XIII.

[198] Und nun war die Stunde gekommen, da Adam sich aufmachen durfte, der Irmer'schen Einladung Folge zu leisten.

Um die Zeit, da der Nachmittag Miene zu machen begann, sich zum Abend auszuwölben, war der Herr Doctor natürlich mit sich einig gewesen, nicht zu Irmers zu gehen, sich noch entschuldigen zu lassen.

Er war soeben erst nach Hause gekommen.

Am Vormittage hatte er sich, von einer unerträglich zerfaserten und zerkrümelten Stimmung gequält, fast aus seiner Wohnung geflüchtet ... hatte er sich geflüchtet vor sich selber ... vor einem Gespenst ... vor der furchtbaren Entdeckung, daß er in dieser Stimmung Welt und Leben gegenüber vollständig waffenlos wäre. Die stille, köstliche Heiterkeit des Herzens, mit welcher er gestern heimgekehrt war, hatte sich ihm bis auf den letzten, mageren Nachglanz entzogen ... er verstand sie nicht mehr ... er konnte nicht begreifen, daß er sie besessen ... er verachtete sich, weil er das nicht begreifen, weil er keinen Zusammenhang finden konnte ... und[199] verachtete sich zugleich, weil er nach einem Zusammenhange suchte ... weil er jener Stille des Gemüths instinctiv Wert und Bedeutung beilegte ... und er verachtete sich zum Dritten, weil er gestern im Stande gewesen war, die unermeßliche Schwere des Lebens zu vergessen ... und sie heute fast mit dem Gefühle eines Menschen trug, der nach neuen Mitteln und Wegen suchte, sich über sie hinwegzutäuschen ... eines Menschen, der am Liebsten vor ihr geflohen wäre ...

Und so war er denn auch vor seiner Stimmung geflohen ... hatte sich mit eintöniger Nachdrücklichkeit eingeredet, daß er einige Besorgungen, die er schon längst hatte machen wollen, nicht länger aufschieben könnte ... war, von den Eindrücken der Außenwelt bestürmt, überhäuft, zerstreut, endlich auch etwas ruhiger geworden ... hatte dann mit auffälligem Appetit zu Mittag gespeist ... und schließlich den größten Theil des Nachmittags im Café Caesar verstumpftsinnt. Einmal war hier Herr von Bodenburg vor ihm aufgetaucht, hatte sich aber mit merkwürdiger Eile sehr bald wieder empfohlen. Adam hatte lächeln müssen: der Herr Referendar schien wahrhaftig ein böses Gewissen zu haben! Er sollte die Emmy, die eben doch weiter nichts als auch »so Eine« war, nur ruhig zu seinem Privatgebrauche engagiren – er, Adam Mensch, würde nicht das Geringste dagegen einzuwenden haben! Was war ihm denn diese schöne Sünderin mit dem verzettelten Herzensleben und dem beschränkten Intellekt?[200] Dummheit, wenn Herr von Bodenburg sich genirte – capitale Dummheit! Solch' ein kleines Weib ist doch gleichsam nur eine lebendige Münze ... es geht von einer Hand in die andere – was weiter? – Und doch war er zusammengezuckt, als er sich Emmys Untreue, die er selbst erst herausgefordert hatte, vorgestellt. Adam hatte sich an Emmys Leidenschaftlichkeit ... an ihre Liebkosungen, an ihre Küsse erinnert ... an ihre Umarmungen, die ihn fast erstickt ... Und wie süß war es gewesen, als sie ihm in jener Nacht im ersten Paarungstumult rührend einfach zugestammelt: »Ich habe Dich gern, Adam!« Und da war es wirklich heiß in ihm emporgestiegen ... eine unheimliche Exstase hatte ihn bis in seine kleinsten Organe hinein durchspült ... eine dampfende, lähmende Sehnsucht, nach Emmys schönem Leibe ... nach ihren Küssen ... ihrem weichen, molligen Liebesgeplauder ... ihrer köstlichen Routinirtheit im aufsaugenden Minnespiel, war jäh zu ihm gekommen – verflucht! Er hatte seine köstliche Lagergenossin verloren, weil er einem Weibe nachgelaufen war, das ihm eine dumme Komödie vorgespielt! Er hatte sich auf die Seite der Konvenienz, der Lüge ... allerdings auch der »Tugend« geschlagen – und hatte darüber die Freiheit und die Ungebundenheit der vorurtheilslosen »Sünde« eingebüßt ... Er war doch ein Schaafskopf ersten Ranges gewesen ...

