts zu thun hatte, als Magd und Mutter zu spielen ... Unsereiner kann die Enge, die Monotonie, die Schmucklosigkeit, das grenzenlos Mechanisch-Marionettenhafte einer solchen Existenz gar nicht fassen. Und dabei diese Bedürfnißlosigkeit! . Es ist unglaublich,[115] wie beschränkt der Anschauungskreis ist, in dem eine solche Kleinbürgerfamilie lebt! Immer dieselben Pflichten, dieselben Arbeiten, dieselbe Beurtheilung des Lebens, dieselben Sorgen, dieselben Gedanken, dieselben Worte, dieselben Eindrücke, dieselben Gedanken- und Vorstellungsverbindungen! ... Und täglich die gleichen Lebensbedingungen! ... Ich machte mir öfter das, meinetwegen: das etwas wohlfeile Vergnügen, ganz meiner Natur gemäß, in meiner Art, in meinem Jargon mit der Frau zu verkehren: sie verstand mich einfach nicht. Die Kluft, welche individuelle Civilisation, eigene Geistescultur hier geschaffen, ist unüberbrückbar. Und doch kann ich nicht umhin, selbst von meinem Standpunkte aus, der vielleicht ein Kirchthurmstandpunkt ist gegenüber dem – halten Sie mir, bitte! den Vergleich zu Gute, – also gegenüber dem Düngerhaufenstandpunkte jener Kleinweltsleute – vielleicht aber auch nicht! giebt es denn etwa einen einzigen, wirklich competenten Maßstab? – selbst also bei diesem Sehverhältniß muß ich etwas Heroisches in dem stillen Aufsichnehmen, in dem beinahe kritiklosen Ertragen aller jener erbärmlichen Lebensumstände sehen. Eine solche ›Frau aus dem Volke‹ bleibt mit ihren kleinen und ihr doch so wichtigen Sorgen um Wirthschaft und Kinder fast immer hinter den Coulissen, kommt äußerst selten auf die Bühne des Lebens. Sie sorgt sich und quält sich den ganzen lieben Tag ab und opfert schließlich auch den größten Theil der Nacht ihren Kindern ... jammert wohl auch[116] öfter 'mal und stöhnt auf – und arbeitet, trägt, erträgt morgen doch wieder so geduldig, wie sie gestern gearbeitet, getragen und ertragen hat ... Aber ich bin ganz von dem abgekommen, was ich eigentlich sagen wollte. Jenes Vergleichungsverfahren, das ich vorhin das Grundunglück der Menschheit nannte, begiebt sich übrigens auch bei den Märtyrern der Beschränktheit nicht ganz seines Einflusses ... Aber hier, wo Alles noch einigermaßen niet- und nagelfest, wenn auch ungeheuer eng und klein ist; wo die Reifen nicht vom Fasse springen, höchstens einmal aufknarren – hier ist zum Gebrauch der Comparation verhältnißmäßig wenig Zeit übrig ... und wo sie unwillkürlich geübt wird – und das geschieht allerdings ziemlich oft – macht sie bei der Lage der Dinge höchstens eine böse Stunde, kaum einen bösen Tag ... Die entfesselte Noth, die grollende, aussichtslose Armuth bietet der Phantasie einen viel fruchtbareren, viel günstiger präparirten Mutterboden. Doch ich bin immer noch nicht bei dem angelangt, auf das anfangs hinauswollte. Also ... ja! ... warum durchaus – warum partout, wie man im Deutschen sagt, ›verzichten‹, Herr Doctor? Ich möchte das Leben noch einmal entfesseln ... noch einmal inbrünstig, leidenschaftlich an die Brust reißen ... wie ein weiches, saftiges, halb durchgebratenes Stück Filetfleisch zwischen die Zähne schieben und tüchtig draufloskauen ... Das muß doch ganz köstlich sein! . Reisen ... abenteuern, sich neuen Eindrücken überlassen ... von neuen Erlebnissen ganz hingenommen,[117] ganz eingepökelt werden ... in eine neue Umgebung ... in neue Verhältnisse kommen ... gegen den Strom jedweder Gewohnheit schwimmen ... natürlich ›schwimmen‹ ... der Nüchternheit durch feinstes, epicureisches Lebensraffinement den Kopf zertreten ... Talent und Glück besitzen, um große, tiefe, volle Stimmungen provociren, genießen, festhalten zu können –: ich denke mir, wenn man das so könnte, wie man das so wollte, es müßte diesem sogenannten