Aber der Groll gegen sich selbst ... der Aerger über seinen taktischen Schnitzer hatte doch nicht entscheidend bei Adam nachgewirkt. Nun er zu Hause war und sich mechanisch auf den Besuch bei[201] Irmers vorbereitete, obwohl er eigentlich entschlossen war, diesen Kelch an sich vorübergehen zu lassen, hatte sich seiner das Gefühl einer entkräftenden inneren Leere und Nüchternheit bemächtigt. Alles widerte ihn an. Was sollte er in aller Welt heute Abend bei Irmers! Wieder zu Hedwig die Fäden hinüberspinnen? Zur Abwechslung sich wieder einmal von dieser Dame anregen oder aufregen lassen? Es war so überflüssig ... so unsäglich überflüssig.

Apathisch lag Adam auf dem Sopha. Es dünkte ihn erschütternd komisch, daß er sich soeben einen frischen Kragen umgeknöpft. Aber im nächsten Augenblicke ertappte er sich schon dabei, wie er nach einem besonders drastischen und impertinenten Motive suchte, mit dem er heute Abend Fräulein Irmer traktiren wollte. Adam wurde sich klar darüber, daß er das unnatürliche Verhältniß, in welchem heute das männliche und weibliche Geschlecht zu einander stehen, einmal mit rücksichtsloser und, wenn nothwendig, mit cynischer Offenheit einer Dame gegenüber zur Sprache bringen mußte. Und diese Dame abzugeben ... nun! – dazu schien Fräulein Irmer, dieses blasse, spröde, in einem engen Leben hinkümmernde Weib, vorzüglich geeignet zu sein. Es war jedenfalls so etwas wie eine »That«, einmal mit der Brandfackel zu hantiren ... ein verlöschendes Dasein noch einmal den Traum von einem vollen, glühenden, ungehemmt vorwärtsstürmenden Leben träumen zu lassen ...

Aber auch dieser Vorsatz erschien dem Herrn[202] Doctor sehr bald geschmacklos. Wozu in aller Welt dieses doktrinäre Geschwafele! Er erhob sich langsam, nachlässig ... zog die Augenbrauen dicht über der Nasenwurzel zusammen ... machte ein sehr verächtliches Gesicht ... und suchte nach dem Messerchen, mit welchem er seine Fingernägel pflegte.

Wenn er gehen wollte, mußte er übrigens bald aufbrechen. Aber warum sollte er denn gehen? Und doch ... mein Gott! – warum sollte er denn nicht gehen? Warum nicht? Man thut so Vieles in dieser Welt, weil man absolut nicht weiß, warum man es nicht thun sollte ... Und zudem: es war ja auch schon zu spät, sich noch entschuldigen zu lassen. Getröstet von dem Gedanken, daß er ohne Verletzung des »gesellschaftlichen Anstandes« jetzt nicht mehr ausbleiben konnte, machte sich Adam auf den Weg zu Irmers. Er pfiff das unsterblich schöne »Komm herab, o Madonna Theresa –« leise vor sich hin, löste es einige Male mit Motiven aus Wagners »Fliegendem Holländer« und »Siegfried« ab ... und schluckte mit verhaltener Wollust die schweren, schwülen Lüfte des zusammendämmernden, letzten Maiabends ein. Adam dachte nicht mehr an sich und vergaß, daß er nicht wußte, wer er war ... was er von der Welt ... und was diese Welt von ihm wollte. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 198-203.
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