Dasein doch Reiz, Gestalt, Werth verleihen ... Ich glaube: so blasirt – oder wenn nicht im Weltmannssinne des Wortes blasirt, so doch: so gleichgültig ich gegen das Alles auch bin, was ich jetzt besitzen, genießen ... oder mit forcirter Resignation verschmähen darf – ich glaube: käme ich in eine Sphäre hinein, wo ich allen meinen Launen und Bedürfnissen fröhnen, wo ich mir Natur- und Kunstgenüsse ... wo ich mir Frauen, Wein, Spiel Sport, Luxus, kurz ein im großen Stile gehaltenes, im großen Stile ausgegebenes, ästhetisch feingeistig bestimmtes, reich nuancirtes Leben gestatten dürfte – ich würde mit beiden Händen zugreifen und mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit vergessen, daß ich einmal in Schopenhauer'schem Panillusionismus gemacht habe – das Märchen von den Trauben, die man sauer findet, weil sie zu hoch hängen, Herr Doctor – nicht? Und mir scheint zudem auch: die individuelle Seelendisposition läßt sich in jungen Jahren noch ganz gehörig von den Verhältnissen, also auch von eventuell neuen Einflüssen,[118] die wirkend werden, durchcorrigiren ... Man verbeißt sich nun so oft in sich, weil – nun, weil es Einem unbequem – ja! eben unbequem ist, mit der größten Freundin der Menschheit, mit der dreimal heiligen, dreimal gebenedeiten Gewohnheit zu rechnen, die Alles ebnet, Alles siebt, Alles schlichtet, Alles glättet und versöhnt .... Das ist gewißlich wahr! .«
Irmer lächelte, halb gutmüthig-belustigt, halb ironisch. »Ich habe das Gefühl, Herr Doctor,« begann er sodann, nachdem er eine kleine Pause nach der buntscheckigen Rede Adams hatte verstreichen lassen, – »daß das Alles gar nicht Ihr Ernst ist ... Ich höre nicht gut ... und Sie sprechen auch nicht sehr laut, aber mir kommt es vor, als ob Ihre Stimme etwas spöttisch geklungen hätte vorhin. Nun ... ich habe eine andere Art ... wenn ich damit auch nicht gesagt haben will, daß ich nicht auch einmal so wie Sie gedacht, gewollt und gewünscht hätte ... das ist aber schon ein Weilchen her ... so ein paar Jahrzehnte. Gehen Sie hinaus in die Welt, lieber Doctor! Sie sind noch jung ... Und wenn Sie älter ... alt – älter ist manchmal weniger, als alt – geworden sind, auf ganz gewöhnliche, hergebrachte Weise alt ... physiologisch kühler und enger ... dann kommen Sie wieder ... und Sie sind wieder ›Pessimist‹, wie es Kant, Schopenhauer, Goethe, Humboldt und die ganze Gesellschaft von Kerlen, die Etwas bedeutet haben, gewesen sind ... On revient toujours ... Sie verstehen – das ist auch in der philosophischen Weltanschauung[119] nicht anders. Der Pessimismus des Alters unterscheidet sich von dem der Jugend nur dadurch ... oder wenigstens in der Hauptsache nur dadurch, daß ihm auch starke ethische Elemente legirt sind ...«
»Hm! Ich muß allerdings gestehen, daß es mit meinen ethischen Principien ziemlich schlecht bestellt ist ... Aber ... verzeihen Sie, Herr Doctor ... da kommt mir eine Frage – ich will im Himmelswillen nicht indiscret sein – nun – also: finden Sie es mit Ihren ethischen Normen vereinbar, daß Sie Ihr Fräulein Tochter, die jung ist, wie ich, und gewiß Stimmungen, Bedürfnisse, Wünsche hat, wie ich – ich schließe einzig und allein per Analogie – daß Sie Ihr Fräulein Tochter also ganz in die Hände Ihrer Entsagungsphilosophie liefern? – Halten Sie diese Praxis für absolut richtig –?«
Adam sah bei diesen, nicht ganz sicher und unbefangen gesprochenen Worten auf die Fingernägel seiner rechten, nach innen gekrümmten, in Schrittweite dem Gesicht genäherten Hand – er hatte die Glacés, die ihm nicht besonders zu der schlichten Umgebung zu passen schienen, schon vorher abgezogen – er sah auf die Fingernägel seiner rechten Hand, als wollte er sich in den kleinen, glänzenden Flächen spiegeln.
»Ah ... Hedwig! ... Nun ... Nun ... ich ... ich – meine Tochter hat schon viel durchgemacht, Herr Doctor ... sehr viel. Ich glaube, es ist Zeit, daß sie zum Frieden kommt. Und dann ... warum soll ich's nicht gestehen? ...[120] etwas Egoismus ist meinerseits dabei wohl auch im Spiele. Ich bin, wie schon bemerkt, gänzlich abhängig von meiner Tochter ... Wir arbeiten zusammen, sie liest mir vor ... ich dictire ihr ... wenn sie mich verließe – ich könnte nicht weiterleben ... Wenn sie der Welt noch einmal zum Opfer fiele – sie müßte erst mich ... erst meinen Sarg bei Seite schieben ... er würde ihr den Weg versperren ...« Das war noch leiser, noch unverständlicher, undeutlicher gesprochen, als gewöhnlich. Irmer hatte das Haupt schwer, tiefgebeugt auf die Brust fallen lassen ... als würde es von den Henkersknechten des Schicksals niedergedrückt. Der Mann schaute starr vor sich hin.
Adam erhob sich und griff nach seinem Hute.
»Ich danke Ihnen, Herr Doctor, für die Anregung, die Sie mir gegeben ... Und hoffentlich ... hoffentlich ist es nicht das letzte Mal, das wir zusammengeplaudert. Die Welt ist gemein ... ganz Recht! ... und die Menschen sind Bestien ... sie schwatzen und klatschen und kritisiren und ... keifen und ... zucken die Achseln und treten einander todt ...
›Hülfreich ist der Mensch,
Edel und gut –
Doch zuweilen, wenn er gerade Durscht hat,
Säuft er seines ›Nächsten‹ Blut ...‹
Eh bien! ... Das ist eine bekannte Geschichte ... Doch das ist der Pessimismus der Jugend, der zwanziger Jahre ... Man findet Alles gemein, weil man Alles noch zu allgemein findet ... finden[121] muß ... Qu 'importe? Wenn ich nicht zu sehr Ihre Kreise störe, Herr Doctor – –«
»Bitte! ...«
»Also auf Wiedersehen! ... Wollen Sie mich gütigst Ihrem Fräulein Tochter empfehlen ... Ich habe die Ehre! ...«
»Adieu! ...«
Adam verließ das Zimmer. Auf dem Corridor athmete er einmal tief auf und schaute unwillkürlich nach der feschen Dienstmaid aus. Er hätte zu gern eine kleine Abwechslung gehabt. Aber das Mädel blieb unsichtbar.
Als Adam die letzten Treppenstufen hinunter schritt, betrat Hedwig den Hausflur. Der Herr Doctor ging langsam an ihr vorüber und grüßte sehr förmlich. Die Dame nickte kurz.
An der Thür wandte sich Adam noch einmal um. Fräulein Irmer stieg ruhig die Treppe hinauf.
Adam gab einen kurzen, grellen, scharfen Pfiff von sich. Dann schlug er die große, schwere, ungefüge Thür hinter sich zu. –
Endlich war Nachricht von Lydia gekommen. Frau Lange schrieb mit kleiner, schräger, nicht besonders geübter, kaum charakteristischer Schrift:
»Werther Herr Doctor! Wollen Sie morgen Abend die bewußte Tasse Thee bei mir trinken –? Gegen acht Uhr – ja? Bitte, bringen Sie doch die Stimmung wieder mit, in der Sie den Brief geschrieben! Er hat mir viel Vergnügen gemacht, trotzdem ich ihn wohl noch nicht ganz verstanden[122] habe. Wir wollen ihn noch einmal gemeinschaftlich durchstudiren. Haben Sie Ihr Bibelcapitel fertig? Ich habe leider wieder sehr viel Abhaltung gehabt. Mit bestem Gruße
Lydia Lange.«
»Οὐ σχεδον τι« meinte Adam schmunzelnd, befriedigt. Und er las das Billet ein zweites Mal. –
Buchempfehlung
Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro